Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit

Begonnen von Homer, 2015-05-03, 11:07:15

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Kilian

#30
Zitat von: Homer in 2015-06-12, 03:02:10
1. Ja, es gibt völlig unproblematische Fälle: "Die Römer sprachen Latein" (s.o.).

Beschwere ich mich auch nicht drüber. Ich kann aber auch Kristin Kopf gut verstehen, die lieber zu einer randomisierten Liste greift, als sich jedes Mal den Kopf darüber zu zerbrechen, ob ein generisches Maskulinum hier völlig unproblematisch ist oder nicht.

Zitat2. Wofür ist es überhaupt wichtig, ob eine sprachliche Äußerung oder Teile davon etwas mehr oder etwas weniger spontan richtig verstanden werden? Ich halte meine Gesprächspartner in der Regel bis zum Beweis des Gegenteils für geistig flexibel und habe keine Lust, ihnen durch einen Eindeutigkeits-Overkill etwas anderes zu signalisieren.

Erstens gibt es das Argument der höheren kognitiven Bürde für Frauen (s.o.). Zweitens wird die Ambiguität nicht in jedem Diskurs schlussendlich aufgelöst werden, die männliche Interpretation bleibt also möglich und läuft Gefahr, bei der Hörerin bestehende Rollenstereotype zu verstärken. Zumindest halte ich das für möglich.

Zitat3. Was (eventuell) erschwertes Verständnis mit Diskriminierung zu tun haben könnte, ist mir unerfindlich.

Siehe meine Antwort zu Punkt 2.

ZitatUnd warum wäre unter dem Blickwinkel der Verständlichkeit ein Satz wie "Linguisten sind alle Idioten" eher für rezipierende Frauen ein Problem als für Männer?

Weil der männliche Linguist sofort weiß, dass er beleidigt wurde, die weibliche Linguistin dagegen erst ermitteln muss, ob sie mitgemeint ist.

Zitat4. Warum soll ich Nicht-Diskriminierung durch generische Maskulina nachweisen? Im allgemeinen muss aus prinzipiell-methodischen Gründen in der Forschung die Existenz von etwas nachgewiesen werden und nicht die Nicht-Existenz.

Gut, lass es mich anders sagen: Du bezeichnest bestimmte generische Maskulina in bestimmten Situationen als völlig unproblematisch, nur hat anscheinend noch keine Studie deren Problematizität nachzuweisen versucht. Worin also besteht die Uneinigkeit zwischen dir und den Studien?

ZitatDie Beweislast liegt bei denen, die daran glauben, dass Teile der langue per se diskriminieren können.

Zu denen würde ich weder die Autorinnen der hier genannten Studie noch die darüber Berichtenden zählen. Auch sie erkennen, so weit ich das sehe, an, dass es der Sprachgebrauch ist, der eventuell diskriminiert. Es kömmt mir also so für, als erirfest du dich über Strohleute.

Zitat5. Durch Beobachten und Nachdenken über Sprache werde ich nichts erfahren?

Das habe ich nicht geschrieben.

Zitat7. Warum ich mich dennoch beschwere? Unzureichend differenzierende Forschung, pauschalisierende Berichterstattung und politische Instrumentalisierung im Bereich eines sprachwissenschaftlichen Themas, das mich interessiert, darf ich doch wohl kritisieren.

Ja, aber ich habe den Eindruck, dass du in die Schlussfolgerungen der Studie und in die Berichterstattung mehr hineinliest, als da steht, nämlich ,,ein generische gemeintes Maskulinum zu verwenden ist unter allen Umständen böse". Sagt doch da niemand.

ZitatDoch, es geht eindeutig um generische Maskulina vs. "geschlechtergerechte" Formen.

Es geht um männliche vs. "geschlechtergerechte" Formen. Wo steht, dass die untersuchten männlichen Formen generisch sein sollten?

ZitatLeider habe ich die Studie selbst noch nicht sehen können, da der entsprechende Faszikel in unserer UB noch nicht online verfügbar ist. Aber der Sprachlog-Bericht zitiert ja die vier Fragen, die den Kindern gestellt wurden. Bei den ersten drei ist sicherlich in die Platzhalter-Lücke ein Singular einzusetzen, bei der vierten ein Plural.

Ach so, ja, stimmt, mein Fehler. Wäre in der Tat interessant zu sehen, ob der Effekt auch ohne den Singular auftritt.

ZitatWie Du weißt, bezweifle ich das stark. Mir fallen nach wie vor keine realitätsnahen Sätze mit generischen Maskulina ein, die in einem klar definierten Kontext in einem Gespräch unter sprachlich sensiblen, kooperativen Gesprächspartnern zu Missverständnissen führen könnten. Solange mir niemand überzeugende Beispiele präsentiert, halte ich das Eindeutigkeitsargument für einen Mythos.

Was meinst du mit "Missverständnis"?

Das weitere Gespräch ins Stocken bringen werden solche Interpretationsschwierigkeiten wohl in der Tat kaum je.

Denn entweder klärt der weitere Verlauf des Gesprächs oder Nachdenken über den Zusammenhang, welchen Geschlechts die gemeinten Personen sind. In dem Fall besteht aber immer noch eine lokale Ambiguität – eben jene Sekundenbruchteile verzögerter Reaktion, die in psycholinguistischen Experimenten gemessen werden, bzw. das Warten auf die zusätzliche Information. Und wie ich schon oft sagte, ist von dieser kognitiven Bürde systematisch eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe (Frauen) stärker betroffen als der Rest. Das allein sollte Grund genug sein, generische Maskulina tendenziell zu vermeiden.

Oder es wird nie aufgeklärt, weil das Geschlecht der Personen für das Gespräch (auf der Sachebene) nicht relevant ist.

Z.B.: "Ich werde mich mit meinen Anwälten besprechen."

Auch wenn das generisch gemeint war, stellt die Gesprächspartnerin sich jetzt möglicherweise ein rein männliches Team vor. Du kannst natürlich sagen, dass dieses im Kontext von sprachlicher Kommunikation auftretende Phänomen lediglich ein Symptom der gesellschaftlichen Verhältnisse ist. Aber die Studie von Vervecken legt nahe, dass dieses Symptom wiederum dazu beiträgt, das Übel zu verstärken, weil, wenn Frauen sich immer nur Männer in einem Beruf vorstellen, sie womöglich davon abkommen, sich für diesen Beruf zu entscheiden. Wer diesem Effekt entgegenwirken möchte, hat einen weiteren Grund, generische Maskulina zu vermeiden. Natürlich kann sich das mit Meta-Motiven verbinden, z.B. 1) eine Position zu beziehen für geschlechtergerechte Sprache, was auch andere dazu ermutigen soll ("seht her, ich mache mit bei diesen Spiel, tut es mir gleich"), 2) sich als "Ally" profilieren ("seht her, ich mache mit bei diesem Spiel, ich bin toll") usw.

ZitatZweifellos. Aber es ist ein Unterschied, ob man etwas im Hinblick auf einen möglichen Einsatz als Instrument in einem gesellschaftlichen Projekt untersucht oder um seiner Beschaffenheit selbst willen. Der Satz bezog sich auf die "feministische Linguistik", die weniger eine Wissenschaft im eigentlichen Sinne als ein sich mit einem wissenschaftlichen Deckmäntelchen behängender Teil des politisch-sozialen Projekts Feminismus ist. Ihr primäres Ziel ist es nicht, Sprache zu untersuchen, sondern sie zu ändern. Sprachdeskription dient damit lediglich der Vorbereitung der Erfüllung des feministischen Arbeitsauftrags. Sprache kann unter solchen Imperativen natürlich niemals Gegenstand vorurteilsfreier echt wissenschaftlicher Forschung sein. Dass eine solche sich als "intervenierend" verstehende "sozialwissenschaftliche Disziplin" (beides Wikipedia-Artikel) weder Bedarf noch Interesse an einer Differenzierung der ihr zugrundeliegenden Sprachdeskription hat, sondern lieber die immer gleichen Mythen hundertfach "empirisch" reproduziert und darauf hofft, dass die Sprache tatsächlich von immer mehr Menschen als "männlich dominiert" empfunden wird, wenn man es nur oft und laut genug behauptet, mag verständlich sein. Aber der in vielerlei Hinsicht gute Zweck heiligt m.E. nicht die wissenschaftlich unzulänglichen Mittel.

