Gesellschaft zur Stärkung der Verben

Öffentliche Bretter => Sprache => Thema gestartet von: Homer in 2015-05-03, 11:07:15

Titel: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-05-03, 11:07:15
[EDIT Kilian 2015-03-04: Thema getielen und Titel geornden.]

Zitat von: VerBot in 2015-05-02, 23:57:09
Kilian hält dagegen, dass psycholinguistische Studien konsistent belegen, dass das Maskulinum heutzutage nicht geschlechtsneutral verstanden wird, unabhängig davon, wo es sprachgeschichtlich herkommt.

... wogegen sich wiederum allerhand sagen ließe (vor allem gegen die Vorstellung, dieses Argument sei, selbst wenn es stimmt, irgendwie relevant für die Frage der sprachlichen "Geschlechtergerechtigkeit") ...

Titel: Re: Re: PerVers XIX
Beitrag von: Kilian in 2015-05-03, 12:55:47
Zitat von: Homer in 2015-05-03, 11:07:15
Zitat von: VerBot in 2015-05-02, 23:57:09
Kilian hält dagegen, dass psycholinguistische Studien konsistent belegen, dass das Maskulinum heutzutage nicht geschlechtsneutral verstanden wird, unabhängig davon, wo es sprachgeschichtlich herkommt.

... wogegen sich wiederum allerhand sagen ließe (vor allem gegen die Vorstellung, dieses Argument sei, selbst wenn es stimmt, irgendwie relevant für die Frage der sprachlichen "Geschlechtergerechtigkeit") ...

Dass es stimmt, scheint ja nun belegen. Dass es relevant ist, scheint mir auch offensichtlich: Wenn wir durch den Gebrauch generischer Maskulina ständig in den Hörerinnen und Hörern die Vorstellung erzeugen, es gehe nur um Männer, z.B. wenn wir über die ,,Entwickler" in einem Softwareunternehmen reden, trägt das sicher nicht dazu bei, dass Entwicklerinnen sich in so einem Unternehmen willkommen fühlen und von anderen als genau so dazugehörig akzeptiert werden wie Männer.
Titel: Re: Re: PerVers XIX
Beitrag von: Wortklaux in 2015-05-03, 13:54:55
Dann lass doch mal Worten Taten folgen und führe wenigstens in deinem Machtbereich geschlechtsneutrale Wörter (Administrax, Zenx, Gax für Administrator, Zensor, Gast) ein. Dann kekünne man einmal sehen, ob es nach kurzer Zeit hier von den weiblichen Mitglix wimmelt, die bisher hier abgeschrocken wurden.

(P.S. habe gerade versucht, eine geschlechtsneutrale Antwort auf die Spamschutzfrage zu geben, aber das System ist offensilcht diskriminierend eingestollen und akzeptiert nur weibliche Chronometer.
Titel: Re: Re: PerVers XIX
Beitrag von: Homer in 2015-05-03, 14:57:42
Das wäre jetzt eine sehr lange Diskussion. Ich wundere mich nur sehr darüber, in welchem Ausmaß es den Psycho-Leuten gelungen ist, die Debatte mit einem Argument zu usurpieren, das allenfalls von sehr untergeordneter Bedeutung ist. Was haben sie bewiesen? Dass der Genusgebrauch bei Personen eine nicht unbeträchtliche Korrespondenz zum Sexus aufweist? "Der Mann, die Frau": Donnerwetter, darauf wäre ich nicht gekommen! Haben sie damit auch widerlegt, dass Genus und Sexus zwei klar distinkte Kategorien sind, die es in der Diskussion sauber zu trennen gilt? Natürlich nicht. Einer der häufigsten Denkfehler in der Wissenschaft ist es zu glauben, wenn eine Korrelation zwischen zwei Kategorien aufgezeigt wurde, die Kategorien in eins fallen lassen zu können. Was lehrt uns die frappierend pauschale Feststellung, das generische Maskulinum lasse in der Tendenz ein wenig mehr an Männer als an beide Geschlechter denken, über sein Diskriminierungspotenzial? Rein gar nichts, solange man nicht sorgfältig differenziert.

Und damit sind wir überhaupt erst am Anfangspunkt aller weiteren Überlegungen und nicht, wie diese Leute suggerieren wollen, schon bei einem Ergebnis. Dann fangen wir mal an mit den Einzelheiten und sprechen über die asymmetrischen Grade von geschlechtlicher Markiertheit, die Maskulinum und Femininum aufweisen (das Maskulinum ist, eben aus historischen Gründen, im Mittel schwächer geschlechtlich markiert als das Femininum, weshalb das Pendant zu stark markiertem "Studentinnen" "männliche Studenten" ist); über die Graustufen dieser Markiertheit innerhalb des Maskulinums; über die unterschiedliche Markiertheit von Singular (stärker) und Plural (schwächer, schon morphologisch bedingt); darüber, dass das Sprachsystem, die langue, allein gar nicht diskriminieren kann, sondern Sprecher braucht, die es tun; über das Gricesche Kooperationsprinzip, nach dem es keine gute Idee ist, dem anderen in einer rationalen Kommunikation ohne gute Gründe zu unterstellen, er wolle diskriminieren; dann über die zahllosen Fälle, in denen das generische Maskulinum offenkundig zugleich konkurrenzlos praktisch und im Diskriminierungssinne völlig unschädlich ist. Z.B. formulierst Du m.E. unnötigerweise "Hörerinnen und Hörer", da die männliche Markierung in "Hörer" schwach genug ist, um in einer Kommunikation unter Gutwilligen keine Missverständnisse zu erzeugen. Es wäre unter normalen Bedingungen ein destruktives Kommunikationsverhalten, hier wider besseres Wissen monieren zu wollen, Frauen seien nicht mitgenannt. Die dominanten Merkmale sind – jedenfalls in Deinem Satz – semantisch "hören", davon nomen agentis, davon Plural. Und ob Frauen mitgenannt sein sollen oder nicht, entscheidet nicht die langue oder Leute, die glauben, ihre Regeln bestimmen zu können, sondern der Sprecher.

Bei Deinem Beispiel "Entwickler" in einem Softwareunternehmen kommt es nun sehr darauf an, in welchem Zusammenhang das generische Maskulinum angewendet wird. Ist es in der Stellenausschreibung, dann ist es offenkundig entscheidend wichtig zu betonen, dass auch Entwicklerinnen eingestellt werden. Hier sind wir in einem Bereich, der sehr sexus-empfindlich ist. Formuliere ich dagegen den Satz "die besten meiner Entwickler sind Frauen", dann ist das generische Maskulinum erstens enorm praktisch und zweitens völlig frei von jedem Verdacht der Diskriminierung, die zu unterstellen schon der Sinn des Satzes verbietet. Dazwischen gibt es sicher jede Menge Graustufen, bei denen je nach Beteiligten und Zusammenhang im Griceschen Sinne das Gelingen der Kommunikation durch die Wahl des generischen Maskulinums entweder in Gefahr geraten könnte oder nicht. Das wird in der parole praktisch ausgehandelt, dazu brauche ich keine pauschale Holzhammervorschrift. (Ich als Verwender des generischen Maskulinums dort, wo "Mann" schwach markiert ist, bin übrigens noch nie in meinem Leben auch nur einmal in ein genusbedingtes kommunikatives Missverständnis geraten. Das zeigt mir, wie künstlich die Debatte ist.)

Dass über die Frage "Diskriminierung oder nicht" in jedem Einzelfall befunden werden muss und das Sprachsystem darüber nicht entscheiden kann, mag folgendes Beispiel verdeutlichen: Einer meiner akademischen Lehrer bezeichnete Schwarze konsequent als "Neger". War das rassistisch? In seinem Fall sicher nicht, denn er verwendete das Wort in Sätzen, in denen er mit den wärmsten Worten über die "Neger" sprach. Er war jahrelang in Afrika gewesen, hatte die Leute sehr eindeutig liebgewonnen und war Vorsitzender eines deutsch-afrikanischen Freundschaftsvereins.

Mein Plädoyer wäre also, als Sprecher wie als Hörer aufmerksam zu sein erstens gegenüber den in den einzelnen Wörtern liegenden verschiedenen Graden geschlechtlicher Markiertheit ("Feuerwehrmänner" ist potentiell stark, "Griechen" schwach männlich markiert) und zweitens der Wirkung, die diese Grade von Markiertheit in jeder einzelnen Äußerung im Zusammenhang entfalten. Dann kann man auch von Fall zu Fall ohne Diskriminierungsverdacht die Möglichkeiten nutzen, die das generische Maskulinum bietet, um bestimmte Sachverhalte eleganter, praktischer und kürzer zu formulieren. Eine Notwendigkeit, die ganze Straßenverkehrsordnung umzuschreiben, um lauter eindeutig sehr schwach oder überhaupt nicht männlich markierte Maskulina durch angeblich "geschlechtergerechtere" Formen zu ersetzen, kann ich nicht erkennen. Der (im Grunde für verständige Leser überflüssige) Hinweis, wo nicht ausdrücklich anders vermerkt, seien immer alle Geschlechter gemeint, hätte völlig genügt. Im übrigen: Frauen, die sich durch die alte Fassung der StVO tatsächlich persönlich (und nicht nur rollengemäß als Spielerinnen im Rahmen des feministischen Diskurses) diskriminiert fühlten, haben offenbar Probleme gesellschaftlicher oder persönlicher Art, die nicht durch Sprachbasteleien zu beheben sind. Es gehört nicht zu den Aufgaben von Sprache als System, gesellschaftliche Verhältnisse genau abzubilden oder ihrer Veränderung gar vorzuarbeiten. Auch die Naivität, mit der die Sapir-Whorf-Hypothese dafür ins Feld geführt wird, dass Sprache die Welt – hier: gesellschaftliche Verhältnisse – "abbilde" und ein bestimmter Genusgebrauch daher "sexistisch" sei (Kurzschluss Genus = Sexus, s.o.), ist erschreckend. Wenn Sprachwissenschaft so einfach wäre, wie sich das die "feministische Linguistik" vorstellt ...

