Gleiche Chancen für Dativ-Objekte!

Begonnen von Kilian, 2005-02-27, 20:03:40

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Kilian

Akkusativ-Objekte befinden sich in einer bevorzugten Lage: Sie können durch Umwandlung des Satzes ins Passiv zum Protagonisten, zum grammatischen Subjekt werden:

Der König schlug mich zum Ritter.
-> Ich wurde vom König zum Ritter geschlagen.

Dativ-Objekte haben diese Mobilität schriftsprachlich nicht. Wird ein Satz ohne Akkusativ-Objekt vom Aktiv ins Passiv umgeformt, tritt ganz unverschämt aus dem Nichts ein unsichtbares, unpersönliches Subjekt auf den Plan, das ihnen den Aufstieg verwehrt:

Die Menschen huldigten mir.
-> Mir wurde von den Menschen gehuldigt.

Und sind sowohl Dativ- als auch Akkusativobjekt vorhanden, muss das arme Dativ-Objekt stets mitansehen, wie sein Geschwister ihm eine lange Nase dreht und an ihm vorbeizieht:

Das hat man mir nicht mitgeteilt.
-> Das wurde mir nicht mitgeteilt.

Weniger grausam geht die Umgangssprache mit Dativ-Objekten um; hier beginnt zaghaft eine gewisse Chancengleichheit aufzuziehen:

Das hat man mir nicht mitgeteilt.
-> Ich habe das nicht mitgeteilt bekommen/gekriegt.

Das "dativische Passiv", wie ich es mal nennen will, wird genauso gebildet wie das normale, "akkusativische", nur mit kriegen oder bekommen statt werden als Hilfsverb. Weil das so logisch und konsequent funktioniert, plädiere ich für die sofortige Aufnahme des dativischen Passivs in die Schriftsprache! Möge die rote Tinte fortan bei "Ich kriegte gesagt, dass..." ebenso im Fasse verharren wie bei "Mir wurde gesagt, dass..."! Möge die Dame, die in der BRIGITTE Community schrieb, es müssten ja nicht immer nur die Jura-Studenten gehuldigt bekommen, nicht allein bleiben! Gleiche Chancen für Dativ-Objekte!

Kilian

Eine exemplarische Google-Recherche ergab
für "mir wurde gesagt" 30.500 Treffer,
für "mir ist gesagt worden" 1.130 Treffer,
für "ich bekam gesagt" 130 Treffer,
für "ich kriegte gesagt" 1 Treffer,
für "ich habe gesagt bekommen" 273 Treffer und
für "ich habe gesagt gekriegt" 1 Treffer.
Eine Quotenregelung tut wohl not! Was die Wahl des Hilfsverbs angeht, wird aufgrund seiner schönen Stärke wohl zunächst bekommen zu bevorzugen und daneben ab und an kriegen mit seinen gestorkenen Formen zu etablieren sein.

MrMagoo

#2
Zitat von: Kilian in 2005-02-27, 20:08:00
Eine exemplarische Google-Recherche ergab
für "mir wurde gesagt" 30.500 Treffer,
für "mir ist gesagt worden" 1.130 Treffer,
für "ich bekam gesagt" 130 Treffer,
für "ich kriegte gesagt" 1 Treffer,
für "ich habe gesagt bekommen" 273 Treffer und
für "ich habe gesagt gekriegt" 1 Treffer.
Eine Quotenregelung tut wohl not! Was die Wahl des Hilfsverbs angeht, wird aufgrund seiner schönen Stärke wohl zunächst bekommen zu bevorzugen und daneben ab und an kriegen mit seinen gestorkenen Formen zu etablieren sein.


Du rennst offene Türen ein, Kilian:
Das "bekommen bzw. kriegen-Passiv" ist bereits etabliert:

"Das Deutsche unterscheidet aufgrund formaler und semantischer Eigenschaften zwischen
a) Dem Vorgangspassiv,
das mit dem Hilfsverb werden (deshalb auch: werden-Passiv)
oder den Verben bekommen, erhalten, kriegen (deshalb auch: bekommen-Passiv) gebildet wird
und
b) dem Zustandspassiv,
das mit dem Hilfsverb sein gebildet wird (daher auch: sein-Passiv.)."

(aus: Hadumod Bußmann: "Lexikon der Sprachwissenschaft").
Wâ mag ich mich nu vinden? wâ mac ich mich nu suochen, wâ? nu bin ich hie und bin ouch dâ und enbin doch weder dâ noch hie. wer wart ouch sus verirret ie? wer wart ie sus zerteilet mê?
(Gottfried von Straßburg)

Arnymenos

Wobei "bekommen" doch so nahe am "werden" liegt... to become. Die völlige Gleichbehandlung im Englischen ("John was given a book") finde ich unpraktisch. Das am Verb zu unterschieden, ist gar nicht schlecht. "bekommen"/"kriegen" erfordert nur etwas Gewöhnung.