Kein/e Wissenschaftler/in ist vorurteilsfrei. Natürlich liegen der Auswahl von Untersuchungsgegenständen bestimmte Nachweisabsichten zugrunde. (An sich selbst so bezeichnenden feministischen Linguistinnen schätze ich u.a. die Unverhohlenheit ihrer Absichten.) Ich warte mit Spannung darauf, dass die Gegenseite Experimente designt, die empirisch genauer zeigen können, unter welche Umständen generische Maskulina problematisch sind und unter welchen nicht.

Zitat
Zitat von: Kilian in 2015-06-11, 20:18:58
ZitatIch glaube nicht, dass eine Studie mit 6-12jährigen Kindern über dieses Wortmaterial wirklich ein Beleg für eine solche Kausalitätsumkehr sein kann.

Was für eine ,,Kausalitätsumkehr"?

Unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit prägt unser Vokabular, nicht umgekehrt.

Außer bei 6-12-Jährigen, oder wie? Weil, dass der Sprachgebrauch (das Vokabular ist eher der langue zuzuordnen, oder?) die Wahrnehmung der Wirklichkeit bei denen mitprägt, hat die Studie ja gezeigt.

ZitatEs ist nur einfach kein Wunder, dass Kinder noch nicht über genug sprachliche Erfahrung verfügen, um echtes von generischem Maskulinum sicher zu unterscheiden, und deshalb im Zweifel zum häufigeren, dem echten, tendieren. Wo hätte ich Kinder für irrelevant erklärt? Ich glaube nur nicht, dass man aus dieser an Kindern durchgeführten Studie verallgemeinernd folgern kann, dass die Welt mit Vokabeln zu ändern ist.

Im Rahmen der Studie wurde die Welt doch bereits geändert, im kleinen Maßstab, in den Köpfen der Kinder. Dass das auch im größeren Maßstab funktioniert, ist damit natürlich nicht zweifelsfrei erwiesen. Aber das Ergebnis deutet zumindest in die Richtung.

ZitatFür die Durchsetzung einer solchen Theorie müsste auch erst einmal die m.E. sehr ernst zu nehmende Hypothese der Euphemismus-Tretmühle außer Kraft gesetzt werden.

Bei der Euphemismus-Tretmühle geht es um negativ konnotierte Begriffe, was hat das mit unserem Thema hier zu tun?

ZitatJahrzehntelanges komplett unfallfreies Sprechen mit dieser Personengruppe unter sehr fleißiger Verwendung des generischen Maskulinums macht mich da zuversichtlich.

Siehe meine obigen Ausführungen zu "Missverständnis". Dass man Effekte dieses Sprachgebrauchs (insbesondere als Mann) nicht bemerkt, bedeutet nicht, dass sie nicht existieren.

Kilian

Zitat von: Homer in 2015-06-12, 09:02:31Aus dem bloßen Befund könnte man ebenso gut, wären die gesellschaftlichen Vorzeichen umgekehrt, das Programm einer maskulistischen Linguistik herleiten: Frauen genießen offenbar das Privileg, über eigene, eindeutig weiblich denotierte Formen zu verfügen. Demgegenüber weiß man, wenn man mit Maskulina spezifisch über Männer sprechen will, nie, ob die Form nicht generisch verstanden werden könnte. Die Männer werden also in der gemeinsamen Masse von Männern und Frauen "unsichtbar gemacht".

Inwiefern ist das einen ,,Unsichtbarmachung", wenn man, wenn man ein Maskulinum hört, sich zu 99% sicher sein kann, dass zumindest ein Teil der gemeinten Gruppe männlich ist?

Kilian

Zitat von: Homer in 2015-06-12, 17:41:32
Der Plural ist im Deutschen im Prinzip morphologisch genuslos. Das merkt man immer dann, wenn kein Singular da ist, wie bei "Leute". (Das ist auch der entscheidende Grund für die geringere männliche Markiertheit von generischen Maskulina im Plural gegenüber dem Singular.) Man muss also, wenn man ein Genus im Plural ermitteln will, immer äußere Kriterien hinzuziehen aus anderen Teilen des Paradigmas (das ist im Normalfall der Singular), durch Rekurs auf sprachgeschichtliche Daten oder – wie in Deinem Fall – durch noch andere Versuche.

Es ist aber überlegenswert, ob man nicht, statt Pluralformen auf künstlichen Umwegen eine Kategorie "Genus" zuzuweisen, die morphologisch gar nicht nachweisbar ist, sagen sollte, dass der Plural im Deutschen grundsätzlich genusindifferent ist und diese Kategorie nur im Singular existiert. Das klingt kühner, als es wahrscheinlich ist. Ich meine mich zu erinnern, dass mein Sprachwissenschaftsprofessor in Göttingen diese Ansicht vertrat.

Ich sympathisiere auch damit, rein morphologisch bezeichnen manche den Plural als das ,,vierte Genus" des Deutschen. Semantisch sind die Anwälte oder die Fußpfleger m.E. freilich immer noch sexusmarkiert, wenn auch wahrscheinlich schwächer.

Kilian

Zitat von: Homer in 2015-06-13, 01:01:01
Mir geht es hier genau umgekehrt: dem klingt völlig in Ordnung, der würde ich nie sagen. Das grammatische Genus setzt sich, glaube ich, ganz regelmäßig gegen das semantische durch, wie in Mein Vater ist eine Person, der ich vertraue und nicht dem ich vertraue.

Nachtrag: Aber sieh an, die Duden-Grammatik nennt bei jemand und niemand auch den Bezug auf das natürliche Geschlecht an zweiter Stelle als akzeptabel. Wie gesagt, das wäre überhaupt nicht meine Wahl (und ich habe das Gefühl, wenigstens in ambitionierterem Schriftdeutsch sollte man es meiden), ist aber offenbar möglich. In einer älteren Auflage (1998) wird noch ausdrücklich betont, dass das nicht standardsprachlich ist, aber im Zuge feministischer Sprachänderungsbemühungen propagiert wird. Das ist also etwas ziemlich Neues; insofern kein Wunder, dass mir das nicht eingängig ist.

Bei Substantiven wie Person bleibt es aber bei der konsequenten Kongruenz mit dem grammatischen Genus.

Ich empfinde da auch eine gewisse Spannung dazwischen, dass jemand meinem Sprachgefühl nach maskulines Genus aufweist, und meinen Bemühungen, dieses Genus möglichst nicht auf Personen weiblichen oder unbekannten Geschlechts anzuwenden. Eine hübsche Lösung, die ich manchmal lese und verwende, ist die Ersetzung von jemand oder auch man durch eine (feminin, für Frauen) oder eins (neutral, für Personen beliebigen Geschlechts). ;D Überhaupt bietet das Neutrum tolle Möglichkeiten, da hat ja Luise Pusch sehr kreative Vorschläge gemacht. Warum ist die eigentlich nicht längst als unser Ehrenmitglied nominoren? Gleich mal nachholen.

Homer

Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:34:25
Zitat von: Homer in 2015-06-12, 17:41:32
Der Plural ist im Deutschen im Prinzip morphologisch genuslos. Das merkt man immer dann, wenn kein Singular da ist, wie bei "Leute". (Das ist auch der entscheidende Grund für die geringere männliche Markiertheit von generischen Maskulina im Plural gegenüber dem Singular.) Man muss also, wenn man ein Genus im Plural ermitteln will, immer äußere Kriterien hinzuziehen aus anderen Teilen des Paradigmas (das ist im Normalfall der Singular), durch Rekurs auf sprachgeschichtliche Daten oder – wie in Deinem Fall – durch noch andere Versuche.

Es ist aber überlegenswert, ob man nicht, statt Pluralformen auf künstlichen Umwegen eine Kategorie "Genus" zuzuweisen, die morphologisch gar nicht nachweisbar ist, sagen sollte, dass der Plural im Deutschen grundsätzlich genusindifferent ist und diese Kategorie nur im Singular existiert. Das klingt kühner, als es wahrscheinlich ist. Ich meine mich zu erinnern, dass mein Sprachwissenschaftsprofessor in Göttingen diese Ansicht vertrat.

Ich sympathisiere auch damit, rein morphologisch bezeichnen manche den Plural als das ,,vierte Genus" des Deutschen. Semantisch sind die Anwälte oder die Fußpfleger m.E. freilich immer noch sexusmarkiert, wenn auch wahrscheinlich schwächer.

Ja. Was mich zögern lässt, voll und ganz auf diese Linie einzuschwenken, ist die offensichtlich stets lauernde Intuition, dass doch auch Wörter im Plural ein Genus haben müssen. Das bricht sich dann Bahn, wenn die Grammatik eine Entscheidung tatsächlich einfordert, wie in Partitivkonstruktionen. Einer der Anwälte geht, eine der Anwälte nicht (angenommen, es handelt sich im Kontext um eine bekanntermaßen gemischte Gruppe). Da strahlt der Singular ab, selbst wenn der Sexus der Anwaltsgruppe gemischt und das semantische Genus des Wortes neutral oder unermittelbar ist.