Jetzt ist der Irrealis in meinem ersten Satz ad absurdum geführt. Na ja.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Kilian in 2015-05-05, 10:47:34
Ich will überhaupt niemandem Vorschriften machen und orte natürlich auch ein kooperatives Sprachverstehen befürw, das generische Maskulina erkennt und richtig interpretiert. Und obwohl ich mich tendenziell bemühe, sie zu vermeiden, kommt es durchaus vor, dass ich generische Maskulina verwende (und generische Feminina).

Ich denke angesichts der genannten psycholinguistischen Ergebnisse aber, dass die Verwendung generischer Maskulina keine optimale Wahl ist, wenn es darum geht, 1) sich möglichst klar auszudrücken und 2) (gerade als Mann) gegenüber Frauen höflich zu sein, denn Frauen erlegt die Ambiguität des Maskulinums eine höhere Bürde auf: Sie sind diejenigen, die ständig die kognitive Mehrleistung bringen müssen, sich zu fragen, ob sie selbst mitgemienen sind (hierzu ein guter Text von Antje Schrupp (https://www.fischundfleisch.com/blogs/panorama/nur-wer-frauen-benennt-meint-sie-auch.html)).

Muss man als Sprecherin selbst wissen, was einer wichtiger ist: die Vorteile des generischen Maskulinums (welche waren das noch mal?) oder die genannten beiden Punkte.
Titel: Re: Re: PerVers XIX
Beitrag von: Kilian in 2015-05-05, 13:26:19
Zitat von: Wortklaux in 2015-05-03, 13:54:55Dann lass doch mal Worten Taten folgen und führe wenigstens in deinem Machtbereich geschlechtsneutrale Wörter (Administrax, Zenx, Gax für Administrator, Zensor, Gast) ein.

Ich hog schon lange den Plan, die hier im Forum vergebenen Ränge bei als weiblich registrorenen Mitgliedern einmal zu verweiblichen, was auch der schönen Endung -trix mehr zu tun gibt. Die Forumssoftware unterstützt das leider nicht, wohl mit aufgrund ihrer englischsprachigen Herkunft, deswegen memuss ich etwas hacken. Ist (http://verben.texttheater.net/forum/index.php/topic,135.msg14896.html#msg14896) jetzt (http://verben.texttheater.net/forum/index.php/topic,2187.msg38245.html#msg38245) geschehen (http://verben.texttheater.net/forum/index.php/topic,3187.msg51911.html#msg51911).

ZitatDann kekünne man einmal sehen, ob es nach kurzer Zeit hier von den weiblichen Mitglix wimmelt, die bisher hier abgeschrocken wurden.

Es mag auch noch andere Faktoren geben, die diese Veranstaltung hier zu so einem sausage fest machen.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-05-05, 15:03:50
Zitat von: Kilian in 2015-05-05, 10:47:34
Ich will überhaupt niemandem Vorschriften machen und orte natürlich auch ein kooperatives Sprachverstehen befürw, das generische Maskulina erkennt und richtig interpretiert. Und obwohl ich mich tendenziell bemühe, sie zu vermeiden, kommt es durchaus vor, dass ich generische Maskulina verwende (und generische Feminina).

Ich denke angesichts der genannten psycholinguistischen Ergebnisse aber, dass die Verwendung generischer Maskulina keine optimale Wahl ist, wenn es darum geht, 1) sich möglichst klar auszudrücken und 2) (gerade als Mann) gegenüber Frauen höflich zu sein, denn Frauen erlegt die Ambiguität des Maskulinums eine höhere Bürde auf: Sie sind diejenigen, die ständig die kognitive Mehrleistung bringen müssen, sich zu fragen, ob sie selbst mitgemienen sind (hierzu ein guter Text von Antje Schrupp (https://www.fischundfleisch.com/blogs/panorama/nur-wer-frauen-benennt-meint-sie-auch.html)).

Mir liegt es ebenso fern, jemandem Vorschriften zu machen, und ich fühle mich auch nicht gedrängt, den Verwendern der "geschlechtergerechten" Formen belehrende Vorträge zu halten. Ich verstehe sie ja.

Ich glaube nur nicht, dass dieser Gebrauch bedeutet, sich möglichst klar auszudrücken, im Gegenteil. Nehmen wir den Satz "Die Römerinnen und Römer sprachen Latein". Hier wird durch die Doppelform ein Geschlechtsmarker gesetzt, von dem ich als Hörer mich frage, was er referentiell zu dem auszusprechenden Sachverhalt beiträgt. Denn es geht im Normalfall inhaltlich nur um eine Korrelation zwischen Volkszugehörigkeit und Sprache. Niemand würde vermuten, die Geschlechter in Rom hätten unterschiedliche Sprachen gesprochen. Die Aussage gerät nach meinem Gefühl in eine Schieflage, weil sie Aufmerksamkeit auf einen ganz unwesentlichen Punkt lenkt. (Immer angenommen, es kommt dem Sprecher nicht doch darauf an, genau dies zu betonen, wofür die möglichen Kontexte aber selten sein dürften.)

Aber ich glaube, für einen solchen Gebrauch ist Dein zweiter Punkt viel interessanter, obwohl ich auch hier etwas anders gewichten würde. Es geht m.E. weniger um Höflichkeit als um eine partielle Verschiebung der Aussageintention von der referentiellen auf eine emotive Ebene (wie Jakobson sagen würde): Wer hier "Römerinnen und Römer" sagt, setzt einen Ich-Marker, der ihn als zustimmenden Teilnehmer am Diskurs um die "geschlechtergerechten" Formen ausweisen soll. Ob man es dann sekundär als Höflichkeit oder etwas anderes auffassen soll, wenn das Signal aufleuchtet "Seht her, ich bin auch der Meinung, dass man so sprechen sollte!", mag wiederum von den Kommunikationsteilnehmern und vom Kontext abhängen. Die von Dir zitierte kognitive Mehrleistung ist, je nach männlicher Markiertheit des maskulinen Ausdrucks und nach Kontext (s.o.), unterschiedlich. Mein Plädoyer war nur, hier sensibel zu sein und Geschlechtsmarkierungen nicht als Einheitssauce über alles zu gießen. Im obigen "Römer"-Beispiel würde die vermeintliche Höflichkeit durch die genannte falsche Markierung nach meinem Gefühl zu teuer erkauft (es sei denn, es ist mir wichtiger, meine Ablehnung des generischen Maskulinums kundzutun als über Römer zu sprechen). Das ist ein klassischer Fall für die Nützlichkeit eines generischen Maskulinums, dessen Vorzüge hier Kürze und Klarheit sind.

P.S.: Dass ich den Text von Antje Schrupp nicht gut finde, sondern geradezu bestürzend undifferenziert, kannst Du Dir sicher denken. Welche zerebralen Vorgänge mögen dazu geführt haben, dass sie sich unter "Menschen" nur Männer vorstellt? Muss ich künftig statt "Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf" (homo homini lupus) sagen: "Die Frau und der Mann sind der Frau und dem Mann eine Wölfin und ein Wolf"? Aber ich wollte ja eigentlich nicht polemisch werden.

Zitat von: Kilian in 2015-05-05, 10:47:34Muss man als Sprecherin selbst wissen, was einer wichtiger ist: die Vorteile des generischen Maskulinums (welche waren das noch mal?) oder die genannten beiden Punkte.

Zu den Vorteilen verweise ich nur noch einmal auf mein Beispiel "Die besten meiner Entwickler sind Frauen". Es wäre im Sinne der Pointierung dieser Aussage kontraproduktiv – abgesehen davon auch überflüssig lang und umständlich –, die positive Aussage über das Geschlecht in einem zu Beginn des Satzes erst einmal geschlechtsneutralen Zusammenhang durch frühzeitige Setzung des Geschlechtsmarkers zu verderben. Das ist eine Frage der rhetorischen Ponderierung des Satzes. Ich bin ein großer Freund von solchen stilistischen Details, die für mich einen großen Teil der Freude am Umgang mit Sprache ausmachen, und würde ungern auf ein solches Mittel verzichten, solange ich damit nicht anderweitig Verwirrung oder Unmut hervorrufe. Weitere Vorteile des generischen Maskulinums sind in der Diskussion in Hülle und Fülle im Umlauf, die brauche ich, glaube ich, nicht weiter anzuführen. Dass es Möglichkeiten geben muss, geschlechtsneutral zu formulieren, d.h. ganz ohne Geschlechtsmarker, ist m.E. evident. Die Setzung eines starken weiblichen Geschlechtsmarkers neben eine normalerweise als schwach männlich markiert aufzufassende maskuline Form ist ganz sicher nicht das, was ich unter geschlechtsneutral verstehen würde.

Die Höflichkeit, Frauen den kognitiven Aufwand zu ersparen, wenn sie sich fragen sollten, ob sie mitgemeint sind, bin ich von Fall zu Fall aufzubringen gern bereit und tue das auch. Eben nur nicht pauschal und ohne dass ein solcher kognitiver Aufwand überhaupt zu erkennen wäre (wie im "Römer"-Beispiel). Gutwillige Kommunikation kann ich ja, bei allem Bestreben höflich zu sein, auch von Frauen erwarten.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Kilian in 2015-05-05, 19:45:28
Zitat von: Homer in 2015-05-05, 15:03:50Ich glaube nur nicht, dass dieser Gebrauch bedeutet, sich möglichst klar auszudrücken, im Gegenteil. Nehmen wir den Satz "Die Römerinnen und Römer sprachen Latein". Hier wird durch die Doppelform ein Geschlechtsmarker gesetzt, von dem ich als Hörer mich frage, was er referentiell zu dem auszusprechenden Sachverhalt beiträgt. Denn es geht im Normalfall inhaltlich nur um eine Korrelation zwischen Volkszugehörigkeit und Sprache. Niemand würde vermuten, die Geschlechter in Rom hätten unterschiedliche Sprachen gesprochen. Die Aussage gerät nach meinem Gefühl in eine Schieflage, weil sie Aufmerksamkeit auf einen ganz unwesentlichen Punkt lenkt. (Immer angenommen, es kommt dem Sprecher nicht doch darauf an, genau dies zu betonen, wofür die möglichen Kontexte aber selten sein dürften.)

