Zukunftsprojekt

Begonnen von Arnymenos, 2005-02-24, 23:05:04

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Arnymenos

Der Unterschied zwischen synthetischen und analytischen Formen dürfte allen bekannt sein. Synthetisch heißt, alles in ein Wort zu packen. Von daher sind sowohl schwache als auch starke Präteritumsbildung im Deutschen synthetisch, der Präteritumsschwund zugunsten des Perfekts tendiert aber zur analytischen Bildung. Im sog. doppelten Perfekt (getan gehabt haben) werden dann die Funktionen 'vergangen' und 'vollendet' auf einzelne Wörter verteilt. Das starke Präteritum kommt aber mit einem Morphem (-te) weniger aus, ist also synthetischer als das schwache. Ebenso ist der würdelose Konjunktiv viel ehrenhafter, weil er ein Wort weniger braucht.

Wer Verben stärkt, favorisiert also synthetische Bildungen.

So einiges in der deutschen Verbalflexion ist aber notorisch analytisch. So zum Beispiel die Zukunft, der ich mich als erstes widmen möchte. Das Englische geht den eigenartigen Weg, ehemals analytische Formen mit den Pronomen zu verschmelzen ('ve für das Perfekt, 'll für die Zukunft). Bis dahin ist es für das Deutsche aber ein zu weiter Weg; wir müssten die Satzstellung ändern, die Personalendungen bei Hilfsverben ausgeben. Stattdessen könnten wir doch eine eigene Form für die Zukunft entwickeln. Die könnte ein Präfix, ein Suffix oder eine Stammveränderung sein. Damit würden wir auch die Doppelbelegung von "werden" (Zukunft/Passiv... zwei völlig unverwandte Dinge) los.

Ich bitte um Vorschläge! (Ich bin ja der unkreative, beobachtende Linguist... aber morgen fällt mir auch noch was ein.)

versucher

Absolut deiner Meinung!

Habe ich Kilian auch schon in meiner "Antrittsmail" geschrieben: das "werden" muss in der Zukunft weg!

Caoimhín Caoilfhinn Ó Braonáin

Man könnte als typische indoeuropäische Wortbildungsmethoden hier vielleicht n-infix oder reduplikation anführen...

Urindoeuropäisch gibt es glaube ich keine distinkten Futurformen, oder? Im Vedischen verwindt man auf jeden Fall den sogenannten "prospektiven Konjuntiv", also einen normalen Konjunktiv mit der Funktion eines Futurums. Dieser Konjunktiv wird im Vedischen durch eine Stammerweiterung mit Hilfe des Suffixes -a- gebolden. Indoeuropäisch ist dies warscheinlich ein *-e-, eventuell noch mit einem Laryngal versehen.

Dies könnte man natürlich auch auf das Deutsche überführen:

sprechen (Inf.) Futur: ich sprechee , du sprechest, er sprechet, wir sprecheen, ihr sprecheet, sie sprecheen

Aber das ist ja langweilig. Ich weiß leider auch nichts über die Ablautverhältnisse zwischen Stamm und Suffix, bin nur ein kleiner Anfängerstudent...

Man könnte natürlich auch, ganz abstrakt, die Wurzel des deutschen Wortes 'werden', nämlich *vert/vrt, in den Stamm infigieren (eventuell ablautend?), womit man eine Verbindung zur heutigen Bildung doch behielte:

Zur Wurzel *bheid 'beißen':

*bhei-vrt-mi 'ich werde beißen'
*bhei-vrt-si 'du wirst beißen'
*bhei-vrt-ti 'er/sie/es wird beißen'
Im Plural mit anderen Ablautverhältnissen:
*bhi-vert-masi
*bhi-vert-tha
*bhi-vert-nti

Leider bin ich damit überfordert, diese Formen ins moderne Deutsch weiterzuentwickeln, aber da kann vielleicht einer von euch nachhelfen???
´ôleto mén moi nóstos, atàr kléos áphthiton éstai

asmé prthú s´rávo brhát | vis´vâyur dhehy ákshitam

ek veit einn at aldri deyr | dómr um dauðan hvern

                                  Sigemunde gesprong
æfter deaðlæge      dom unlytel

MrMagoo

Zitat von: Arnymenos in 2005-02-24, 23:05:04
Das starke Präteritum kommt aber mit einem Morphem (-te) weniger aus, ist also synthetischer als das schwache. Ebenso ist der würdelose Konjunktiv viel ehrenhafter, weil er ein Wort weniger braucht.