Ich würde mich, glaube ich, nur etwas anders ausdrücken als Du: Ich würde nicht sagen, dass die Anwälte und die Fußpfleger (in welchem Grade auch immer) sexusmarkiert sind, weil das nach einer konstanten Zuschreibung eines Grades von Markiertheit klingt. Ich glaube eher, dass kontextabhängig kognitive Abstufungen von Sexusmarkiertheit (da es sich um die Wörter, die signifiants, und nicht um die Personen, die signifiés, handelt, wäre übrigens "semantisches Genus" statt "Sexus" genauer) vorkommen, von tatsächlich unmarkiert – es stellt sich überhaupt kein "männlicher" Nebengedanke ein – bis zu stärkerer Markiertheit. Diese dynamische Vorstellung entspricht m.E. der Sprachwirklichkeit eher als das sehr holzschnittartige "Männer sind immer mitgemeint" der feministischen Linguistik. In dem Satz "Die Römer sprachen Latein" ist die Markierung offenbar in unverfänglichem, alltäglichem Zusammenhang komplett auf Null gestellt und wird erst durch sekundäre Sprachreflexion, also auf der Metaebene, aktiviert. In diesem Satz sind semantisch nicht Männer und Frauen mitgedacht, sondern weder Männer noch Frauen, auch wenn die Römer in der realen Welt Männer und Frauen waren. Spätestens seit Saussure, aber eigentlich schon seit Aristoteles weiß man, dass sprachliche Zeichen nicht Laute mit Gegenständen verknüpfen, sondern Lautvorstellungen mit psychischen Begriffsinhalten. Diese Begriffsinhalte unterliegen aber dem Prinzip der abstraktiven Relevanz (Ausdruck von Karl Bühler): Aus der nahezu unendlichen Fülle der möglichen realen Eigenschaften eines Gegenstands werden psychisch bei der Begriffsbildung nur diejenigen aktiviert, kraft deren das auszusprechende Wort in seine Funktion als "Zeichen für etwas" eintreten soll. (Niemand soll mir weismachen, dass er bei Römer immer das Merkmal Geschlecht mitdenkt; vielleicht seltener, aber oft genug gibt es sicher Kontexte, in denen bei Anwälte auch niemand Männer mitdenkt.) Das Verhältnis Gegenstand – Begriffsinhalt – Lautbild ist ständigen situativen Schwankungen unterworfen. Es ist vielleicht der entscheidende Grundfehler der feministischen Sprachwissenschaft (jedenfalls in der radikalen Form von Pusch usw.) überhaupt, hier lexikalisch stereotype Konstanz anzunehmen (ich würde eher sagen: zu postulieren), weil die sprachlichen Zeichen nicht zu Begriffsinhalten, sondern durch Kurzschluss direkt zu den Gegenständen/Personen der realen Welt mit der Fülle ihrer realen Eigenschaften in Beziehung gesetzt werden. Das hat noch Platon (ein hochgradig idealisierender und fundamentalistischer Kopf, mit dem sich Frau Pusch bestimmt bestens verstanden hätte*) im Kratylos so gemacht, aber schon sein Schüler Aristoteles, der große, geerdete Empiriker, hat ihm dafür eins übergebraten und das Saussuresche Modell einfach mal um mehr als 2000 Jahre vorweggenommen.

*Platons autoritärer, philosophisch als perfekt "gerecht" begründeter Idealstaat sieht übrigens exakt aus wie eine politische Vorlage für das, was die feministische Linguistik heute in der Sprache vorhat. Platons praktischer Versuch, seinen Modellstaat umzusetzen, ist bekanntlich krachend an der Wirklichkeit gescheitert. Gott sei Dank.

Homer

Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:25:19
Zitat von: Homer in 2015-06-12, 09:02:31Aus dem bloßen Befund könnte man ebenso gut, wären die gesellschaftlichen Vorzeichen umgekehrt, das Programm einer maskulistischen Linguistik herleiten: Frauen genießen offenbar das Privileg, über eigene, eindeutig weiblich denotierte Formen zu verfügen. Demgegenüber weiß man, wenn man mit Maskulina spezifisch über Männer sprechen will, nie, ob die Form nicht generisch verstanden werden könnte. Die Männer werden also in der gemeinsamen Masse von Männern und Frauen "unsichtbar gemacht".

Inwiefern ist das einen ,,Unsichtbarmachung", wenn man, wenn man ein Maskulinum hört, sich zu 99% sicher sein kann, dass zumindest ein Teil der gemeinten Gruppe männlich ist?

Durch das mögliche Missverstehen eines spezifisch männlich gemeinten Maskulinums als generisch wird das Merkmal "männlich" entwertet, was den Frauen im Femininum nicht passieren kann.

Aber nimm das, was ich geschrieben habe, als das, was gemeint war: als Parodie auf die Argumentationsweise der feministischen Linguistik. Ich glaube, mein parodistisch gemeintes Argument ist nicht schlechter als das der Feministinnen, das im Gegensatz dazu allerdings eine unfreiwillige Parodie seriösen Argumentierens ist.

amarillo

Entschuldigt bitte meinen Eingratsch:

Es ist leider nicht so, daß ich Eurer hochwohllöblichen Disputation, die ich mit größtem Interesse und ebensolchem Nichtverstehen verfolge, auch nur ein Iota inhaltlicher Zutat angedeihen lassen könnte; erlaubt einem Simplex wie mir bitte nur diese Frage: Geht es -
eventuell auch nur in Nuancen - um ein Randproblem des politisch korrekten Sprachgebrauchs? Bitte, bitte: keine Abhandlung mehr,  ein schlichtes "Ja" - "Nein" - "Vielleicht" befrädöge mich vollends.
Das Leben strebt mit Urgewalt nach Entstehung und Musik.

Homer

Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Beschwere ich mich auch nicht drüber. Ich kann aber auch Kristin Kopf gut verstehen, die lieber zu einer randomisierten Liste greift, als sich jedes Mal den Kopf darüber zu zerbrechen, ob ein generisches Maskulinum hier völlig unproblematisch ist oder nicht.

Ja, die randomisierte Liste ist sicher bequemer als eine Millisekunde zusätzlichen Nachdenkens. [*Sarkasmus* (Entschuldigung!)] "Sich den Kopf zerbrechen" (toller name pun übrigens, Respekt!) ist ein sehr starker Ausdruck für einen winzigen Moment der Unsicherheit, wie wir ihn täglich beim Kommunizieren in allen Bereichen der Sprache dutzendfach haben. Daran ist überhaupt nichts Vermeidenswertes.

Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Erstens gibt es das Argument der höheren kognitiven Bürde für Frauen (s.o.).

Ja, das Argument gibt es. Es ist aber – mit Verlaub – so evidenter Nonsens, dass ich mich frage, warum es dauernd wiederholt wird:

1. Polemisch: Ich wundere mich, dass Feministinnen eine so geringe Meinung von den kognitiven Fähigkeiten ihrer Geschlechtsgenossinnen haben. Könnte mir nicht passieren.

2. Jetzt im Ernst: Niemand wird vernünftigerweise bestreiten wollen, dass Männer und Frauen grundsätzlich gleich starke kognitive Kompetenzen haben. Wenn ich nun beispielsweise in einem Vortrag vor gemischtem Publikum einen Satz sage wie "Griechische Liebesdichter gebrauchten bestimmte lyrische Metra", dann ist die kognitive Bürde für Frauen wie Männer im Auditorium offensichtlich gleich hoch, vorausgesetzt sie stellen sich die Frage überhaupt, ob ich Sappho ein- oder ausschließen wollte (eine Frage, auf die man wohl nur mit feministischer Vorprägung kommt, was wiederum die Frage aufwirft, ob die feministische Linguistik die von ihr postulierte Kognitionslücke nicht überhaupt erst herbeiredet). Oder gibt es irgendeinen Grund, warum sich Frauen die Sappho-Frage eher stellen sollten als Männer, außer vielleicht wiederum dem eines feministischen Interesses? Das kann natürlich legitim sein, aber dann ist die höhere Bürde der Kognition selbstgeschaffen. Wenn ich mir eine Frage stelle, die sich andere nicht stellen, weil sie fernliegt – wie hier –, habe ich einfach mehr nachzudenken, das kann jeder selbst entscheiden. Man kann sich bestimmt Fälle ausdenken, in denen der Zweifel größer ist, aber in normalen Kontexten kommen Frauen und Männer beim Hören immer in gleicher Weise ins Grübeln oder nicht.