Aber ich glaube, für einen solchen Gebrauch ist Dein zweiter Punkt viel interessanter, obwohl ich auch hier etwas anders gewichten würde. Es geht m.E. weniger um Höflichkeit als um eine partielle Verschiebung der Aussageintention von der referentiellen auf eine emotive Ebene (wie Jakobson sagen würde): Wer hier "Römerinnen und Römer" sagt, setzt einen Ich-Marker, der ihn als zustimmenden Teilnehmer am Diskurs um die "geschlechtergerechten" Formen ausweisen soll. Ob man es dann sekundär als Höflichkeit oder etwas anderes auffassen soll, wenn das Signal aufleuchtet "Seht her, ich bin auch der Meinung, dass man so sprechen sollte!", mag wiederum von den Kommunikationsteilnehmern und vom Kontext abhängen. Die von Dir zitierte kognitive Mehrleistung ist, je nach männlicher Markiertheit des maskulinen Ausdrucks und nach Kontext (s.o.), unterschiedlich. Mein Plädoyer war nur, hier sensibel zu sein und Geschlechtsmarkierungen nicht als Einheitssauce über alles zu gießen. Im obigen "Römer"-Beispiel würde die vermeintliche Höflichkeit durch die genannte falsche Markierung nach meinem Gefühl zu teuer erkauft (es sei denn, es ist mir wichtiger, meine Ablehnung des generischen Maskulinums kundzutun als über Römer zu sprechen). Das ist ein klassischer Fall für die Nützlichkeit eines generischen Maskulinums, dessen Vorzüge hier Kürze und Klarheit sind.

Gute Punkte. Zum Glück bilden die möglichen Alternativen zum durchgängigen Gebrauch des generischen Maskulinums in allen schwach markierten Fällen (wo immer man da die Grenze ziehen mag) ja in der Tat keine Einheitssauce, sondern sind sehr vielfältig. Eine Lösung, die mir besonders gut gefällt, ist die von Kristin Kopf (http://www.sprachlog.de/2015/03/02/die-voelkerwanderung-war-kein-vatertagsausflug-ueber-60-woerter-auf-in/).
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-05-05, 21:27:42
Charme hat das, obwohl ich nicht sicher bin, ob es wirklich eine Lösung für den Alltag ist. Denn, wie gesagt, Geschlechterneutralität wird gerade nicht durch Doppelsetzung, Gegensetzung des Femininums oder das auffällige Zufallsprinzip – zumindest ein witziger Gedanke – erzeugt, sondern durch schwächstmögliche Erwähnung des Merkmals "Geschlecht" überhaupt. Der gewaltige Unterschied zwischen gleichberechtigter Erwähnung des Geschlechts und gar keiner Erwähnung wird seltsamerweise von den Verfechtern der "geschlechtergerechten" Formen nie reflektiert, dabei brauchen wir von Fall zu Fall mal das eine und mal das andere. Das hinzugesetzte Femininum annulliert ja die männliche Markierung des Maskulinums nicht, sondern verstärkt das Merkmal "Geschlecht" insgesamt. Das wird ebensowenig diskutiert wie die sehr variable männliche Markiertheit von Maskulina (von fast unmarkiert bis stark markiert) im Unterschied zur ziemlich konstant hohen weiblichen Markiertheit von femininen Personenbezeichnungen, was jegliche Lösungen, die auf Symmetrie setzen, deutlich erschwert. Und mich stört die Pauschalität in der konstant wiederholten Aussage, dass bei Maskulina "Mann" immer mitgedacht werde, als ob es keine entscheidenden Abstufungen gäbe.

Es ist natürlich misslich, dass es im Deutschen separate geschlechtlich unmarkierte Personenbezeichnungen nicht (oder kaum) gibt. Dummerweise kann man sie aber genau deshalb auch nicht erschaffen (wobei ohnehin fraglich ist, ob künstliche Eingriffsversuche in die langue generell eine gute Idee sind, da Sprachwandel sich nur in der parole vollziehen kann). Denn jede Neuschöpfung würde paradoxerweise über ihr Merkmal "geschlechtlich unmarkiert", der ihr einziger Daseinsgrund wäre, sofort wieder in unerwünschter Weise auf das Merkmal "Geschlecht" hinweisen, wenn auch im Modus der Negation. Es hilft nichts, wir müssen abwarten, welche Wege sich der ja erkennbare Bedarf nach geschlechtsneutralen Formen aus dem Material heraus, das wir haben, auf zwanglose Weise bahnt. Änderungen des Sprachbewusstseins brauchen eben Zeit, und Geduld ist nicht jedermanns Sache. Einstweilen ist das sensibel verwendete generische Maskulinum schwach markierter Wörter m.E. die immer noch beste Annäherung an geschlechtliche Unmarkiertheit.

Für mich ist der Vorschlag von Kristin Kopf ein Sprachexperiment, das zum Nachdenken anregt, nicht mehr – aber eines, auf das ich mich spielerisch einlassen könnte, gerade wegen der ein wenig absurden Effekte, die es erzeugt. Für alltagstauglich hält sie es wohl (hoffentlich) selbst nicht.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Wortklaux in 2015-05-06, 12:29:59
Die ,,männliche Markierung" von Begriffen wie ,,Student" wird durch die konsequente Vermeidung des generischen Maskulinums zweifellos verstärkt. Diesem Trend der Sprache kann man sich als Einzelperson wohl nicht durch die Behauptung des Gegenteils entziehen. Insofern bedeutet es heute eben schon etwas anderes, wenn von ,,Studenten" gesprochen wird, als es es vor 30 Jahren bedeutet hat. Es liegen eben 30 Jahre dazwischen, wo systematisch von ,,Studierenden" oder ,,Studenten und Studentinnen" gesprochen und geschrieben wurde.

Der Versuch, diesem Trend durch Stolperwörter entgegenzutreten (,,Ein Kassierer im Supermarkt wurde wegen Unterschlagung eines Pfandbons entlassen. Er war bei den Kunden beliebt und wurde von vielen Kunden geduzt und mit seinem Vornamen ,,Sabine" angesprochen." ,,Wenn ein Kindergärtner seine Tage hat ...") ist mindestens lustig, dürfte den Trend aber genausowenig aufhalten wie die ,,Lösung" von Kristin Kopf eine wirkliche Alternative anbietet, zumal man, um sie konsequent im Alltag anzuwenden, immer erst eine Münze werfen müsste, ehe man ein Wort ausspricht.

Im übrigen ist der Sprachgebrauch aber wohl nur ein kleines Rädchen in der Maschine, die unsere Gender-Vorstellungen prägt. Bei ,,Mathematikprofessoren" oder ,,Bankräubern" schalten wir mit größerer Wahrscheinlichkeit auf die Vorstellung von männlichen Personen als bei ,,Museumsbesuchern" oder ,,Supermarktkunden", und das liegt eben nicht an der Sprache. Ebenso denke ich, dass wenige Leute bei einer ,,Persönlichkeit mit Durchsetzungsvermögen" automatisch eine Frau vor sich sehen, nur weil das Wort ,,Persönlichkeit" ein Femininum ist. Es wäre auch sehr unökonomisch, immer die weniger wahrscheinliche Variante mit der gleichen Intensität mitzudenken, solange die Wahrscheinlichkeiten in der Realität unverändert bleiben. Ist es etwa diskriminierend, sich unter einem ,,Grundschüler der ersten Klasse" ein sechsjähriges Kind vorzustellen, obwohl es bekannte Fälle gibt, in denen Achtzigjährige die erste Grundschulklasse besucht haben?

Insofern denke ich, dass jedem sein Sprachgebrauch unbenommen bleiben soll, aber wenn Homer sein generisches Maskulinum verwendet, darf er sich eben nicht darüber beschweren, wenn manche Leute ihn missverstehen, denn es ist heute durchaus absehbar, dass solche Missverständnisse auftreten. Die Methode, dem Missverständnis durch eine Fußnote bei der Erstbenutzung entgegenzutreten, ist auch OK, nur liest halt nicht jeder jede Fußnote.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-05-06, 20:48:38
Zitat von: Wortklaux in 2015-05-06, 12:29:59
Die ,,männliche Markierung" von Begriffen wie ,,Student" wird durch die konsequente Vermeidung des generischen Maskulinums zweifellos verstärkt. Diesem Trend der Sprache kann man sich als Einzelperson wohl nicht durch die Behauptung des Gegenteils entziehen. Insofern bedeutet es heute eben schon etwas anderes, wenn von ,,Studenten" gesprochen wird, als es es vor 30 Jahren bedeutet hat. Es liegen eben 30 Jahre dazwischen, wo systematisch von ,,Studierenden" oder ,,Studenten und Studentinnen" gesprochen und geschrieben wurde.

Das ist ein interessanter Aspekt. Die metalinguistische Debatte selbst, mit welch (m.E.) unzureichend differenzierenden Argumenten auch immer sie geführt wird, beginnt vielleicht tatsächlich nach und nach auf das Sprachempfinden selbst durchzuschlagen, auch wenn ich den Prozess bei weitem noch nicht für so fortgeschritten halte wie Du. Die überwältigende Mehrheit selbst der Frauen, die ich kenne, käme nie auf die Idee, die "geschlechtergerechten" Formen zu benutzen, und sehr viele von ihnen äußern sich dezidiert ablehnend. Aber das mag mit dem vergleichsweise stark ausgebildeten Sprachgefühl zu tun haben, das die Frauen in dem Umfeld haben, in dem ich am meisten verkehre, und das ihnen sagt, dass das Verschwinden von geschlechtsunmarkierten Formen einen vorläufig nicht kompensierbaren Verlust an Ausdrucksmöglichkeiten des Deutschen mit sich brächte.

Zitat von: Wortklaux in 2015-05-06, 12:29:59Im übrigen ist der Sprachgebrauch aber wohl nur ein kleines Rädchen in der Maschine, die unsere Gender-Vorstellungen prägt. Bei ,,Mathematikprofessoren" oder ,,Bankräubern" schalten wir mit größerer Wahrscheinlichkeit auf die Vorstellung von männlichen Personen als bei ,,Museumsbesuchern" oder ,,Supermarktkunden", und das liegt eben nicht an der Sprache. Ebenso denke ich, dass wenige Leute bei einer ,,Persönlichkeit mit Durchsetzungsvermögen" automatisch eine Frau vor sich sehen, nur weil das Wort ,,Persönlichkeit" ein Femininum ist. Es wäre auch sehr unökonomisch, immer die weniger wahrscheinliche Variante mit der gleichen Intensität mitzudenken, solange die Wahrscheinlichkeiten in der Realität unverändert bleiben. Ist es etwa diskriminierend, sich unter einem ,,Grundschüler der ersten Klasse" ein sechsjähriges Kind vorzustellen, obwohl es bekannte Fälle gibt, in denen Achtzigjährige die erste Grundschulklasse besucht haben?