Warum hacken immer alle auf dem "würde" herum und setzen es mit einer Umschreibung des Konjunktivs gleich?

Es ist dies überhaupt gar kein Konjunktiv, sondern ein eigener Modus, nämlich das Konditional!

Es ist richtig, daß das Konditional oft den Konjunktiv ersetzt bzw. umschreibt, was dann tatsächlich vermieden werden sollte, an bestimmten Stellen ist aber das Konditional ("würde + Infinitiv") absolut korrekt und hat nichts mit dem Konjunktiv zu tun!
Wâ mag ich mich nu vinden? wâ mac ich mich nu suochen, wâ? nu bin ich hie und bin ouch dâ und enbin doch weder dâ noch hie. wer wart ouch sus verirret ie? wer wart ie sus zerteilet mê?
(Gottfried von Straßburg)

MrMagoo

#4
ZitatSo einiges in der deutschen Verbalflexion ist aber notorisch analytisch. So zum Beispiel die Zukunft, der ich mich als erstes widmen möchte.

Liegt daran, daß irgendwelche strengen Grammatiker dem Deutschen Zeiten einhämmerten und einhämmern, die es im Grunde nie wirklich hatte:
Es gab ursprünglich nur zwei Zeiten:
Die Vergangenheit und
die Nicht-Vergangenheit.

(Daher auch als einzige Zeiten synthetisch ... wenn wir das schwache Präteritum jetzt mal ausklammern).

Mit diesen beiden Tempora wurde und wird zuweilen bis heute alles ausgedrückt, so steht z.B. das Präsens nicht nur für "gegenwärtige Geschehnisse", sondern auch für Allgemeingültiges und auch für die Zukunft: "Morgen fahre ich nach Berlin".


Übrigens: Der Zusammenschluß des Personalpronomens und des Hilfsverbs im Englischen ist sicher keine Synthetisierung - das Hilfsverb müßte mit dem Vollverb assimilieren um eine synthetische Zukunftsform zu bilden.
Wâ mag ich mich nu vinden? wâ mac ich mich nu suochen, wâ? nu bin ich hie und bin ouch dâ und enbin doch weder dâ noch hie. wer wart ouch sus verirret ie? wer wart ie sus zerteilet mê?
(Gottfried von Straßburg)

Arnymenos

Also finden wir in der Vergangenheit der deutschen Sprache keinerlei Hilfe. Schade eigentlich. Eine Konsequenz wäre, das Futur weiterhin kaum zu beachten und langsam aussterben zu lassen. Kannst Du, MrMagoo, etwas zur Passivbildung erzählen? War die mal synthetisch?

Ich möchte jetzt erstmal nach einer guten Stelle suchen, das Deutsche synthetischer zu machen. An Ideen mangelt es mir nicht, aber die alle auf einmal erzeugten nur Chaos.

MrMagoo

Zitat von: Arnymenos in 2005-02-25, 18:57:37
Also finden wir in der Vergangenheit der deutschen Sprache keinerlei Hilfe. Schade eigentlich. Eine Konsequenz wäre, das Futur weiterhin kaum zu beachten und langsam aussterben zu lassen.

Das geschieht doch sowieso gerade; das Futur II ist gesprochensprachlich doch so gut wie tot :)


ZitatKannst Du, MrMagoo, etwas zur Passivbildung erzählen? War die mal synthetisch?

Ich meine, darüber mal etwas gelesen zu haben - in den deutschen Sprachstufen war's (soweit ich das jetzt überblicken kann) schon immer analytisch, man müßte also mal ins Germanische zurückschauen...


ZitatIch möchte jetzt erstmal nach einer guten Stelle suchen, das Deutsche synthetischer zu machen. An Ideen mangelt es mir nicht, aber die alle auf einmal erzeugten nur Chaos.

