Rechtschreibreform

Begonnen von VerbOrg, 2006-02-23, 18:39:11

Vorheriges Thema - Nächstes Thema

VerbOrg

Also schrieb Dr. Hermann Schrader 1894 über die Rechtschreibreform:

Es ist ja freilich wahr, daß in unsrer Rechtschreibung eine heillose Verwirrung herrschte. Wie hat es nur dahin kommen können? Weil so Manche, welche einige Sprachstudien betrieben hatten, sich zu Reformatoren berufen hielten, wenn ihnen auffallende Erscheinungen entgegentraten, und lieber verbessern mochten als den Grund des Bestehenden, ihnen Auffallenden zu erforschen. Haben wir doch erleben müssen, daß man im vollen Ernst behauptete, Zeichnenstunde und Rechnenbuch sei richtiger als Zeichenstunde und Rechenbuch. Die klugen Leute kannten aber das Gesetz nicht, nach welchem unsre Sprache Zeitwörter und Hauptwörter zusammensetzt, sonst hätten sie müssen ja auch Reitenstunde, Kehrenbesen u. s. w. sagen. So ist's auch mit der deutschen Rechtschreibung. Diese ist ein organisches Gebilde, hervorgewachsen aus den Eigenthümlichkeiten und Bedürfnissen gerade unsrer Sprache; und es ist absolut verkehrt, hier den Maßstab andrer Sprachen anlegen zu wollen. Es würde hier zu weit führen, dies ausführlich zu beweisen; aber lebhaft beklagen muß ich derartigen Rückschritt, wie er jetzt geschieht. Da sollen wir jetzt den musikalischen Ton nicht mehr vom Töpferthon, den Thau der Nacht nicht vom Schiffstau unterscheiden; wie sollen die Worte: in Folge, im Stande, in Angriff, in Aussicht, auf Grund als Präpositionen oder Adverbien ansehen und schreiben: infolge, imstande u. s. w. Und daß es ehrliche, richtige Hauptwörter sind und als solche gedacht werden, geht doch daraus hervor, daß wir Eigenschaftswörter hinzusetzen; sollen wir da auch schreiben insteterfolge, innaheaussicht, inernstenangriff? Muß ein Freund der Sprache und der Wissenschaft nicht trauern, wenn solche willkürliche Aenderungen gar für Verbesserungen ausgegeben werden?

... to be contineld

Auffallend, dass der Rechtschreibrat in einigen Punkten (getrennt und auseinander Schreibung) wieder zu alt Hergebrachtem zurück gekehrt war und da rüber nicht weniger geklagt wird wie damals... mit der Folge, dass nun vermutlich doch wieder die Zusammen- und Beieinanderschreibung zurückkommen soll...

VerbOrg

Ich hatte ja ein neudeutsches Siegfell angekondegen. Hier isses:

– Und seit nun die sonst so trefflichen und so gut deutsch gesinnten Grimm's die Laune gehabt haben, lateinische Schriftzeichen und Ausmerzung der großen Anfangsbuchstaben anzuwenden und viele Nachahmer finden, kann ich auch hier nicht umhin zu beklagen, daß sie leider das Eine übersehen haben, daß gerade unsere deutsche Sprache und Rechtschreibung der großen Anfangsbuchstaben bedarf. Durch diese unterscheiden wir Weine und weine, Träume und träume. Wir aßen alle erdbeeren – sind das alle Erdbeeren oder wir Alle? – Wenn wir lesen: recht sprechen: soll das heißen richtig reden oder ein richterliches Urtheil fällen? – Ich habe einen genossen – heiße das: habe einen kleinen Schnaps getrunken oder ich habe einen Gefährten? – Aehnlich zweideutig ist: der lange ersehnte (longus oder longe), der bange erwartete u. s. w. – es lieben einige rappen, einige schimmel, oder: es lieben einige braune, einige blonde. Soll das heißen, daß etliche Rappen und Schimmel, etliche braune und blonde Mädchen Liebesgefühle hegen? Wie verständlich ist Alles, wenn wir ,,Einige" schreiben. – Wenn Schiller sagt: führe den alten dichter in den Wald: ist da ein alter Poet gemeint oder: weiter in den Wald? – Kein Dichter darf fortan mehr nach Schiller'scher Art schreiben: in der Hohen Gnade, in der Mächtigen Gunst; denn wenn es künftig geschrieben werden soll: in der hohen gnade, in der mächtigen gunst, so muß erst ein Apollo kommen, der aus dem orakelhaften, scheinbar sinnlosen Ausdruck den richtigen Sinn herausgrübelt. – Wenn wir lesen: der verfolgte floh: ob da nicht erst ein Lächeln über die Lippen fliegt, bevor wir errathen: der Verfolgte floh nach Amerika? (...) Wäre es denn ein zu hartes Wort, wenn man eine solche Aenderung keine Recht-, sondern Schlechtschreibung nennen möchte?

Damit wäre gezeigt, dass die Zeitung mit den vier Buchstaben (nicht Welt, aber der Verlag stimmt) NICHT die Begriffe ,,Schlechtschreibung" bzw. ,,Schlechtschreibreform" erfunden hat. Herr Schrader las sich bestimmt noch nicht blöd.

Kilian

Ein Hoch dem Kapital! Dem initialen. Bei Substantiven. Bei rappen dachte ich erst, Schrader bezöge sich hier auch die Zweidaut zwischen Substantiv und Verb. Das hätte mich gewundert. 112 Jahre später - ein Argument mehr!