Ich stimme zu. Darüber hinaus würde ich zuspitzend vermuten, dass die Sprachdebatte als Nebenschauplatz des Gleichberechtigungskampfes deshalb so unverdient viel Beachtung findet, weil hier vermeintlich die leichteren Erfolge zu erzielen sind, die zudem nicht viel kosten. Meine These ist, dass nach dem generischen Maskulinum kein Hahn krähen würde, wenn es in den Bereichen, wo Gleichberechtigung tatsächlich wichtig wäre, zügiger voranginge. Sprache transportiert auch sonst jede Menge historisches Gut mit sich, das an längst überwundene frühere Verhältnisse erinnert, ohne dass es irgendwen stört. Weh tut Sprache nur dort, wo die mit ihr korrespondierende Realität noch wehtut.

Zitat von: Wortklaux in 2015-05-06, 12:29:59Insofern denke ich, dass jedem sein Sprachgebrauch unbenommen bleiben soll, aber wenn Homer sein generisches Maskulinum verwendet, darf er sich eben nicht darüber beschweren, wenn manche Leute ihn missverstehen, denn es ist heute durchaus absehbar, dass solche Missverständnisse auftreten. Die Methode, dem Missverständnis durch eine Fußnote bei der Erstbenutzung entgegenzutreten, ist auch OK, nur liest halt nicht jeder jede Fußnote.

Ich kann nicht ausschließen, dass sich hin und wieder einmal jemand heimlich über mich ärgert, weil ich die "geschlechtergerechten" Formen nur da verwende, wo ich auch von Geschlecht sprechen will. Gesagt hat es mir noch niemand. Was ich aber sicher weiß, ist, dass ich noch nie regelrecht missverstanden wurde. Die Möglichkeit solcher Missverständnisse wird in der Debatte ohnehin weit überschätzt. Wenn man einmal nachdenkt, ist es schwer, Beispiele zu nennen, bei denen in einem konkreten Kontext unter Bedingungen einer kooperativen Kommunikation tatsächlich ein Missverständnis möglich ist. Dass sich die Missverständnis-Grenze sehr langsam verschieben könnte (s.o.), halte ich dennoch für möglich. Daran werde ich mich auch, nicht schneller als nötig allerdings, anpassen, wenn ich das feststellen sollte, schließlich steht das Verstanden-Werden auf dem Spiel. Aber vorläufig geht es m.E. viel eher um die Markierung des Diskurses selbst als um Probleme der Verständlichkeit.

Ich komme mir übrigens anbiedernd vor, wenn mir doch einmal "Studierende" herausrutscht – eine Generationenfrage? Männliche wie weibliche "Studierende" haben aber nach meiner Erfahrung überhaupt kein Problem damit, wenn ich von "Studenten" spreche. Aber vielleicht verzeihen sie mir altem Sack auch nur meine Schrulle.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Kilian in 2015-05-07, 00:04:45
Zitat von: Homer in 2015-05-06, 20:48:38Ich komme mir übrigens anbiedernd vor, wenn mir doch einmal "Studierende" herausrutscht – eine Generationenfrage?

Kann gut sein. Meinem Eindruck nach hat Studierende u.a. dank entsprechenden Policys in den letzten Jahren einen derartigen Boom erfahren, dass es mittlerweile allmählich weitgehend als normal empfunden wird und sogar schon weit stärker lexikalisoren ist als entsprechende Partizipialkonstruktionen. Ein ulkiges Beispiel: https://twitter.com/skeptikantin/status/586222425513316352
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-06-09, 23:35:19
Hier (http://www.sprachlog.de/2015/06/09/geschlechtergerechte-sprache-und-lebensentscheidungen/) wird wieder – leider völlig unkritisch – über eine der immer wieder gleich aufgebauten Studien mit den immer wieder gleichen Beispielwortgruppen (hier: Berufsbezeichnungen) und den immer wieder von neuem fehlenden entscheidenden Differenzierungen berichtet, und es werden wieder dieselben erwartbaren, sträflich pauschalisierenden Schlüsse daraus gezogen. Das ist offenbar der traurige Stand der "Forschung" zu diesem Thema, die nicht wirklich etwas ermitteln will, sondern es a priori auf eine allgemeine Verdammung des generischen Maskulinums anlegt. Schade, ich glaube, manches von dem, was wir hier andiskutiert haben, könnte den Blick schärfen.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Wortklaux in 2015-06-10, 00:53:22
In dieser Art Diskussionen gilt eben der altbekannte Satz: Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von jedem.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Kilian in 2015-06-10, 13:22:26
Zitat von: Homer in 2015-06-09, 23:35:19
Hier (http://www.sprachlog.de/2015/06/09/geschlechtergerechte-sprache-und-lebensentscheidungen/) wird wieder – leider völlig unkritisch – über eine der immer wieder gleich aufgebauten Studien

Inwiefern immer wieder gleich aufgebaut?

Zitatund den immer wieder von neuem fehlenden entscheidenden Differenzierungen

Welche für das Thema der Studie relevanten Differenzierungen fehlen hier? Fehlen sie in der Studie oder in dem Bericht darüber?

Zitates werden wieder dieselben erwartbaren, sträflich pauschalisierenden Schlüsse daraus gezogen

Welche Schlüsse genau meinst du, und inwiefern sind sie sträflich pauschalisierend?

ZitatDas ist offenbar der traurige Stand der "Forschung" zu diesem Thema, die nicht wirklich etwas ermitteln will, sondern es a priori auf eine allgemeine Verdammung des generischen Maskulinums anlegt.

Ich habe weder in der DGPS-Pressemitteilung (http://www.dgps.de/index.php?id=143&tx_ttnews%5Btt_news%5D=1610&cHash=1308c97486a0f55bc30d6a7cf12bf49f) noch in dem Sprachlog-Artikel (http://www.sprachlog.de/2015/06/09/geschlechtergerechte-sprache-und-lebensentscheidungen/) eine allgemeine Verdammung des generischen Maskulinums gesehen. Worauf beziehst du dich?
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Wortklaux in 2015-06-10, 21:05:49
Wie auch immer — anscheinend steht es mit
der Geschlechter-Gerechtigkeit
Mehr  schlecht  als  recht.
Wollen wir das absolut nicht, müssen wir wohl auf
das Geschlecht ganz verzichten — so dass wir dann
schließlich nur noch ein Gerecht haben.
Ich persönlich zöge aber doch
das Schlichten dem Richten vor!
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-06-11, 00:44:15
Zitat von: Kilian in 2015-06-10, 13:22:26
Inwiefern immer wieder gleich aufgebaut?

Irgendwelche Gruppen von Leuten werden mit isolierten Sätzen mit generischen Maskulina konfrontiert, die sicherheitshalber so gewählt werden, dass sie ohne neutralisierenden Kontext als leicht bis mindestens mittelschwer männlich markiert interpretiert werden können (deshalb gern Berufsbezeichnungen, wobei wohl nicht alle Studien so plump vorgehen wie diese, die gleich "Geschäftsmänner" und "Feuerwehrmänner" einbaut), sollen Fragen dazu beantworten, dann wird der unausweichlich eintretende statistische Effekt gemessen und festgestellt, dass die generischen Formen natürlich wahlweise geschlechterungerecht oder gar diskriminierend oder mindestens schlechter verständlich oder alles zusammen sind. Wie wäre es statt solcher erbsenzählerischer Trockenübungen mit sensibler Sprachbeobachtung in freier Wildbahn und kategorial präzisem Nachdenken darüber?

Zitat von: Kilian in 2015-06-10, 13:22:26Welche für das Thema der Studie relevanten Differenzierungen fehlen hier? Fehlen sie in der Studie oder in dem Bericht darüber?

Markierung, Kontextabhängigkeit, Numerus ... (s.o. unsere Diskussion). Die Gegenfrage genügt eigentlich schon: Was von all dem ist denn da?

Zitat von: Kilian in 2015-06-10, 13:22:26Welche Schlüsse genau meinst du, und inwiefern sind sie sträflich pauschalisierend?

Aus dem Bericht: "Soweit bestätigt das Experiment aus linguistischer Perspektive auf eine sehr interessante Weise den semantischen Effekt des generischen Maskulinums – dies wird offensichtlich als ,,männlich" interpretiert." Das muss ich nicht erläutern, warum das sträflich pauschalisierend ist, oder?

Zitat von: Kilian in 2015-06-10, 13:22:26Ich habe weder in der DGPS-Pressemitteilung (http://www.dgps.de/index.php?id=143&tx_ttnews%5Btt_news%5D=1610&cHash=1308c97486a0f55bc30d6a7cf12bf49f) noch in dem Sprachlog-Artikel (http://www.sprachlog.de/2015/06/09/geschlechtergerechte-sprache-und-lebensentscheidungen/) eine allgemeine Verdammung des generischen Maskulinums gesehen. Worauf beziehst du dich?