Ob es schwieriger wird – und das ist vermutlich bei dieser These eher gemeint –, wenn gemischte Gruppen angesprochen werden? Nehmen wir folgenden Fall: Ich halte einen Vortrag vor einem geschlechtlich gemischten Publikum von Studenten und Nicht-Studenten. Um den Zweifelsfaktor des Beispiels zu erhöhen, sei angenommen, der Vortrag drehe sich um das Verhältnis von Genus und Sexus, das Thema ist also in den Köpfen des Publikums. Nun sage ich: "Alle Studenten verlassen bitte den Raum!" Die männlichen Studenten wissen nun genau, dass sie gemeint sind, die weiblichen nicht. Sie wissen nicht, ob "Studenten" im Gegensatz zu "Studentinnen" steht oder zu "Nicht-Studenten". Aber ist das ein Fehler des generischen Maskulinums selbst? Mitnichten, es ist ein Fehler, den man in der Pragmatik behandeln würde, die sich mit grammatisch enkodierten Kontextbezügen beschäftigt. Der Fehler liegt bei mir, weil ich mich unklar ausgedrückt habe. Ich hätte das generische Maskulinum hier einfach nicht ohne Setzung weiterer Signale benutzen dürfen, weil die Gefahr des Missverständnisses im Raum lag.

Jetzt wirst Du sagen, es könnte Fälle geben, in denen jemand sich bemüht, sich klar auszudrücken und sicher ist, das generische Maskulinum erfülle diese Anforderung, aber trotzdem von Teilen der Hörerschaft missverstanden wird. Ich will das gern ernsthaft diskutieren und nicht einfach wegreden, habe aber große Schwierigkeiten, mir solche Fälle in neutralen, d.h. nicht feministisch (im Experimentsinne) "verunreinigten" Kontexten vorzustellen. Aber nehmen wir an, es gelänge, einen solchen Fall zu beobachten oder zu konstruieren – dann bliebe es doch ein ganz normales kommunikatives Missverständnis, das auf einer falschen Einschätzung des Sprechers von der gemeinsamen linguistischen Verstehensbasis mit den Rezipienten beruht. Es ist systematisch-pragmatisch nicht anders zu bewerten, als wenn ich ironisch spreche, die Ironie aber nur von einem Teil der Hörer verstanden wird. Auch hier habe ich unwissentlich die kognitive Bürde für manche Hörer erhöht, die weniger sensibel für diese Signale sind. Niemand käme deshalb auf die Idee zu behaupten, Ironie diskriminiere Leute, die für Ironie taub sind. Missverständnisse passieren dauernd, niemand regt sich darüber auf, man klärt sie eben hinterher schnell auf. Nur beim generischen Maskulinum diskutieren wir über maternalistische sprachpolizeiliche Maßnahmen, die solche harmlosen Hänger im Kommunikationsprozess von vornherein verhindern sollen, weil angeblich ausgerechnet diese Art Hänger diskriminiert. Eine hin und wieder mal notwendige Millisekunde zusätzlichen Gehirnschmalzverbrauchs rechtfertigt die Forderung nach Abschaffung einer grammatischen Kategorie, die zum Reichtum der Ausdrucksmöglichkeiten beiträgt? Das bloße Inkaufnehmen der Möglichkeit, selbst bei allerbestem Willen zur Klarheit missverstanden werden zu können, ist bereits diskriminierend? Ich, sprachlich und kommunikativ kein unsensibler Klotz (glaube ich), diskriminiere mit dem generischen Maskulinum also Frauen, ohne es zu merken, gegen meine stabile antidiskriminatorische Überzeugung? Was ist denn das für eine irrwitzige, inflationäre Aufladung dieses Wortes? Und das Empörungspotential in anderen Teilen der Sprache, insbesondere im Lexikon, ist ja auch nicht gerade gering. Mir wird himmelangst. Vielleicht sollte ich Trappist werden.

Also lassen wir es doch einfach dabei: Sprecher und Hörer bemühen sich wechselseitig um plausible Einschätzungen des vermutlichen linguistischen Horizonts des jeweils anderen. Alles andere überlassen wir dem normalen Sprachwandel, der sich seinen Weg bahnen wird, auch ohne dass Frau Pusch ihn herbeieifert. Und wenn dann weiterhin Platz für eine Möglichkeit ist, echte Sexusindifferenz auszudrücken (also nicht beide Geschlechter gleich zu nennen, sondern gar keins), welche grammatische Einkleidung sie auch immer zufällig haben mag, dann freue ich mich. Die "geschlechtergerechte Sprache" ist ganz klar nicht diese Lösung.

Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Zweitens wird die Ambiguität nicht in jedem Diskurs schlussendlich aufgelöst werden, die männliche Interpretation bleibt also möglich und läuft Gefahr, bei der Hörerin bestehende Rollenstereotype zu verstärken. Zumindest halte ich das für möglich.

Rollenstereotype entstehen im Kopf von rollenstereotypisch handelnden und sprechenden Individuen. Um durch die Verwendung welches sprachlichen Mittels auch immer Rollenstereotype bei einer kommunikativ kooperativen, verständigen Hörerin zu verstärken, muss ich ein Rollenstereotyp, das in mir lauert, in unsensibler Weise sprachliche Gestalt werden lassen. Das sind Effekte, die es gibt, die man aber nicht durch dirigistische Eingriffe in das Sprachsystem beseitigt. Wie schon einmal gesagt: Sprache kann nicht diskriminieren, das können nur Sprecher. Sprache an sich kann die Welt nicht verändern, sondern ihre Benutzung, das Sprechen also, wirkt auf Subjekte ein, die wiederum durch Handeln die Welt verändern. Dieser (ansonsten nicht furchtbar ergiebige) der feministischen Linguistik gegenüber nicht unaufgeschlossene Artikel präzisiert immerhin das ganz gut. Es ist, um ein anderes Feld "bösen" Sprechens anzuführen, völlig in Ordnung, dass es die Wörter Neger und Zigeuner noch gibt. Sie sind nicht als Wörter schön "böse". Sie eignen sich nur heutzutage sehr gut dazu, "böse" benutzt zu werden. Aber das hat der Sprecher in der Hand. Ich könnte mir vorstellen, dass wir hierin nicht weit auseinanderliegen. Wenn Du Lust hast, lies mal das hier aus der taz.

Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
ZitatUnd warum wäre unter dem Blickwinkel der Verständlichkeit ein Satz wie "Linguisten sind alle Idioten" eher für rezipierende Frauen ein Problem als für Männer?

Weil der männliche Linguist sofort weiß, dass er beleidigt wurde, die weibliche Linguistin dagegen erst ermitteln muss, ob sie mitgemeint ist.

Woher weißt Du, dass dieser Satz an Linguisten gerichtet ist? Ich könnte ihn doch auch zu Physikern sprechen, die persönlich gar nicht betroffen sind. Und Physiker beiderlei Geschlechts werden diesen Satz gleich gut verstehen oder nicht verstehen (s.o.). Wenn aber Linguisten angesprochen sind, dann gilt auf der bloßen referentiellen Ebene des Sprachverstehens dasselbe: es gibt keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Was die Berechtigung angeht, sich beleidigt zu fühlen (die konative oder appellative Ebene), gilt, was ich oben gesagt habe: Ich habe offenbar nicht hinreichend klar gemacht, wer die Adressaten der Beleidigung sein sollten, es ist eine missverständliche Beleidigung. Das generische Maskulinum erfüllt den kommunikativen Zweck nicht richtig, den ich im Auge hatte. Wobei sich in diesem Fall die Unsicherheit eher zugunsten der Linguistinnen auswirkt, die nicht sicher davon ausgehen können, dass sie beleidigt worden sind: Diskriminierung aufgrund des Verdachts der Nicht-Beleidigung, lustig. Ich stelle mir vor, was passiert, wenn unter den Adressaten des Satzes feministische Linguistinnen sind: Die sind wahlweise beleidigt, weil sie zwar nicht beleidigt wurden, aber sich sprachlich diskriminiert wähnen, oder beleidigt, weil sie als Sprachwissenschaftlerinnen beleidigt wurden. Herrlich.

(continuabitur)

Homer

Zitat von: amarillo in 2015-06-13, 18:23:07

Es ist leider nicht so, daß ich Eurer hochwohllöblichen Disputation, die ich mit größtem Interesse und ebensolchem Nichtverstehen verfolge, auch nur ein Iota inhaltlicher Zutat angedeihen lassen könnte

Jetzt stellst Du Dein Licht aber arg unter den Scheffel ...