Da schwob (von 'schweben') mir auch schon mal was vor, ich habe versucht, sämtliche analytischen Zeitformen zu synthetisieren - es endete damit, daß einige Formen neben Ab- und Umlaut noch zusätzlich drei oder vier Suffixe erhielten.
Ich gucke mal nach, wo der Zettel hin ist, und wenn ich ihn denn finde, tippe ich meine Ideen darnieder. ;)
Wâ mag ich mich nu vinden? wâ mac ich mich nu suochen, wâ? nu bin ich hie und bin ouch dâ und enbin doch weder dâ noch hie. wer wart ouch sus verirret ie? wer wart ie sus zerteilet mê?
(Gottfried von Straßburg)

amarillo

Zitat von: MrMagoo in 2005-02-25, 21:01:24

Das geschieht doch sowieso gerade; das Futur II ist gesprochensprachlich doch so gut wie tot :)


Noch nicht ganz, modal wird es sehr gerne verwandt, um Vermutungen auszudrücken.

Wo ist Paul?
Er wird [wohl] in die Kneipe gegangen sein.

{Lang lebe das Futur II!}
Das Leben strebt mit Urgewalt nach Entstehung und Musik.

MrMagoo

Oh ja, hmm... 'vergessen'  :P

Um etwas auszudrücken, was in der Zukunft abgeschlossen sein wird, wird es hier allerdings nicht benutzt, interessant...
Wâ mag ich mich nu vinden? wâ mac ich mich nu suochen, wâ? nu bin ich hie und bin ouch dâ und enbin doch weder dâ noch hie. wer wart ouch sus verirret ie? wer wart ie sus zerteilet mê?
(Gottfried von Straßburg)

amarillo

Im nächsten Sommer werde ich schon 19 Jahre in diesem Haus gelebt haben. ./. Im nächsten Sommer lebe ich schon 19 Jahre in diesem Haus.

Wer sich in ersterer Form ausdrückt, wird schon schief angesehen - leider.

Seltsamerweise wird die modale Variante auch in Frankreich, Spanien und GB/USA angewandt, während auch dort die temporale Gestaltung des Futur II dem Tode gewiehen zu sein scheint.
Das Leben strebt mit Urgewalt nach Entstehung und Musik.

MrMagoo

Zitat von: amarillo in 2005-02-25, 21:38:29
Im nächsten Sommer werde ich schon 19 Jahre in diesem Haus gelebt haben. ./. Im nächsten Sommer lebe ich schon 19 Jahre in diesem Haus.

Das Futur II wird durch das Perfekt ersetzt:
Im nächsten Sommer werde ich schon 19 Jahre in diesem hause gelebt haben.
---> Im nächsten Sommer habe ich schon 19 Jahre in diesem Hause gelebt.

Das Präsens ersetzt das Futur I:
Im nächsten Sommer werde ich 19 Jahre in diesem Hause leben.
---> Im nächsten Jahr lebe ich schon 19 Jahre in diesem Hause.


ZitatWer sich in ersterer Form ausdrückt, wird schon schief angesehen - leider.

'Schon'? Im Sinne von 'mittlerweile'?
Ich vermute ganz stark, daß das schon immer der Fall gewesen ist - das Futur II ist eben zu undeutsch, als daß es sich jemals wirklich hätte 'gut' anhören können.



ZitatSeltsamerweise wird die modale Variante auch in Frankreich, Spanien und GB/USA angewandt, während auch dort die temporale Gestaltung des Futur II dem Tode gewiehen zu sein scheint.

Echt wahr?
Sagen die Thommies und Amis also Sachen wie "He'll certainly have gone to the pub"?
Wâ mag ich mich nu vinden? wâ mac ich mich nu suochen, wâ? nu bin ich hie und bin ouch dâ und enbin doch weder dâ noch hie. wer wart ouch sus verirret ie? wer wart ie sus zerteilet mê?
(Gottfried von Straßburg)

amarillo

yap, no problem.

Ich höre/lese keinen Unterschied:

Ich wohne hier 19 Jahre nächsten Sommer.
Ich habe nächsten Sommer hier 19 Jahre gewohnt (würde ich sogar eher nicht sagen).

Meinst Du, daß das Futur II keine "wirklich" deutsche Zeit ist?
Woher stammt es dann?
Das Leben strebt mit Urgewalt nach Entstehung und Musik.