Hier geht es mir um weniger um die (von Psychologen durchgeführte, linguistisch – den Berichten nach zu schließen – extrem holzschnittartige) Studie selbst als um die prompte Vereinnahmung von Seiten einer bestimmten Linguistik, der die das eigene Fach betreffenden Mängel gleichgültig sind, solange das Ergebnis in die richtige Richtung zu weisen scheint. Und das erklärte Ziel dieser Linguistik ist nun einmal die flächendeckende, kontextunabhängige Durchsetzung der "geschlechtergerechten" Formen und damit die Abschaffung des generischen Maskulinums selbst dort, wo es völlig unproblematisch ist. In diesem Projekt ist Sprache nur ein Instrument und kein wissenschaftlicher Gegenstand: "Wir wollten untersuchen, ob man durch eine geschlechtergerechte Sprache die Wirkung des Geschlechtsstereotyps aushebeln kann" (Autor); "gesellschaftliche Wirklichkeit ändert sich eben (auch) über den Sprachgebrauch" (Sprachlog). Ich glaube nicht, dass eine Studie mit 6-12jährigen Kindern über dieses Wortmaterial wirklich ein Beleg für eine solche Kausalitätsumkehr sein kann. Die Anwendung des generischen Maskulinums und das Verständnis für seine Möglichkeiten und Grenzen erfordern eine sprachliche Sensibilität, die in dem Alter einfach noch nicht vorhanden ist. Ich bin völlig sicher, dass ein ähnlicher Test mit meinen Studenten keinen messbaren Effekt ergäbe – es sei denn, die Kenntnis des Diskurses selbst und der Wille, entsprechend zu antworten, um das Ergebnis in eine bestimmte Richtung zu steuern, ergäbe einen unerwünschten Rückkopplungseffekt.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Kilian in 2015-06-11, 20:18:58
Zitat von: Homer in 2015-06-11, 00:44:15Irgendwelche Gruppen von Leuten werden mit isolierten Sätzen mit generischen Maskulina konfrontiert, die sicherheitshalber so gewählt werden, dass sie ohne neutralisierenden Kontext als leicht bis mindestens mittelschwer männlich markiert interpretiert werden können (deshalb gern Berufsbezeichnungen, wobei wohl nicht alle Studien so plump vorgehen wie diese, die gleich "Geschäftsmänner" und "Feuerwehrmänner" einbaut), sollen Fragen dazu beantworten, dann wird der unausweichlich eintretende statistische Effekt gemessen und festgestellt, dass die generischen Formen natürlich wahlweise geschlechterungerecht oder gar diskriminierend oder mindestens schlechter verständlich oder alles zusammen sind. Wie wäre es statt solcher erbsenzählerischer Trockenübungen mit sensibler Sprachbeobachtung in freier Wildbahn und kategorial präzisem Nachdenken darüber?

Diese Studien zeigen, dass Maskulina (teilweise mit möglichen generischen Lesarten) zumindest in bestimmten Situationen (den Situationen eben, die untersucht wurden) ganz andere psychologische Effekte haben als unzweideutig generische Ausdrücke wie Kindergärtner und Kindergärtnerinnen.

Ein besonders gutes Beispiel für so eine Studie ist Gygax et al. (2008) (http://www.sprachlog.de/2011/12/14/frauen-natuerlich-ausgenommen/).

Deine These ist, wenn ich dich richtig verstehe, dass es daneben auch Situationen gibt, in denen bestimmte Maskulina völlig unproblematisch sind. Meinst du damit, 1) dass sie spontan genau so leicht generisch interpretiert werden wie unzweideutig generische Ausdrücke, bzw. dass sie nachweislich keine diskriminierende Auswirkungen haben? Dann fordere ich dich heraus, einen Vorschlag für eine Studie zu machen, die das empirisch nachweisen könnte. Denn durch bloßes Nachdenken wirst du über die tatsächlichen Auswirkungen schlicht nichts erfahren. Oder meinst du damit 2), dass Maskulina zwar immer etwas andere Auswirkungen haben mögen als andere Ausdrücke, dass das aber nicht schlimm ist und dass ,,Ökonomie" und ,,Schönheit" der Sprache manchmal wichtiger sind? Dann verstehe ich nicht, warum du dich hier über Veröffentlichungen aus Wissenschaft und Wissenschaftskommunikation beschwerst. Die präsentieren dir nur die Ergebnisse, was du daraus machst, ist doch sowieso deine Sache und davon, wie du das alles moralisch bewertest.

Zitat
Zitat von: Kilian in 2015-06-10, 13:22:26Welche für das Thema der Studie relevanten Differenzierungen fehlen hier? Fehlen sie in der Studie oder in dem Bericht darüber?

Markierung

Es hat mich zugegeben auch irritiert, dass Verveckens Studie maskuline Formen mit sehr unterschiedlicher Eignung zur generischen Interpretation (Feuerwehrmänner vs.Automechaniker) vermischt, aber da es in dieser Studie nicht um generische Maskulina geht, muss sie hier m.E. auch nicht unbedingt differenzieren. Die Gygax-Studie tut es, so weit ich sehe.

ZitatKontextabhängigkeit

Wäre ein Thema für viele Studien, s.o.

ZitatNumerus

Verveckens Personenbezeichnungen sind, so weit ich das sehe, alle im Plural, was die generische Interpretation eher begünstigen als erschweren dürfte. Da gibt es doch nichts zu klagen, oder?

ZitatAus dem Bericht: "Soweit bestätigt das Experiment aus linguistischer Perspektive auf eine sehr interessante Weise den semantischen Effekt des generischen Maskulinums – dies wird offensichtlich als ,,männlich" interpretiert." Das muss ich nicht erläutern, warum das sträflich pauschalisierend ist, oder?

Kommt drauf an, was man unter ,als ,,männlich" interpretiert' versteht. Was man sicher sagen kann, ist, dass nur ,,geschlechtergerechte" Formen zuverlässig, unabhängig vom jeweiligen Beruf, vor einer Interpretation als rein männlich ,,schützen".

ZitatUnd das erklärte Ziel dieser Linguistik ist nun einmal die flächendeckende, kontextunabhängige Durchsetzung der "geschlechtergerechten" Formen und damit die Abschaffung des generischen Maskulinums selbst dort, wo es völlig unproblematisch ist.

Kannst du diese Behauptung auch belegen?

ZitatIn diesem Projekt ist Sprache nur ein Instrument und kein wissenschaftlicher Gegenstand: "Wir wollten untersuchen, ob man durch eine geschlechtergerechte Sprache die Wirkung des Geschlechtsstereotyps aushebeln kann" (Autor); "gesellschaftliche Wirklichkeit ändert sich eben (auch) über den Sprachgebrauch" (Sprachlog).

Wie kommst du auf ,,nur"? Auch Instrumente kann man wissenschaftlich untersuchen.

ZitatIch glaube nicht, dass eine Studie mit 6-12jährigen Kindern über dieses Wortmaterial wirklich ein Beleg für eine solche Kausalitätsumkehr sein kann.

Was für eine ,,Kausalitätsumkehr"?

ZitatDie Anwendung des generischen Maskulinums und das Verständnis für seine Möglichkeiten und Grenzen erfordern eine sprachliche Sensibilität, die in dem Alter einfach noch nicht vorhanden ist.

??? Generisches Maskulinum ist unproblematisch, aber man sollte es erst ab 12? 16? 18? freigeben? 6-12-jährige Kinder sind doch Teil unserer Gesellschaft und Sprachgemeinschaft, du kannst doch das, was sie mit Sprache machen und was Sprache mit ihnen macht, nicht für irrelevant erklären?

ZitatIch bin völlig sicher, dass ein ähnlicher Test mit meinen Studenten keinen messbaren Effekt ergäbe – es sei denn, die Kenntnis des Diskurses selbst und der Wille, entsprechend zu antworten, um das Ergebnis in eine bestimmte Richtung zu steuern, ergäbe einen unerwünschten Rückkopplungseffekt.

Steile These.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-06-12, 03:02:10
Zitat von: Kilian in 2015-06-11, 20:18:58
Deine These ist, wenn ich dich richtig verstehe, dass es daneben auch Situationen gibt, in denen bestimmte Maskulina völlig unproblematisch sind. Meinst du damit, 1) dass sie spontan genau so leicht generisch interpretiert werden wie unzweideutig generische Ausdrücke, bzw. dass sie nachweislich keine diskriminierende Auswirkungen haben? Dann fordere ich dich heraus, einen Vorschlag für eine Studie zu machen, die das empirisch nachweisen könnte. Denn durch bloßes Nachdenken wirst du über die tatsächlichen Auswirkungen schlicht nichts erfahren. Oder meinst du damit 2), dass Maskulina zwar immer etwas andere Auswirkungen haben mögen als andere Ausdrücke, dass das aber nicht schlimm ist und dass ,,Ökonomie" und ,,Schönheit" der Sprache manchmal wichtiger sind? Dann verstehe ich nicht, warum du dich hier über Veröffentlichungen aus Wissenschaft und Wissenschaftskommunikation beschwerst. Die präsentieren dir nur die Ergebnisse, was du daraus machst, ist doch sowieso deine Sache und davon, wie du das alles moralisch bewertest.

1. Ja, es gibt völlig unproblematische Fälle: "Die Römer sprachen Latein" (s.o.).
2. Wofür ist es überhaupt wichtig, ob eine sprachliche Äußerung oder Teile davon etwas mehr oder etwas weniger spontan richtig verstanden werden? Ich halte meine Gesprächspartner in der Regel bis zum Beweis des Gegenteils für geistig flexibel und habe keine Lust, ihnen durch einen Eindeutigkeits-Overkill etwas anderes zu signalisieren. In der Literatur, z.B. in Romanen, würden überexplizite Sprachmittel wie z.B. die "geschlechtergerechten" Formen die Poetizität abtöten und bürokratisch wirken – wo ist das Fehlen solcher Formen für die Leser ein Problem?
3. Was (eventuell) erschwertes Verständnis mit Diskriminierung zu tun haben könnte, ist mir unerfindlich. Und warum wäre unter dem Blickwinkel der Verständlichkeit ein Satz wie "Linguisten sind alle Idioten" eher für rezipierende Frauen ein Problem als für Männer?
4. Warum soll ich Nicht-Diskriminierung durch generische Maskulina nachweisen? Im allgemeinen muss aus prinzipiell-methodischen Gründen in der Forschung die Existenz von etwas nachgewiesen werden und nicht die Nicht-Existenz. Die Beweislast liegt bei denen, die daran glauben, dass Teile der langue per se diskriminieren können. Dieser Beweis dürfte unmöglich sein.
5. Durch Beobachten und Nachdenken über Sprache werde ich nichts erfahren? Dann habe ich bisher alles falsch gemacht. Beobachtungen an gesprochenen und geschriebenen Texten sind nicht empirisch zu nennen? Muss man immer Produzenten und Rezipienten zusammentrommeln und sie befragen, was Sprache und Texte mit ihnen tun, um etwas über deren "Auswirkungen" zu erfahren? Müsste ich dementsprechend nicht über Platon, Euripides, Cicero und Vergil schweigen, weil ich sie ja über ihre Texte nicht mehr befragen kann? Müsste ich in Zukunft Umfragen unter Lesern machen, um Texte sprachlich oder literarisch zu deuten? Wäre es so, dann wäre die ganze Literaturwissenschaft und weite Teile der Sprachwissenschaft ein hohles Geschäft.
6. Zu deinem Punkt 2): Das denke ich in der Tat (wenn man "immer" durch "manchmal" ersetzt).
7. Warum ich mich dennoch beschwere? Unzureichend differenzierende Forschung, pauschalisierende Berichterstattung und politische Instrumentalisierung im Bereich eines sprachwissenschaftlichen Themas, das mich interessiert, darf ich doch wohl kritisieren.
8. Moral ist hier völlig uninteressant. Ich interessiere mich für den Umgang mit Sprache. Meine Einstellung zu den "geschlechtergerechten" Formen hat übrigens rein gar nichts mit meiner Einstellung zu dem (völlig berechtigten) allgemeinen sozialpolitischen Projekt der Gleichstellung zu tun, in dessen Dienst diese gelenkte Sprachveränderung unnötigerweise glaubt sich stellen zu sollen. Oder anders: Wäre ich der Meinung, dass die kontextunabhängig flächendeckende Verwendung dieser Formen (wie in der neugefassten StVO) auch nur das Geringste mit Gleichstellung zu tun hat, würde ich mich gegen alle ästhetischen Bedenken zwingen, dafür zu sein.