Kilian

"Bereits etabliert" halte ich für übertrieben. Das bekommen-Passiv ist vor allem in der Umgangssprache anzutreffen und in der deutschen Sprachwissenschaft, wie mir scheint, ein noch umstrittener Punkt, was Einordnung und Benennung anbetrifft.

ZitatWobei "bekommen" doch so nahe am "werden" liegt...

Die logische Folge aus dem Spruch "Haste was, biste was": "Bekommste was, wirste was." ;) Nein, wir wollen doch die Grenzen zwischen Haben und Sein nicht niederreißen...

MrMagoo

#5
Zitat von: Kilian in 2005-02-27, 21:38:01
ZitatWobei "bekommen" doch so nahe am "werden" liegt...

Die logische Folge aus dem Spruch "Haste was, biste was": "Bekommste was, wirste was." ;) Nein, wir wollen doch die Grenzen zwischen Haben und Sein nicht niederreißen...

Doch doch:
So wie das "werden-Passiv" das Vorgangspassiv mit dem Subjekt aus dem (im dazugehörigen Satz im Aktiv passenden) Akkusativobjekt ist,
ist das "bekommen-Passiv" das Vorgangspassiv mit dem Subjekt aus dem Dativobjekt.
"Haben" und "sein" spielen wohl eher eine Rolle im Perfekt - obwohl man hier anmerken könnten, daß diejenigen Verben, die ihr Perfekt mit "sein" bilden, gar kein Passiv bilden können... hängt vielleicht doch alles irgendwie zusammen?! ;D
Wâ mag ich mich nu vinden? wâ mac ich mich nu suochen, wâ? nu bin ich hie und bin ouch dâ und enbin doch weder dâ noch hie. wer wart ouch sus verirret ie? wer wart ie sus zerteilet mê?
(Gottfried von Straßburg)

Kilian

Zitat von: MrMagoo in 2005-02-27, 21:50:33Doch doch:
So wie das "werden-Passiv" das Vorgangspassiv mit dem Subjekt aus dem (im dazugehörigen Satz im Aktiv passenden) Akkusativobjekt ist,
ist das "bekommen-Passiv" das Vorgangspassiv mit dem Subjekt aus dem Dativobjekt.

Schon klar. Wenn wir uns streiten, dann darüber, ob's schon etabloren genug ist oder ob's noch stärker propagoren werden muss.

Wo du schon am Rande das Zustandspassiv ansprachst, können wir ja auch über ein dativisches (= Rezipienten-) Zustandspassiv nachdenken. Welches Verb könnte man da verwenden? Am nächstliegenden wäre haben, denn so wie etwas ist, wer etwas geworden ist, hat etwas, wer etwas bekommen hat. Aber haben ist ja leider schon vom Perfekt okkuporen, vieles würde zweideutig:

"Ich habe das mitgeteilt." = "Mir ist das mitgeteilt."

Vielleicht besitzen?

"Nachdem mir etwas mitgeteilt wurde, besitze ich es mitgeteilt."

Klingt etwas schwerfällig - aber welches Verb könnte man sonst sinnvoll einsetzen?

gehabt gehabt

Ich sehe keinen Handlungsbedarf. Die Vox Populi hat sich des Problems schon angenommen:

Hier wird Sie geholfen.

Alles nur eine Frage der Zeit! Der Akkusativ ist der einzige Fall, der sich im Passiv zu einem Nominativ wandelt:

Der Toten wurde gedacht.
Dem Manne wurde geholfen.

aber

Ein Verdaechtiger wurde beobachtet.

Man koennte auch, um Gleichheit herzustellen, kuenftig sagen:

Einen Verdaechtigen wurde beobachtet.


amarillo

Wenn es denn schon sein muß, warum sollte es dann nicht "sein" sein?

Danke, ich bin es bereits mitgeteilt.
Das Kind ist das Fläschchen schon gegeben.

Man darf nur eben vor nix fies sein.
Das Leben strebt mit Urgewalt nach Entstehung und Musik.

Kilian

Zitat von: gehabt gehabt in 2005-02-28, 12:17:27Ich sehe keinen Handlungsbedarf. Die Vox Populi hat sich des Problems schon angenommen:

Hier wird Sie geholfen.

Hier wird das Dativ-Objekt zum Akkusativ-Objekt, auch originell. Aber, wie Arnymenos schon sagte, unpraktisch, weil es die Unterschiede zwischen Dativ und Akkusativ verwischt, wie auch das Original "Hier werden Sie geholfen", entsprechend amarillos Vorschläge. Differenzorener und außerdem im Sinne der GSV Formenvielfalt erzeugender ist immer noch das Rezipientenpassiv.

ZitatDer Akkusativ ist der einzige Fall, der sich im Passiv zu einem Nominativ wandelt:

Der Toten wurde gedacht.
Dem Manne wurde geholfen.