MrMagoo

#12
Zitat von: amarillo in 2005-02-25, 21:55:38
yap, no problem.

Ich höre/lese keinen Unterschied:

Ich wohne hier 19 Jahre nächsten Sommer.
Ich habe nächsten Sommer hier 19 Jahre gewohnt (würde ich sogar eher nicht sagen).

Im letzten Beispiel ist die Handlung abgeschlossen, im ersten nicht:
"Ich habe nächsten Sommer schon 19 Jahre hier gewohnt."
---> Die 19 Jahre sind wahrscheinlich schon im Frühjahr des nächsten Jahres rum.
"Ich wohne nächsten Sommer schon 19 Jahre hier."
---> Im nächsten Sommer schließt Du das 19. Jahr dort ab.


ZitatMeinst Du, daß das Futur II keine "wirklich" deutsche Zeit ist?
Woher stammt es dann?

Das wird wohl aus dem Lateinischen mit herübergekommen sein, wie so vieles.
Normalerweise wurde (und wird noch immer), die Zukunft mit dem einfachen Präsens ausgedrückt.

Das "werden" in der Zukunft wird erst seit dem Neuhochdeutschen üblicher.
Bis in neuhochdeutsche Zeit wurde meist modal umschrieben, oft mit "sollen" oder "wollen" (--> noch heute will im Englischen, veraltend auch shall), später auch mit "müssen", da müssen den Zukunftsaspekt im Sinne der Notwendigkeit (etwas tun müssen --> "etwas aufgrund der Notwendigkeit tun werden") beinhielt.
Die Futurbildung mit müssen findet sich in der Umschreibung durch "haben (zu)" in den romanischen Sprachen:
Hier entsprechen nämlich die Personalendungen der Futurform den konjugierten Formen von 'haben' --> Das Futur in den romanischen Sprachen ist also synthetisiert (eigentlich: Verb + Form von 'haben').
Wâ mag ich mich nu vinden? wâ mac ich mich nu suochen, wâ? nu bin ich hie und bin ouch dâ und enbin doch weder dâ noch hie. wer wart ouch sus verirret ie? wer wart ie sus zerteilet mê?
(Gottfried von Straßburg)

Kilian

Zitat von: MrMagoo in 2005-02-25, 14:15:05Es ist richtig, daß das Konditional oft den Konjunktiv ersetzt bzw. umschreibt, was dann tatsächlich vermieden werden sollte, an bestimmten Stellen ist aber das Konditional ("würde + Infinitiv") absolut korrekt und hat nichts mit dem Konjunktiv zu tun!

An welchen Stellen denn zum Beispiel?

MrMagoo

Zitat von: Kilian in 2005-02-27, 19:33:56
Zitat von: MrMagoo in 2005-02-25, 14:15:05Es ist richtig, daß das Konditional oft den Konjunktiv ersetzt bzw. umschreibt, was dann tatsächlich vermieden werden sollte, an bestimmten Stellen ist aber das Konditional ("würde + Infinitiv") absolut korrekt und hat nichts mit dem Konjunktiv zu tun!

An welchen Stellen denn zum Beispiel?


Immer dann, wenn vom jetztigen Zeitpunkt aus eine Aussage über ein kommendes Geschehnis getroffen wird, dessen Eintreten oder Nichteintreten durch einen darauffolgenden oder vorangehenden Nebensatz, der einen momentan für irreal gehaltenen Zustand ausdrückt und mit "wenn" oder "falls" beginnt, eingeschränkt wird.

Im Nebensatz, der mit 'wenn' oder 'falls' eingeleitet wird, steht der Konjunktiv2, im Hauptsatz steht das Konditional:

Falls ich jetzt führe, würde ich es noch rechtzeitig schaffen.
Wenn er jetzt käme, würden wir losfahren.
Wenn sie mich anspräche, würde ich ihr die Lösung sagen. etc.
Wâ mag ich mich nu vinden? wâ mac ich mich nu suochen, wâ? nu bin ich hie und bin ouch dâ und enbin doch weder dâ noch hie. wer wart ouch sus verirret ie? wer wart ie sus zerteilet mê?
(Gottfried von Straßburg)