Zitat von: Kilian in 2015-06-11, 20:18:58
aber da es in dieser Studie nicht um generische Maskulina geht, muss sie hier m.E. auch nicht unbedingt differenzieren.

Doch, es geht eindeutig um generische Maskulina vs. "geschlechtergerechte" Formen.

Zitat von: Kilian in 2015-06-11, 20:18:58
Verveckens Personenbezeichnungen sind, so weit ich das sehe, alle im Plural, was die generische Interpretation eher begünstigen als erschweren dürfte. Da gibt es doch nichts zu klagen, oder?

Leider habe ich die Studie selbst noch nicht sehen können, da der entsprechende Faszikel in unserer UB noch nicht online verfügbar ist. Aber der Sprachlog-Bericht zitiert ja die vier Fragen, die den Kindern gestellt wurden. Bei den ersten drei ist sicherlich in die Platzhalter-Lücke ein Singular einzusetzen, bei der vierten ein Plural.

Zitat von: Kilian in 2015-06-11, 20:18:58
Was man sicher sagen kann, ist, dass nur ,,geschlechtergerechte" Formen zuverlässig, unabhängig vom jeweiligen Beruf, vor einer Interpretation als rein männlich ,,schützen".

Wie Du weißt, bezweifle ich das stark. Mir fallen nach wie vor keine realitätsnahen Sätze mit generischen Maskulina ein, die in einem klar definierten Kontext in einem Gespräch unter sprachlich sensiblen, kooperativen Gesprächspartnern zu Missverständnissen führen könnten. Solange mir niemand überzeugende Beispiele präsentiert, halte ich das Eindeutigkeitsargument für einen Mythos. Ich selbst würde, gäbe es einmal Zweifel an der Eindeutigkeit, durchaus versuchen, das Gelingen der Kommunikation durch geschlechterexplizite Formen zu gewährleisten. Ich kann mich aber an keinen Fall erinnern, in dem das jemals nötig gewesen wäre. Interessantere Gründe für die Verwendung der "geschlechtergerechten" Formen hatten wir ja schon diskutiert ("seht her, ich mache mit bei diesem Spiel, und ich bin nett zu euch Frauen").

Zitat von: Kilian in 2015-06-11, 20:18:58
ZitatUnd das erklärte Ziel dieser Linguistik ist nun einmal die flächendeckende, kontextunabhängige Durchsetzung der "geschlechtergerechten" Formen und damit die Abschaffung des generischen Maskulinums selbst dort, wo es völlig unproblematisch ist.

Kannst du diese Behauptung auch belegen?

Wenn Du meinst, dass das nötig ist, gern: Als "feministischer Imperativ" gilt der Satz "Bezeichne nie eine Frau, einschliesslich dir selbst, mit einem grammatischen Maskulinum". Gefunden einfach über den Wikipedia-Artikel "Feministische Linguistik".

Zitat von: Kilian in 2015-06-11, 20:18:58
ZitatIn diesem Projekt ist Sprache nur ein Instrument und kein wissenschaftlicher Gegenstand: "Wir wollten untersuchen, ob man durch eine geschlechtergerechte Sprache die Wirkung des Geschlechtsstereotyps aushebeln kann" (Autor); "gesellschaftliche Wirklichkeit ändert sich eben (auch) über den Sprachgebrauch" (Sprachlog).

Wie kommst du auf ,,nur"? Auch Instrumente kann man wissenschaftlich untersuchen.

Zweifellos. Aber es ist ein Unterschied, ob man etwas im Hinblick auf einen möglichen Einsatz als Instrument in einem gesellschaftlichen Projekt untersucht oder um seiner Beschaffenheit selbst willen. Der Satz bezog sich auf die "feministische Linguistik", die weniger eine Wissenschaft im eigentlichen Sinne als ein sich mit einem wissenschaftlichen Deckmäntelchen behängender Teil des politisch-sozialen Projekts Feminismus ist. Ihr primäres Ziel ist es nicht, Sprache zu untersuchen, sondern sie zu ändern. Sprachdeskription dient damit lediglich der Vorbereitung der Erfüllung des feministischen Arbeitsauftrags. Sprache kann unter solchen Imperativen natürlich niemals Gegenstand vorurteilsfreier echt wissenschaftlicher Forschung sein. Dass eine solche sich als "intervenierend" verstehende "sozialwissenschaftliche Disziplin" (beides Wikipedia-Artikel) weder Bedarf noch Interesse an einer Differenzierung der ihr zugrundeliegenden Sprachdeskription hat, sondern lieber die immer gleichen Mythen hundertfach "empirisch" reproduziert und darauf hofft, dass die Sprache tatsächlich von immer mehr Menschen als "männlich dominiert" empfunden wird, wenn man es nur oft und laut genug behauptet, mag verständlich sein. Aber der in vielerlei Hinsicht gute Zweck heiligt m.E. nicht die wissenschaftlich unzulänglichen Mittel.

Zitat von: Kilian in 2015-06-11, 20:18:58
ZitatIch glaube nicht, dass eine Studie mit 6-12jährigen Kindern über dieses Wortmaterial wirklich ein Beleg für eine solche Kausalitätsumkehr sein kann.

Was für eine ,,Kausalitätsumkehr"?

Unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit prägt unser Vokabular, nicht umgekehrt.

Zitat von: Kilian in 2015-06-11, 20:18:58
??? Generisches Maskulinum ist unproblematisch, aber man sollte es erst ab 12? 16? 18? freigeben? 6-12-jährige Kinder sind doch Teil unserer Gesellschaft und Sprachgemeinschaft, du kannst doch das, was sie mit Sprache machen und was Sprache mit ihnen macht, nicht für irrelevant erklären?

Das  ??? gebe ich zurück. Was ist an meinem Satz unklar? Es ist nur einfach kein Wunder, dass Kinder noch nicht über genug sprachliche Erfahrung verfügen, um echtes von generischem Maskulinum sicher zu unterscheiden, und deshalb im Zweifel zum häufigeren, dem echten, tendieren. Wo hätte ich Kinder für irrelevant erklärt? Ich glaube nur nicht, dass man aus dieser an Kindern durchgeführten Studie verallgemeinernd folgern kann, dass die Welt mit Vokabeln zu ändern ist. Für die Durchsetzung einer solchen Theorie müsste auch erst einmal die m.E. sehr ernst zu nehmende Hypothese der Euphemismus-Tretmühle (http://de.wikipedia.org/wiki/Euphemismus-Tretm%C3%BChle) außer Kraft gesetzt werden.

Zitat von: Kilian in 2015-06-11, 20:18:58
ZitatIch bin völlig sicher, dass ein ähnlicher Test mit meinen Studenten keinen messbaren Effekt ergäbe – es sei denn, die Kenntnis des Diskurses selbst und der Wille, entsprechend zu antworten, um das Ergebnis in eine bestimmte Richtung zu steuern, ergäbe einen unerwünschten Rückkopplungseffekt.

Steile These.

Ach was, Erfahrung. Die Studenten sind intellektuell hinreichend regsam, die verstehen die Nuancen. Jahrzehntelanges komplett unfallfreies Sprechen mit dieser Personengruppe unter sehr fleißiger Verwendung des generischen Maskulinums macht mich da zuversichtlich.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-06-12, 09:02:31
Noch ein kleines Gedankenexperiment. Nehmen wir den folgenden Abschnitt aus der Wikipedia ("Feministische Linguistik") [meine Kursivierungen]:

"Die Feministische Linguistik richtet sich gegen den Gebrauch des generischen Maskulinums in der deutschen Sprache. Die Formen der Nomina und der zugehörigen Personal- und Possessivpronomina seien im Deutschen beim generischen Maskulinum mit denen des spezifischen Maskulinums (der Bezeichnung für einzelne Jungen oder Männer bzw. für Gruppen, die ausschließlich aus Jungen oder Männern bestehen) identisch. Dies führe zu der Notwendigkeit, komplizierte Paraphrasierungen vorzunehmen, wenn man verdeutlichen wolle, dass eine bestimmte Personenbezeichnung sich nur auf männliche Personen bezieht. Diese Umformungen würden – so die Analyse um 1980 – jedoch im realen Sprachgebrauch nur selten gemacht; dadurch bleibe unklar, ob eine grammatisch maskuline Personenbezeichnung als generisches oder als spezifisches Maskulinum gemeint sei. Diese Vermischung von generischem und spezifischem Maskulinum in der Sprachverwendung wurde anhand vieler empirischer Untersuchungen belegt. [Für diesen trivialen Nachweis braucht man also Probanden? Sehr lustig – aber das nur nebenbei. H.] ...