Zitat von: amarillo in 2015-06-13, 18:23:07
erlaubt einem Simplex wie mir bitte nur diese Frage: Geht es -
eventuell auch nur in Nuancen - um ein Randproblem des politisch korrekten Sprachgebrauchs? Bitte, bitte: keine Abhandlung mehr,  ein schlichtes "Ja" - "Nein" - "Vielleicht" befrädöge mich vollends.

"Randproblem" mag sein, aber eines, an dem sich viel Grundsätzliches über Sprachverwendung, Sprachwandel und Sprachsteuerung festmachen lässt. Kurz genug?

Wortklaux

Zitat von: Wortklaux in 2015-06-12, 17:06:22
... ob "Leute" eigentlich auch ein generisches Maskulinum ist. Ich wüsste kein Kriterium, nach dem man diese Frage beantworten könnte. Allenfalls vielleicht anhand der Entscheidung, welche von den unten angegebenen drei Formulierungen natürlich klingt / annehmbar ist / dem Sprachgefühl wiederstrebt:

a) Diesen Schmutz hat einer der Leute aus dem Haus hinterlassen, und ich weiß auch, wer.
b) Diesen Schmutz hat eine der Leute aus dem Haus hinterlassen, und ich weiß auch, wer.
c) Diesen Schmutz hat eins der Leute aus dem Haus hinterlassen, und ich weiß auch, wer.

Wenn man für Leute "Kinder" einsetzt, ist eindeutig c) richtig. Wenn man "Personen" einsetzt, eindeutig b). Bei "Menschen" ist es a), und daraus kann man jeweils eindeutig entnehmen, welches Geschlecht das Wort hat.

Aber komisch, bei "Leute" kommt mir jede dieser Formulierungen irgendwie gleich möglich und gleich falsch vor. Hat "Leute" also gar kein Geschlecht? In meinem Kopf anscheinend nicht. Also ist vielleicht "Leute" wirklich ein gerechtes Wort.
Um noch einmal auf dieses Problem zurückzukommen, so gibt es doch eine Quelle mit erheblich höherer Autorität als den Duden, nach der nur Satz c) korrurgen sein kann:

Wie auch ,,das Mitglied", ,,das Opfer" und ,,das Leut" ist ,,das Elter" nicht nur inhaltlich, sondern auch grammatisch geschlechtsneutral, sodass es eine der wenigen Personenbezeichnungen ist, die der sprachlichen Gleichstellung von Frau und Mann überhaupt keine Probleme bereiten.

Als Beispiel bietet dieselbe Quelle:

Der Platz war voll von Leuten. Ich beschloss, eins von ihnen anzusprechen, um nach dem Weg zu fragen.

Homer

Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Gut, lass es mich anders sagen: Du bezeichnest bestimmte generische Maskulina in bestimmten Situationen als völlig unproblematisch, nur hat anscheinend noch keine Studie deren Problematizität nachzuweisen versucht. Worin also besteht die Uneinigkeit zwischen dir und den Studien?

Ich verstehe immer weniger, worauf Du hinauswillst. Ich sage, dass generische Maskulina, sensibel verwendet, unproblematisch sind. Es ist hingegen ein Dogma der feministischen Linguistik, dass sie grundsätzlich problematisch sind. Das kannst Du nicht bestreiten. Worüber würden wir sonst gerade sprechen? Und wo wäre sonst die Notwendigkeit, auf Drängen der entsprechenden Lobby ein Monstrum wie die flächendeckend (also kontextunabhängig) gegenderte StVO zu erschaffen, also einen Text an zahlreichen Stellen umzuschreiben, bei dem Missverständnisse schon qua Textsorte (Gesetze gelten immer für alle Geschlechter, sofern nicht Geschlecht deren Thema ist, und alle Frauen wissen das) vollkommen ausgeschlossen sind? Also sag bitte nicht, ich regte mich über etwas auf, das niemand meint. Was "die Studien" (also die nach sozialwissenschaftlicher Methodik mit Probanden arbeitenden, auf Statistik angelegten) angeht, so ist es mir im Grunde erst einmal völlig gleichgültig, was sie zu beweisen glauben oder nicht. Das ist m.E. aus systematisch-sprachwissenschaftlicher Sicht keine furchtbar interessante Forschung. Die feministische Linguistik zieht sie aber gern zum Beweis der Problematizität des generischen Maskulinums heran. Zitat Kristin Kopf: "Das Problem am generischen Maskulinum ist natürlich, dass es ein ganz normales Maskulinum ist, dass also nie klar ist, ob nur Männer oder eben Männer und Frauen gemeint sind, und die psycholinguistische Forschung zeigt, dass es zwar ,,generisch" verstanden werden kann, dass Versuchspersonen aber zunächst an Männer denken und erst nach einem messbaren Zeitraum zu einer Interpretation kommen, die Frauen mit einschließt."

Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
ZitatDie Beweislast liegt bei denen, die daran glauben, dass Teile der langue per se diskriminieren können.

Zu denen würde ich weder die Autorinnen der hier genannten Studie noch die darüber Berichtenden zählen. Auch sie erkennen, so weit ich das sehe, an, dass es der Sprachgebrauch ist, der eventuell diskriminiert. Es kömmt mir also so für, als erirfest du dich über Strohleute.

Würde mich freuen, wenn es so wäre. Dann würden sie sich allerdings weit von dem entsprechenden feministischen Dogma entfernen. Die Forderung, eine Frau kontextunabhängig "nie" mit einem Maskulinum zu bezeichnen, ist nicht mehr als eine parole-bezogene interpretierbar, sondern nur noch als "das generische Maskulinum ist per se böse".

Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Zitat5. Durch Beobachten und Nachdenken über Sprache werde ich nichts erfahren?

Das habe ich nicht geschrieben.

Das war überpointiert von mir, ich entschuldige mich. Was ich sagen wollte, ist nur (verkürzt): Die wissenschaftliche Methodik in den eher sprachsystematischen Bereichen der Sprachwissenschaft, die nicht an der Grenze zu den Sozialwissenschaften stehen, ist eine andere. Wie auch in der Literaturwissenschaft spielen dort "empirische" Studien mit Probanden, Statistik usw. fast keine Rolle, weil sie schlicht nichts zur Erkenntnis in diesen Feldern beitragen könnten. Zählen und Messen spielen bei der sauberen Kategorienbildung eben keine große Rolle.

Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Ja, aber ich habe den Eindruck, dass du in die Schlussfolgerungen der Studie und in die Berichterstattung mehr hineinliest, als da steht, nämlich ,,ein generische gemeintes Maskulinum zu verwenden ist unter allen Umständen böse". Sagt doch da niemand.

S.o.

Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Es geht um männliche vs. "geschlechtergerechte" Formen. Wo steht, dass die untersuchten männlichen Formen generisch sein sollten?

Überall, hier z.B.: "Soweit bestätigt das Experiment aus linguistischer Perspektive auf eine sehr interessante Weise den semantischen Effekt des generischen Maskulinums – dies wird offensichtlich als ,,männlich" interpretiert" (KK). Das ist das Thema der Studie, wie kommst Du darauf, das zu bestreiten? Die eine Gruppe der Kinder wird nach "geschlechtergerecht" bezeichneten Berufen gefragt, die andere nach "männlich" bezeichneten. In der Sache ist mit den Berufen in beiden Fällen dasselbe gemeint, Frauen wie Männer können sie ausüben, nur die sprachliche Bezeichnung ist verschieden. Die dahinterstehende Frage, inwieweit sich auch Mädchen vom Maskulinum angesprochen fühlen, ist nichts anderes als die nach dem generischen Maskulinum, auch wenn vielleicht dieser Terminus mangels sprachwissenschaftlicher Kenntnisse von den Psychologen nicht verwendet wird (in der Pressemitteilung kommt er nicht vor).

Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Denn entweder klärt der weitere Verlauf des Gesprächs oder Nachdenken über den Zusammenhang, welchen Geschlechts die gemeinten Personen sind. In dem Fall besteht aber immer noch eine lokale Ambiguität – eben jene Sekundenbruchteile verzögerter Reaktion, die in psycholinguistischen Experimenten gemessen werden, bzw. das Warten auf die zusätzliche Information.

Daran ist nichts schlimm, s.o.

Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Und wie ich schon oft sagte, ist von dieser kognitiven Bürde systematisch eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe (Frauen) stärker betroffen als der Rest. Das allein sollte Grund genug sein, generische Maskulina tendenziell zu vermeiden.