Das ist ja nun gerade die Ungerechtigkeit, die ich hier anprorng, und dass du es so siehst, gibt mir gegenüber MrMagoo recht, wenn ich sage, das Rezipientenpassiv ("Der Mann kriegte geholfen.") sei nicht etabloren, offiziell, whatever. Interessant auch, was man mit dem Genitiv machen könnte: Wie dativisch "Die Toten bekamen gedacht"? Oder doch eher noch ein anderes Hilfsverb? Sollte man vielleicht das Passiv mit kriegen Genitiv-Objekten vorbehalten?

ZitatEinen Verdaechtigen wurde beobachtet.

Das wäre ja, wie wenn man alle Verben schwüche, um Gleichheit zwischen starken und schwachen herzustellen. ;)

ZitatWenn es denn schon sein muß, warum sollte es dann nicht "sein" sein?

Danke, ich bin es bereits mitgeteilt.
Das Kind ist das Fläschchen schon gegeben.

Das wäre dann wie im Englischen - hätte nur den Nachteil, dass man im Passiv nicht mehr feststellen könnte, ob es sich im Aktiv um ein Dativ- oder Akkusativ-Objekt hülnde.

Ly

Zitat von: Kilian in 2005-02-28, 14:35:55
ZitatWenn es denn schon sein muß, warum sollte es dann nicht "sein" sein?

Danke, ich bin es bereits mitgeteilt.
Das Kind ist das Fläschchen schon gegeben.

Das wäre dann wie im Englischen - hätte nur den Nachteil, dass man im Passiv nicht mehr feststellen könnte, ob es sich im Aktiv um ein Dativ- oder Akkusativ-Objekt hülnde.

Das würde aber im Englischen gar keinen Unterschied machen, weil der Dativ und der Akkusativ da sowieso verschmolzen sind +g+
It isn't always how you look. Look at me. I'm handsome like anything, and I haven't got anybody to marry me yet.

Kilian

Das ist doch nicht zum Grinsen, das ist traurig. Nein, im Ernst: Klar. Und genau deshalb, weil es im Deutschen beide Fälle noch für sich gibt, ist es sinnvoll, den Unterschied auch im Passiv zu machen.

gehabt gehabt

Ich stimme bei: vive la difference. Quod licet Jovi ...

Wenn es den Unterschied zwischen Dativ und Akkusativ nicht gaebe moesse er erfunden werden.

Kilian

Ich strlop gerade über ein wenig beachtetes Phänomen der deutschen Grammatik: Das aus dem Hilfsverb sein und einem Infinitiv mit zu geboldene "Modal-Passiv", wie Harald Weinrich (Textgrammatik der deutschen Sprache, 2. rev. Aufl., Georg Olms Verlag, 2003, S. 170 f.) es nennt.

Beispiel: "Das moderne Phänomen der schleichenden Inflation ist hier einzuordnen."

Wie es sich fürs Passiv gehört, ist das, was normalerweise Akkusativ-Objekt des Verbs ist, Subjekt solcher Sätze. Ohne Objekt lässt sich kein Modal-Passiv bilden, höchstens noch wenn die erste Satzposition vom unpersönlichen Hilfssubjekt es oder dem Infinitiv gefiollen wird:

(1) * Ist zu tanzen.
(2) ? Es ist zu essen.
(3) ? Zu essen ist.

Aber was ist mit Dativ-Objekten? Es gibt eine modalpassivartige Konstruktion, die ihnen erlaubt, im Dativ stehenzubleiben. Für das Subjekt gilt dasselbe wie gerade gesagen:

(4) Den Leuten ist nicht zu trauen.
(5) Es ist den Leuten nicht zu trauen.

So dachte ich zumindest. Herr Rau ersann heute etwas Neues:

(6) Aber Erinnerungen sind nicht unbedingt zu trauen.

Hier sind die Erinnerungen offensilcht Subjekt, wie man an der Form von sein erkennt. Ein neuer Vorstoß zum Gleichbericht der Dativobjekte?

Agricola

Zitat von: Kilian in 2008-08-22, 13:40:19
(6) Aber Erinnerungen sind nicht unbedingt zu trauen.
Halte ich für schlichtweg falsch, es sei denn, Herr Rau meint, dass Erinnerungen nicht unbedingt heiraten dürfen. Wenn mich nicht alles täuscht, geht das Modalpassiv ganz analog zum Passiv mit müssen bzw. (nicht) dürfen. Der Satz hieße formel umguoren also:

Aber Erinnerungen dürfen nicht unbedingt getraut werden.

Im Gegensatz zum korrekten:

Aber Erinnerungen ist nicht unbedingt zu trauen.
Aber Erinnerungen darf nicht unbedingt getraut werden.
The future lies in front of me,
but "lies" is all that I can see.