Durch die Doppelfunktion grammatisch maskuliner Personenbezeichnungen würden Frauen, so die Autorinnen dieser Studien, systematisch ,,unsichtbar gemacht". Während Männer bei Verwendung maskuliner Personenbezeichnungen immer gemeint seien, sei es bei solchen Bezeichnungen unklar, ob Frauen mitgemeint seien oder nicht."

Aus dem bloßen Befund könnte man ebenso gut, wären die gesellschaftlichen Vorzeichen umgekehrt, das Programm einer maskulistischen Linguistik herleiten: Frauen genießen offenbar das Privileg, über eigene, eindeutig weiblich denotierte Formen zu verfügen. Demgegenüber weiß man, wenn man mit Maskulina spezifisch über Männer sprechen will, nie, ob die Form nicht generisch verstanden werden könnte. Die Männer werden also in der gemeinsamen Masse von Männern und Frauen "unsichtbar gemacht". Frauen dürfen sich so in beiden Genera breit machen, während Männer auf ein Genus beschränkt bleiben, das sie nicht einmal ganz für sich haben. Wer das vermeiden will, muss "komplizierte Paraphrasierungen vornehmen".

Man sieht, der asymmetrische Befund ließe sich gegebenenfalls auch genau umgekehrt interpretieren. Je nachdem, welches gesellschaftliche Programm man verfolgen will, kann man die an sich völlig harmlose Deskription in der gewünschten Weise ideologisch "pushen".

In gewisser Weise analog ist die Interpretation der Beobachtung, dass im Laufe der Sprachgeschichte Ausdrücke für "Frau" offenbar zur Pejorisierung neigen: Früher war "Weib" das normale Wort, jetzt klingt es negativ, "Frau" genügte in bestimmten Zusammenhängen irgendwann auch nicht mehr und musste durch "Dame", "Gattin" usw. ersetzt werden. Ist das Ausdruck männlicher Frauenverachtung? Könnte man denken, und wenn man eine geschickt zugeschnittene Studie mit Probanden durchführt, kann man bestimmt "empirisch" durch Statistiken "beweisen", dass eine Mehrheit solche Pejorisierung als Diskriminierung  von männlicher Seite empfindet (diese Ansicht gibt es übrigens wirklich). Nun hat aber Rudi Keller in seinem Buch "Sprachwandel" – durch bloßes Nachdenken! – völlig überzeugend dargelegt, dass das Gegenteil der Fall ist: Durch das beständig von Männern gegenüber Frauen gespielte "Galanteriespiel" nutzen sich Ausdrücke für "Frau" mit der Zeit ab und es müssen oben in der Skala immer neue galante Wörter angefügt werden, wodurch die alten nach unten rutschen. Die scheinbare "Pejorisierung" ist also eine Folge des männlichen Bemühens um möglichst positive Ausdrucksweise.

Das nur, um davor zu warnen, bei Oberflächenbefunden hängen zu bleiben und einseitige Schlüsse zu ziehen.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Wortklaux in 2015-06-12, 17:06:22
Das mit den Feuerwehrmännern kommt mir auch sehr spanisch vor (jedenfalls nicht deutsch). Ich habe in der Schule gelernt, dass der Plural von "Feuerwehrmann" "Feuerwehrleute" heißt.

Dabei ging mir gerade die Frage auf, ob "Leute" eigentlich auch ein generisches Maskulinum ist. Ich wüsste kein Kriterium, nach dem man diese Frage beantworten könnte. Allenfalls vielleicht anhand der Entscheidung, welche von den unten angegebenen drei Formulierungen natürlich klingt / annehmbar ist / dem Sprachgefühl wiederstrebt:

a) Diesen Schmutz hat einer der Leute aus dem Haus hinterlassen, und ich weiß auch, wer.
b) Diesen Schmutz hat eine der Leute aus dem Haus hinterlassen, und ich weiß auch, wer.
c) Diesen Schmutz hat eins der Leute aus dem Haus hinterlassen, und ich weiß auch, wer.

Wenn man für Leute "Kinder" einsetzt, ist eindeutig c) richtig. Wenn man "Personen" einsetzt, eindeutig b). Bei "Menschen" ist es a), und daraus kann man jeweils eindeutig entnehmen, welches Geschlecht das Wort hat.

Aber komisch, bei "Leute" kommt mir jede dieser Formulierungen irgendwie gleich möglich und gleich falsch vor. Hat "Leute" also gar kein Geschlecht? In meinem Kopf anscheinend nicht. Also ist vielleicht "Leute" wirklich ein gerechtes Wort.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-06-12, 17:41:32
Der Plural ist im Deutschen im Prinzip morphologisch genuslos. Das merkt man immer dann, wenn kein Singular da ist, wie bei "Leute". (Das ist auch der entscheidende Grund für die geringere männliche Markiertheit von generischen Maskulina im Plural gegenüber dem Singular.) Man muss also, wenn man ein Genus im Plural ermitteln will, immer äußere Kriterien hinzuziehen aus anderen Teilen des Paradigmas (das ist im Normalfall der Singular), durch Rekurs auf sprachgeschichtliche Daten oder – wie in Deinem Fall – durch noch andere Versuche.

Es ist aber überlegenswert, ob man nicht, statt Pluralformen auf künstlichen Umwegen eine Kategorie "Genus" zuzuweisen, die morphologisch gar nicht nachweisbar ist, sagen sollte, dass der Plural im Deutschen grundsätzlich genusindifferent ist und diese Kategorie nur im Singular existiert. Das klingt kühner, als es wahrscheinlich ist. Ich meine mich zu erinnern, dass mein Sprachwissenschaftsprofessor in Göttingen diese Ansicht vertrat.

Nachtrag: Die Duden-Grammatik vermerkt hier nur: "Bei Wörtern, die nur im Plural vorkommen ..., kann ... kein Genus festgestellt werden." Es wäre wahrscheinlich eine philosophische Frage, ob der Satz bedeutet, dass diese Wörter ein Genus haben, das nur nicht feststellbar ist (sozusagen ein Schrödinger-Genus), oder ob sie keins haben.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-06-12, 17:54:24
Übrigens klingt in meinen Ohren nur Dein Satz a) einigermaßen in Ordnung, aber nicht deshalb, weil "Leute" vielleicht Maskulinum ist, sondern eher über die Gleichung "jemand von den Leuten" ("der Jemand", also maskulin) = "einer von den Leuten". Ich vermute, da "Leute" genusindifferent ist, verträgt es die Kombination mit dem generischen (schwach männlich markierten) Maskulinum Singular "jemand" oder (schon deutlich stärker männlich markiert) "einer", aber – zumindest nach meinem Gefühl – nicht die mit einem spezifischen Femininum oder Neutrum. Aber vielleicht hat jemand anders eine bessere Erklärung.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Wortklaux in 2015-06-12, 19:48:59
Zitat von: Homer in 2015-06-12, 17:54:24
Übrigens klingt in meinen Ohren nur Dein Satz a) einigermaßen in Ordnung, aber nicht deshalb, weil "Leute" vielleicht Maskulinum ist, sondern eher über die Gleichung "jemand von den Leuten" ("der Jemand", also maskulin) = "einer von den Leuten". Ich vermute, da "Leute" genusindifferent ist, verträgt es die Kombination mit dem generischen (schwach männlich markierten) Maskulinum Singular "jemand" oder (schon deutlich stärker männlich markiert) "einer", aber – zumindest nach meinem Gefühl – nicht die mit einem spezifischen Femininum oder Neutrum. Aber vielleicht hat jemand anders eine bessere Erklärung.
Das heißt, dass in diesem Fall eine Gleichung gilt, die in anderen, ansonsten parallelen Fällen nicht gilt? Denn man sagt ja auch "jemand von den Personen" oder "jemand von den Kindern", aber dennoch nicht "einer von den Personen" oder "einer von den Kindern".
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-06-12, 19:58:35
Sieht so aus. Das stärker als "jemand" männlich markierte "einer" verträgt sich vielleicht gerade noch mit dem genuslosen "Leute", aber nicht mehr mit eindeutigen Feminina oder Neutra (die zwar in Deinen Beispielen im Plural vorkommen, aber durch die Partitivverbindung mit "ein-" ihr singularisches Genus in den Satz einbringen).
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Wortklaux in 2015-06-12, 23:30:56
Heißt es eigentlich
Meine Mutter ist jemand, dem ich ganz und gar vertraue.
oder
Meine Mutter ist jemand, der ich ganz und gar vertraue.

Mir kommt letzteres natürlicher über die Lippen. Das hieße aber, dass das Wort "jemand" sein angebliches grammatisches Geschlecht nur sehr schwach einfordert, denn seine Wirkung reicht nicht einmal über das Komma hinweg. Es kommt mir dann doch merkwürdig vor, dieses Wort selbst dann, wenn es nicht explizit ausgesprochen wird, für die Kasuswahl eines anderen Wortes verantwortlich zu machen.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-06-13, 01:01:01
Mir geht es hier genau umgekehrt: dem klingt völlig in Ordnung, der würde ich nie sagen. Das grammatische Genus setzt sich, glaube ich, ganz regelmäßig gegen das semantische durch, wie in Mein Vater ist eine Person, der ich vertraue und nicht dem ich vertraue.

Nachtrag: Aber sieh an, die Duden-Grammatik nennt bei jemand und niemand auch den Bezug auf das natürliche Geschlecht an zweiter Stelle als akzeptabel. Wie gesagt, das wäre überhaupt nicht meine Wahl (und ich habe das Gefühl, wenigstens in ambitionierterem Schriftdeutsch sollte man es meiden), ist aber offenbar möglich. In einer älteren Auflage (1998) wird noch ausdrücklich betont, dass das nicht standardsprachlich ist, aber im Zuge feministischer Sprachänderungsbemühungen propagiert wird. Das ist also etwas ziemlich Neues; insofern kein Wunder, dass mir das nicht eingängig ist.