S.o.

Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Z.B.: "Ich werde mich mit meinen Anwälten besprechen."

Auch wenn das generisch gemeint war, stellt die Gesprächspartnerin sich jetzt möglicherweise ein rein männliches Team vor. Du kannst natürlich sagen, dass dieses im Kontext von sprachlicher Kommunikation auftretende Phänomen lediglich ein Symptom der gesellschaftlichen Verhältnisse ist. Aber die Studie von Vervecken legt nahe, dass dieses Symptom wiederum dazu beiträgt, das Übel zu verstärken, weil, wenn Frauen sich immer nur Männer in einem Beruf vorstellen, sie womöglich davon abkommen, sich für diesen Beruf zu entscheiden.

Ich wundere mich immer wieder von neuem darüber, wie wenig Feministinnen von Frauen halten. Frauen ergreifen bestimmte Berufe eventuell weniger, weil sie im generischen Maskulinum der Berufsbezeichnung "nur" mitgemeint sind? Ich möchte wissen, ob dieser Effekt, auch nur als Rollenstereotype verstärkend, irgendwie messbar ist. Das dürfte ein reines feministisches Postulat sein. Aber ich will nicht unnötig unfair sein: Da die Fragestellung hier den Bereich verlässt, in dem die Frage allein ist, ob es sich bei der feministischen Linguistik um gute Wissenschaft handelt (Antwort: nein, es handelt sich, zumindest in der radikalen Form, entweder um grotesk schlechte Wissenschaft oder um gar keine), und in die Frage übergeht, wie wir gesellschaftlich miteinander umgehen wollen, um Gleichstellung zu erreichen, gebe ich zu, dass Berufsbezeichnungen ein vergleichsweise sensibles Gebiet sind, bei dem im Zweifel lieber einmal zu viel gegendert werden sollte als zu wenig. Den obigen Fall würde ich aber noch nicht dazu rechnen.

Wenn der obige Satz generisch gemeint war und von der Rezipientin als generisch verstanden wurde, stellt sie sich eben gerade keine Männer vor, sondern abstrahiert völlig vom Geschlecht und denkt nur an "Leute", die den Anwaltsberuf ausüben. Wenn es generisch gemeint war, die Frau es aber nicht so versteht, dann müssen spezifische persönliche oder im Kontext liegende Gründe vorhanden sein, warum die Frau den Begriff "Anwälte" gegen die Intention des Sprechers geschlechtlich auflädt. Das ist ein in der Kommunikation unerwünschter Effekt, aber auch nichts um jeden Preis Vermeidenswertes. Es wird von der Hörerin eine vom Sprecher nicht intendierte Konnotation aktiviert, na und? Das passiert in jeder normalen Unterhaltung dauernd. Dein Beispielsatz ist aber sicher kein politischer oder kommunikativer Hochrisikosatz, Fettnäpfchengefahr sehr gering. Solange der Sprecher keine Gründe kennt, die es bei seiner besonderen Rezipientin ratsam erscheinen lassen zu gendern, drückt der obige Satz das Gemeinte einfach besser (nämlich geschlechtsneutral) und kürzer aus als der gegenderte.

Aber nehmen wir den Satz in "geschlechtergerechter" Sprache: "Ich werde mich mit meinen Anwältinnen und Anwälten besprechen." Im besten Fall begreift die Rezipientin die Doppelnennung einfach als Variante des generischen Maskulinums, obwohl sie das eigentlich nicht ist. Denn die überflüssige doppelte geschlechtliche Markierung kann auch stutzig machen: "Wozu muss ich wissen, dass der Sprecher anwaltlichen Beistand von Männern und Frauen hat. Welches Signal sendet er damit aus?" Wahrscheinlich gar keins, aber in solchen Fällen entsteht jetzt regelmäßig (durch die Markierung bedingt) eine Kognitionslücke, die gewiss nicht kleiner ist als die im Einzelfall auftretende beim generischen Maskulinum. Wobei mir diese Lücke genau so egal ist wie die andere. Beim Kommunizieren gibt es halt hin und wieder was zu denken.

Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Natürlich kann sich das mit Meta-Motiven verbinden, z.B. 1) eine Position zu beziehen für geschlechtergerechte Sprache, was auch andere dazu ermutigen soll ("seht her, ich mache mit bei diesen Spiel, tut es mir gleich"), 2) sich als "Ally" profilieren ("seht her, ich mache mit bei diesem Spiel, ich bin toll") usw.

Das halte ich auch für einen interessanten Aspekt, wie Du weißt. Weißt Du, ob dazu schon mal jemand was geschrieben hat?

(continuabitur)

Homer

#41
Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Kein/e Wissenschaftler/in ist vorurteilsfrei. Natürlich liegen der Auswahl von Untersuchungsgegenständen bestimmte Nachweisabsichten zugrunde.

Das ist ein brandgefährliches Statement, das zumindest einiger notwendiger Ergänzungen bedarf. Ich weiß auch, dass einzelne Wissenschaftler persönliche und fachliche Vorurteile und Vorannahmen mitbringen, wenn sie zu forschen beginnen. Sie haben auch ein Erkenntnisinteresse, das sich etwa in einer Arbeitshypothese äußern kann. Aber Vorannahmen und Erkenntnisinteresse sind deutlich von jeder Form von bias zu unterscheiden, wie sie die feministische Linguistik kennzeichnet. Um es pointiert zu sagen: Auch der (notwendigerweise) vorurteilsbehaftete Wissenschaftler muss und kann vorurteilsfreie Wissenschaft machen. Wir haben zwischen der unvermeidlichen persönlichen Vorurteilsbehaftetheit des Einzelnen und der anzustrebenden systemischen Vorurteilsfreiheit der scientific community zu unterscheiden. Schon der einzelne Wissenschaftler ist aufgefordert, sich nach Kräften gegen seine eigenen Vorurteile zu wehren, indem er seine Thesen bewusst Belastungstests durch Gegenthesen aussetzt (wir beide tun das gerade gegenseitig). Wichtiger ist aber, dass die systemische Interaktion der einzelnen Vorurteilsträger die Wissenschaft in der Summe vorurteilsfrei macht. Das funktioniert aber nur, wenn dieses System ungelenkt ist, d.h. wenn es auf keine politischen, gesellschaftlichen oder ideologischen Nachweisinteressen von seiten Dritter verpflichtet ist. In autoritären Staaten können deshalb weite Wissenschaftsbereiche nicht vorurteilsfrei sein. Wenn die feministischen Linguistinnen sich schon selbst als akademischen Arm der Frauenbewegung begreifen, die eine auf Veränderung und nicht auf Erkenntnis ausgerichtete Agenda hat, geben sie kund, dass sie eines auf keinen Fall wollen: mit ihrer ihnen zuzugestehenden Voreingenommenheit an einem insgesamt vorurteilsfreien Wissenschaftssystem mitzuarbeiten. Es wäre ja auch der Tod ihrer "Wissenschaft", wenn sie bereit wären, sich echt wissenschaftlichen Selbstregulierungsmechanismen zu unterwerfen, weil sie dann schon die deskriptive Basis, auf der sie ihre Forderungen – wo gibt es sonst eine Wissenschaft, deren Endzweck nicht das Erkennen, sondern das Fordern ist? – gründen, in die mit unendlicher Perspektive arbeitende Objektivierungsmaschine Wissenschaft einbringen müssten und zum Fordern gar nicht mehr kämen. Das Verfahren der Wahl ist also, sich überall das zusammenzusuchen, was die eigene Agenda zu unterstützen verspricht und alles andere auszublenden. Wählerisch kann man da natürlich nicht sein. Sicher sind nicht alle feministischen Linguistinnen gleich – es gibt wohl auch unter ihnen welche, die noch bereit sind, die eigenen Positionen in Frage zu stellen oder stellen zu lassen. Aber die Neigung zu starker moralischer Empörung, deftigem verbalen Umgang mit Andersdenkenden, autoimmunisierenden Argumentationsstrategien ("du als Mann merkst es doch oft gar nicht, wenn du Frauen diskriminierst" = "bleib draußen aus unserem Diskurs, du kannst nicht mitreden, du bist keiner von uns, du störst") und fortwährendem Bedarf an wechselseitiger gruppeninterner Bestätigung, also einen seiner Struktur nach autoritären Habitus, kann man im Netz wunderbar beobachten.

Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
(An sich selbst so bezeichnenden feministischen Linguistinnen schätze ich u.a. die Unverhohlenheit ihrer Absichten.)

Wirklich unverhohlen wären ihre Absichten erst dann, wenn sie zugäben, dass ihnen die Qualität ihrer deskriptiven Basis eigentlich völlig egal ist.

Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Ich warte mit Spannung darauf, dass die Gegenseite Experimente designt, die empirisch genauer zeigen können, unter welche Umständen generische Maskulina problematisch sind und unter welchen nicht.

Die Sprachwissenschaft, die ich meine und die für die Frage nach den Leistungen des generischen Maskulinums zuständig ist, "designt" aus guten Gründen keine "Experimente", sondern wertet Corpora aus. Man kann schon irgendwo auf den ersten Seiten in Saussures Cours nachlesen, dass bei Fragen des Sprachsystems keine psychologischen Überlegungen weiterhelfen.

Zitat von: Kilian in 2015-06-11, 20:18:58
Weil, dass der Sprachgebrauch (das Vokabular ist eher der langue zuzuordnen, oder?) die Wahrnehmung der Wirklichkeit bei denen mitprägt, hat die Studie ja gezeigt.

Glaubt sie vielleicht gezeigt zu haben, hat sie aber nicht. Ich habe sie jetzt online einsehen können. Sie ist linguistisch völlig unbedarft. Außer der Differenzierung in "pair forms" und "generic masculine forms" findet keine weitere sprachwissenschaftliche Grundlegung oder Differenzierung statt. Auch wird nicht diskutiert – was ich unbedingt erwartet hätte –, was die Abstraktionsleistung, die bei der Wahrnehmung des generischen Maskulinums zu erbringen ist, in dem Alter, in dem die Kinder sind, in Relation zu ihren altersgemäßen Abstraktionsfähigkeiten bedeutet und ob da nicht erhebliche Unterschiede zwischen 6- und 12-Jährigen bestehen. So kommt eigentlich nur heraus, dass die Ergebnisse differieren, je nachdem ob man versucht, die Kinder eine Abstraktion vollziehen zu lassen, die sie nur unvollkommen leisten können, oder ob man altersgerecht überexplizit wird. Das ist kein völlig uninteressantes Ergebnis, aber überhaupt keine Bestätigung für irgendeine These der feministischen Linguistik, wie das KK haben will. Ich habe also keine Kinder als Sprecher abgewertet, sondern nur die Verallgemeinerungsfähigkeit der Studie bezweifelt.

Zitat von: Kilian in 2015-06-11, 20:18:58
Im Rahmen der Studie wurde die Welt doch bereits geändert, im kleinen Maßstab, in den Köpfen der Kinder. Dass das auch im größeren Maßstab funktioniert, ist damit natürlich nicht zweifelsfrei erwiesen. Aber das Ergebnis deutet zumindest in die Richtung.

Nein, auch die Welt der Kinder hat sich nicht geändert (die der "generischen" Gruppe ohnehin schon einmal überhaupt nicht). Die Studie wollte etwas ermitteln, nicht verändern. Das hat sie getan, nicht mehr. Es wäre auch unseriös von den Psychologen, etwas anderes zu behaupten. Es wird lediglich die Vermutung ausgesprochen, dass das Verwenden von "pair forms" gegenüber Kindern dieser Altersstufe das Selbstvertrauen insbesondere von Mädchen, männliche Berufe ergreifen zu können, künftig steigern könnte. Das ist ein eigenartiger Gedanke. Warum kommt man nicht auf das viel näher Liegende? Nicht ein niedrigeres Selbstvertrauen wird durch Gendern gesteigert, sondern das bereits vorhandene höhere Selbstvertrauen wird altersgerecht nur durch die expliziteren und damit verständlicheren Formen voll aktiviert. Effektiv kommt das auf dasselbe hinaus, gewiss, aber man braucht dann nicht die a priori unwahrscheinliche These, dass mit Sprache die Welt zu ändern ist.

Zitat von: Kilian in 2015-06-11, 20:18:58
Bei der Euphemismus-Tretmühle geht es um negativ konnotierte Begriffe, was hat das mit unserem Thema hier zu tun?

Eine ganze Menge. Da wir hier nicht über semantische, sondern über morphosemantische Fragen sprechen, könnte man auch einen neuen Terminus erfinden, aber wozu? Der Mechanismus ist derselbe: Man kann vermuten, dass etwa nominalisierte Formen wie Studierende mit der Zeit dazu neigen werden, wiederum eher männlich belegt zu werden: "Die Frage ist, ob die Pluralformen der nominalisierten Adjektive und der Pronomen wirklich so sexusneutral sind, wie sie scheinen. Es gibt Anzeichen dafür, dass es eine verstärkte Tendenz gibt, solche Pluralformen einseitig auf die maskulinen Singulare zu beziehen, die sowohl sexusindifferent als auch sexusspezifisch verwendet werden kön‐ nen" (Peter Gallmann, 2014). Da aber die Euphemismus-Tretmühle, egal, wie Du sie definierst, auf jeden Fall im Lexikon wirkt, und hier klar ist, dass negative gesellschaftliche Verhältnisse gezielte Spracheingriffe, die zu ihrer Veränderung beitragen sollen, mühelos überleben, ist nicht einzusehen, warum es beim generischen Maskulinum andersherum sein soll.

Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Siehe meine obigen Ausführungen zu "Missverständnis". Dass man Effekte dieses Sprachgebrauchs (insbesondere als Mann) nicht bemerkt, bedeutet nicht, dass sie nicht existieren.

Ich könnte Anhaltspunkte dafür anführen, dass meine Selbsteinschätzung stimmt. Aber ich sage doch einfach, dass ich das Argument nicht ganz fair finde und deshalb nicht darauf eingehen möchte (s.o.).

Wortklaux

Zitat von: Homer in 2015-06-13, 18:43:04
2. Jetzt im Ernst: Niemand wird vernünftigerweise bestreiten wollen, dass Männer und Frauen grundsätzlich gleich starke kognitive Kompetenzen haben.
Welcher Vernunftbegriff liegt dieser Aussage eigentlich zugrunde?

Homer


Kilian

#44
Zitat von: Homer in 2015-06-13, 18:43:04
Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Erstens gibt es das Argument der höheren kognitiven Bürde für Frauen (s.o.).

Ja, das Argument gibt es. Es ist aber – mit Verlaub – so evidenter Nonsens, dass ich mich frage, warum es dauernd wiederholt wird:

Da habe ich wohl nicht klar genug gemacht, was ich meine.

Zitat1. Polemisch: Ich wundere mich, dass Feministinnen eine so geringe Meinung von den kognitiven Fähigkeiten ihrer Geschlechtsgenossinnen haben. Könnte mir nicht passieren.

Das ist nicht nur polemisch, das zielt auch völlig an dem Argument vorbei, wie dir sicher klar ist.

Zitat2. Jetzt im Ernst: Niemand wird vernünftigerweise bestreiten wollen, dass Männer und Frauen grundsätzlich gleich starke kognitive Kompetenzen haben. Wenn ich nun beispielsweise in einem Vortrag vor gemischtem Publikum einen Satz sage wie "Griechische Liebesdichter gebrauchten bestimmte lyrische Metra", dann ist die kognitive Bürde für Frauen wie Männer im Auditorium offensichtlich gleich hoch, vorausgesetzt sie stellen sich die Frage überhaupt, ob ich Sappho ein- oder ausschließen wollte (eine Frage, auf die man wohl nur mit feministischer Vorprägung kommt, was wiederum die Frage aufwirft, ob die feministische Linguistik die von ihr postulierte Kognitionslücke nicht überhaupt erst herbeiredet). Oder gibt es irgendeinen Grund, warum sich Frauen die Sappho-Frage eher stellen sollten als Männer, außer vielleicht wiederum dem eines feministischen Interesses? Das kann natürlich legitim sein, aber dann ist die höhere Bürde der Kognition selbstgeschaffen. Wenn ich mir eine Frage stelle, die sich andere nicht stellen, weil sie fernliegt – wie hier –, habe ich einfach mehr nachzudenken, das kann jeder selbst entscheiden. Man kann sich bestimmt Fälle ausdenken, in denen der Zweifel größer ist, aber in normalen Kontexten kommen Frauen und Männer beim Hören immer in gleicher Weise ins Grübeln oder nicht.

Ob es schwieriger wird – und das ist vermutlich bei dieser These eher gemeint –, wenn gemischte Gruppen angesprochen werden? Nehmen wir folgenden Fall: Ich halte einen Vortrag vor einem geschlechtlich gemischten Publikum von Studenten und Nicht-Studenten. Um den Zweifelsfaktor des Beispiels zu erhöhen, sei angenommen, der Vortrag drehe sich um das Verhältnis von Genus und Sexus, das Thema ist also in den Köpfen des Publikums. Nun sage ich: "Alle Studenten verlassen bitte den Raum!" Die männlichen Studenten wissen nun genau, dass sie gemeint sind, die weiblichen nicht. Sie wissen nicht, ob "Studenten" im Gegensatz zu "Studentinnen" steht oder zu "Nicht-Studenten". Aber ist das ein Fehler des generischen Maskulinums selbst? Mitnichten, es ist ein Fehler, den man in der Pragmatik behandeln würde, die sich mit grammatisch enkodierten Kontextbezügen beschäftigt. Der Fehler liegt bei mir, weil ich mich unklar ausgedrückt habe. Ich hätte das generische Maskulinum hier einfach nicht ohne Setzung weiterer Signale benutzen dürfen, weil die Gefahr des Missverständnisses im Raum lag.

Das Argument der kognitiven Bürde greift in der Tat nur in Situationen, in denen der die Rezipient/in zum Verstehen gefordert ist, einen Bezug zwischen sich selbst und der referenzierten Personengruppe zu ermitteln, z.B.: Gehöre ich zu den Leuten, die aufgefordert sind, den Raum zu verlassen? Wenn nun nicht alle Sprecher/innen sehr sorgfältig vermeiden, das generische Maskulinum in solchen Situationen zu vermeiden, ist klar, dass systematisch immer wieder Situationen auftreten, in denen die Frauen, um diese Bezugsermittlung zu leisten, ein zusätzliches Denkproblem lösen müssen, das sich den Männern nicht stellt.

Die Klasse von Situationen, die zur Ermittlung solcher persönlichen Bezüge einladen, erschöpft sich nicht in direkten Ansprachen. Auch wenn irgendwas über Personengruppen gesagt wird, wird man oft ermitteln wollen, ob man zu diesen Personengruppen gehört, etwa um das Gesagte zu beherzigen oder sich dazu zu verhalten. Alle Linguisten sind Idioten ist so ein Beispiel, falls Linguist/inn/en zuhören ­– falls nicht, dann nicht, aber das ändert ja nichts an der Tatsache, dass es solche Beispiele zur Genüge gibt. Und man kann auch argumentieren, dass dein Beispiel mit den griechischen Dichtern dazugehört: hier ist der herzustellende Bezug nicht der der Zugehörigkeit zu einer Personengruppe, aber möglicherweise der der Identifikation – Menschen identifizieren sich glaubich leichter mit Personen desselben Geschlechts, womit wir wieder dicht bei den Feuerwehrmännern und Astronauten wären.

ZitatJetzt wirst Du sagen, es könnte Fälle geben, in denen jemand sich bemüht, sich klar auszudrücken und sicher ist, das generische Maskulinum erfülle diese Anforderung, aber trotzdem von Teilen der Hörerschaft missverstanden wird. Ich will das gern ernsthaft diskutieren und nicht einfach wegreden, habe aber große Schwierigkeiten, mir solche Fälle in neutralen, d.h. nicht feministisch (im Experimentsinne) "verunreinigten" Kontexten vorzustellen. Aber nehmen wir an, es gelänge, einen solchen Fall zu beobachten oder zu konstruieren – dann bliebe es doch ein ganz normales kommunikatives Missverständnis, das auf einer falschen Einschätzung des Sprechers von der gemeinsamen linguistischen Verstehensbasis mit den Rezipienten beruht. Es ist systematisch-pragmatisch nicht anders zu bewerten, als wenn ich ironisch spreche, die Ironie aber nur von einem Teil der Hörer verstanden wird. Auch hier habe ich unwissentlich die kognitive Bürde für manche Hörer erhöht, die weniger sensibel für diese Signale sind.

In deinem Beispiel mit dem Raum-Verlassen liegt eine globale Ambiguität vor: Aus der Äußerung kann man wirklich nicht klar schließen, was der Dozent meint. Ein "zusätzliches Denkproblem" für die Frauen liegt aber auch dann vor, wenn jeder klare Verstand innerhalb von Sekundenbruchteilen und vermutlich unbewusst die Ambiguität auflösen kann. Zum Beispiel wenn eine Universität, wie bis vor einigen Jahren vielerorts ja üblich, "alle Studenten" auffordert, sich bis zum soundsovielten Soundsovielten zurückzumelden. Auch das ist problematisch, aus denselben Gründen: Frauen wird hier jedes Mal eine Disambiguierungsleistung abverlangt, so trivial sie auch jedes Mal sein mag, die die Männer sich jedes Mal sparen können.

Also, unwissentlich kannst du von jetzt an durch generisches Maskulinum die kognitive Bürde zum Verstehen deiner Äußerungen für Frauen nicht mehr erhöhen, you have been warned – es sei denn, du wärest dir ganz sicher, dass deine Zuhörer/innen zum Verstehen deiner Äußerungen nicht nach einem Bezug zwischen sich und der genannten Personengruppe suchen werden, und täuschtest dich.

ZitatNiemand käme deshalb auf die Idee zu behaupten, Ironie diskriminiere Leute, die für Ironie taub sind.

Ironieverstehen ist nicht Gegenstand irgendeiner mir bekannten bestehenden gesellschaftlichen Antidiskriminierungsübereinkunft, Geschlecht schon.

ZitatMissverständnisse passieren dauernd, niemand regt sich darüber auf, man klärt sie eben hinterher schnell auf.

Wie ich nicht müde werde zu sagen, es geht nicht um mögliche Missverständnisse, es geht auch um still vorübergehende kognitive Bürden.

ZitatNur beim generischen Maskulinum diskutieren wir über maternalistische sprachpolizeiliche Maßnahmen

Wieso sprachpolizeilich? Du kannst doch öffentlich schreiben, wie dir die Feder gewachsen ist, nur nicht unbedingt überall.

Zitatdie solche harmlosen Hänger im Kommunikationsprozess von vornherein verhindern sollen, weil angeblich ausgerechnet diese Art Hänger diskriminiert. Eine hin und wieder mal notwendige Millisekunde zusätzlichen Gehirnschmalzverbrauchs rechtfertigt die Forderung nach Abschaffung einer grammatischen Kategorie, die zum Reichtum der Ausdrucksmöglichkeiten beiträgt?

Ich kritisiere nicht, dass hin und wieder mal eine Millisekunde zusätzlichen Gehirnschmalzverbrauchs nötig wird. Ich kritisiere, dass das systematisch Frauen betrifft und Männer nicht. Das lässt sich auch anders ändern als durch Abschaffung des generischen Maskulinums. Wer fordert die überhaupt? Selbst Sprachlog-Autorin Kristin Kopf (der Artikel, den wir hier diskutieren, ist übrigens von Anatol Stefanowitsch und nicht, wie du schreibst, von ihr) verwendet es in ihrem Buch ständig - nur eben im Wechsel mit einem generischen Femininum.

ZitatDas bloße Inkaufnehmen der Möglichkeit, selbst bei allerbestem Willen zur Klarheit missverstanden werden zu können, ist bereits diskriminierend?

Nein. Noch einmal, es geht nicht um Missverständnisse.

ZitatIch, sprachlich und kommunikativ kein unsensibler Klotz (glaube ich), diskriminiere mit dem generischen Maskulinum also Frauen, ohne es zu merken, gegen meine stabile antidiskriminatorische Überzeugung?

Es wird oft so getan, als wäre man, weil man, auch ohne es zu wollen oder auch nur zu merken, einige diskriminierende Verhaltensweisen aufweist, automatisch ein schlechter Mensch und müsse zur Hölle fahren. Quatsch. Niemand ist hundertprozentig frei davon, das halte ich für unmöglich. Der Autor plomlompom hat es schön auf den Punkt gebracht: "Schaut her, ich hab bestimmt ein paar rassistische, sexistissche, nazistische, antisemitische Meme in meinem Kopf. & mich trifft kein Blitz!" Das unterschreibe ich für mich ebenfalls. Wenn man das akzeptiert, ist es glaubich viel leichter, solche Meme und Verhaltensweisen aufzuzeigen und in Ruhe zu diskutieren. Nichts von dem, was ich schreibe, soll eine bittere Anklage oder eine Verurteilung sein.

ZitatWas ist denn das für eine irrwitzige, inflationäre Aufladung dieses Wortes?

Weder in der DGPs-Pressemitteilung noch im Sprachlog-Beitrag kommt das Wort diskriminieren auch nur einmal vor, außer in letzterem als Tag. Verstehst du jetzt, dass ich das Gefühl habe, dass du in diese Veröffentlichungen etwas reinliest, was da nicht steht?