Bei Substantiven wie Person bleibt es aber bei der konsequenten Kongruenz mit dem grammatischen Genus.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Wortklaux in 2015-06-13, 09:24:05
Zitat von: Homer in 2015-06-13, 01:01:01
Das grammatische Genus setzt sich, glaube ich, ganz regelmäßig gegen das semantische durch, wie in Mein Vater ist eine Person, der ich vertraue und nicht dem ich vertraue.
...
Bei Substantiven wie Person bleibt es aber bei der konsequenten Kongruenz mit dem grammatischen Genus.
Daran habe ich auch gar keine Zweifel, und käme mir die gegenteilige Formulierung ganz abwegig vor. Bei jemand bin ich jemand, der offensichtlich in seinem Sprachgefühl ein wenig mehr mit der Zeit gegangen ist als Du.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-06-13, 09:36:27
Habe auch noch mal meine Frau gefragt, von der ich vermutet hätte, dass ihr Sprachgefühl "aktueller" ist. Aber femininer Anschluss an jemand und niemand klingt für sie auch schief, und sie hat die Konstruktion auch sofort richtig zugeordnet ("das liest man immer in feministischen Blogs"). Ich glaube immer mehr, der Duden hat sich nur bei den feministischen Sprachschrauberinnen angebiedert, als er das für gleichwertig erklärte. Mit "mit der Zeit gehen" oder nicht hat das nichts zu tun.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Wortklaux in 2015-06-13, 10:51:34
Da ich eigentlich nie feministische Blogs lese, kann es daran nicht liegen.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Zitat von: Homer in 2015-06-12, 03:02:10
1. Ja, es gibt völlig unproblematische Fälle: "Die Römer sprachen Latein" (s.o.).

Beschwere ich mich auch nicht drüber. Ich kann aber auch Kristin Kopf gut verstehen, die lieber zu einer randomisierten Liste greift, als sich jedes Mal den Kopf darüber zu zerbrechen, ob ein generisches Maskulinum hier völlig unproblematisch ist oder nicht.

Zitat2. Wofür ist es überhaupt wichtig, ob eine sprachliche Äußerung oder Teile davon etwas mehr oder etwas weniger spontan richtig verstanden werden? Ich halte meine Gesprächspartner in der Regel bis zum Beweis des Gegenteils für geistig flexibel und habe keine Lust, ihnen durch einen Eindeutigkeits-Overkill etwas anderes zu signalisieren.

Erstens gibt es das Argument der höheren kognitiven Bürde für Frauen (s.o.). Zweitens wird die Ambiguität nicht in jedem Diskurs schlussendlich aufgelöst werden, die männliche Interpretation bleibt also möglich und läuft Gefahr, bei der Hörerin bestehende Rollenstereotype zu verstärken. Zumindest halte ich das für möglich.

Zitat3. Was (eventuell) erschwertes Verständnis mit Diskriminierung zu tun haben könnte, ist mir unerfindlich.

Siehe meine Antwort zu Punkt 2.

ZitatUnd warum wäre unter dem Blickwinkel der Verständlichkeit ein Satz wie "Linguisten sind alle Idioten" eher für rezipierende Frauen ein Problem als für Männer?

Weil der männliche Linguist sofort weiß, dass er beleidigt wurde, die weibliche Linguistin dagegen erst ermitteln muss, ob sie mitgemeint ist.

Zitat4. Warum soll ich Nicht-Diskriminierung durch generische Maskulina nachweisen? Im allgemeinen muss aus prinzipiell-methodischen Gründen in der Forschung die Existenz von etwas nachgewiesen werden und nicht die Nicht-Existenz.

Gut, lass es mich anders sagen: Du bezeichnest bestimmte generische Maskulina in bestimmten Situationen als völlig unproblematisch, nur hat anscheinend noch keine Studie deren Problematizität nachzuweisen versucht. Worin also besteht die Uneinigkeit zwischen dir und den Studien?

ZitatDie Beweislast liegt bei denen, die daran glauben, dass Teile der langue per se diskriminieren können.

Zu denen würde ich weder die Autorinnen der hier genannten Studie noch die darüber Berichtenden zählen. Auch sie erkennen, so weit ich das sehe, an, dass es der Sprachgebrauch ist, der eventuell diskriminiert. Es kömmt mir also so für, als erirfest du dich über Strohleute.

Zitat5. Durch Beobachten und Nachdenken über Sprache werde ich nichts erfahren?

Das habe ich nicht geschrieben.

Zitat7. Warum ich mich dennoch beschwere? Unzureichend differenzierende Forschung, pauschalisierende Berichterstattung und politische Instrumentalisierung im Bereich eines sprachwissenschaftlichen Themas, das mich interessiert, darf ich doch wohl kritisieren.

Ja, aber ich habe den Eindruck, dass du in die Schlussfolgerungen der Studie und in die Berichterstattung mehr hineinliest, als da steht, nämlich ,,ein generische gemeintes Maskulinum zu verwenden ist unter allen Umständen böse". Sagt doch da niemand.

ZitatDoch, es geht eindeutig um generische Maskulina vs. "geschlechtergerechte" Formen.

Es geht um männliche vs. "geschlechtergerechte" Formen. Wo steht, dass die untersuchten männlichen Formen generisch sein sollten?

ZitatLeider habe ich die Studie selbst noch nicht sehen können, da der entsprechende Faszikel in unserer UB noch nicht online verfügbar ist. Aber der Sprachlog-Bericht zitiert ja die vier Fragen, die den Kindern gestellt wurden. Bei den ersten drei ist sicherlich in die Platzhalter-Lücke ein Singular einzusetzen, bei der vierten ein Plural.

Ach so, ja, stimmt, mein Fehler. Wäre in der Tat interessant zu sehen, ob der Effekt auch ohne den Singular auftritt.

ZitatWie Du weißt, bezweifle ich das stark. Mir fallen nach wie vor keine realitätsnahen Sätze mit generischen Maskulina ein, die in einem klar definierten Kontext in einem Gespräch unter sprachlich sensiblen, kooperativen Gesprächspartnern zu Missverständnissen führen könnten. Solange mir niemand überzeugende Beispiele präsentiert, halte ich das Eindeutigkeitsargument für einen Mythos.

Was meinst du mit "Missverständnis"?

Das weitere Gespräch ins Stocken bringen werden solche Interpretationsschwierigkeiten wohl in der Tat kaum je.

Denn entweder klärt der weitere Verlauf des Gesprächs oder Nachdenken über den Zusammenhang, welchen Geschlechts die gemeinten Personen sind. In dem Fall besteht aber immer noch eine lokale Ambiguität – eben jene Sekundenbruchteile verzögerter Reaktion, die in psycholinguistischen Experimenten gemessen werden, bzw. das Warten auf die zusätzliche Information. Und wie ich schon oft sagte, ist von dieser kognitiven Bürde systematisch eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe (Frauen) stärker betroffen als der Rest. Das allein sollte Grund genug sein, generische Maskulina tendenziell zu vermeiden.

Oder es wird nie aufgeklärt, weil das Geschlecht der Personen für das Gespräch (auf der Sachebene) nicht relevant ist.

Z.B.: "Ich werde mich mit meinen Anwälten besprechen."

Auch wenn das generisch gemeint war, stellt die Gesprächspartnerin sich jetzt möglicherweise ein rein männliches Team vor. Du kannst natürlich sagen, dass dieses im Kontext von sprachlicher Kommunikation auftretende Phänomen lediglich ein Symptom der gesellschaftlichen Verhältnisse ist. Aber die Studie von Vervecken legt nahe, dass dieses Symptom wiederum dazu beiträgt, das Übel zu verstärken, weil, wenn Frauen sich immer nur Männer in einem Beruf vorstellen, sie womöglich davon abkommen, sich für diesen Beruf zu entscheiden. Wer diesem Effekt entgegenwirken möchte, hat einen weiteren Grund, generische Maskulina zu vermeiden. Natürlich kann sich das mit Meta-Motiven verbinden, z.B. 1) eine Position zu beziehen für geschlechtergerechte Sprache, was auch andere dazu ermutigen soll ("seht her, ich mache mit bei diesen Spiel, tut es mir gleich"), 2) sich als "Ally" profilieren ("seht her, ich mache mit bei diesem Spiel, ich bin toll") usw.

ZitatZweifellos. Aber es ist ein Unterschied, ob man etwas im Hinblick auf einen möglichen Einsatz als Instrument in einem gesellschaftlichen Projekt untersucht oder um seiner Beschaffenheit selbst willen. Der Satz bezog sich auf die "feministische Linguistik", die weniger eine Wissenschaft im eigentlichen Sinne als ein sich mit einem wissenschaftlichen Deckmäntelchen behängender Teil des politisch-sozialen Projekts Feminismus ist. Ihr primäres Ziel ist es nicht, Sprache zu untersuchen, sondern sie zu ändern. Sprachdeskription dient damit lediglich der Vorbereitung der Erfüllung des feministischen Arbeitsauftrags. Sprache kann unter solchen Imperativen natürlich niemals Gegenstand vorurteilsfreier echt wissenschaftlicher Forschung sein. Dass eine solche sich als "intervenierend" verstehende "sozialwissenschaftliche Disziplin" (beides Wikipedia-Artikel) weder Bedarf noch Interesse an einer Differenzierung der ihr zugrundeliegenden Sprachdeskription hat, sondern lieber die immer gleichen Mythen hundertfach "empirisch" reproduziert und darauf hofft, dass die Sprache tatsächlich von immer mehr Menschen als "männlich dominiert" empfunden wird, wenn man es nur oft und laut genug behauptet, mag verständlich sein. Aber der in vielerlei Hinsicht gute Zweck heiligt m.E. nicht die wissenschaftlich unzulänglichen Mittel.

Kein/e Wissenschaftler/in ist vorurteilsfrei. Natürlich liegen der Auswahl von Untersuchungsgegenständen bestimmte Nachweisabsichten zugrunde. (An sich selbst so bezeichnenden feministischen Linguistinnen schätze ich u.a. die Unverhohlenheit ihrer Absichten.) Ich warte mit Spannung darauf, dass die Gegenseite Experimente designt, die empirisch genauer zeigen können, unter welche Umständen generische Maskulina problematisch sind und unter welchen nicht.

Zitat
Zitat von: Kilian in 2015-06-11, 20:18:58
ZitatIch glaube nicht, dass eine Studie mit 6-12jährigen Kindern über dieses Wortmaterial wirklich ein Beleg für eine solche Kausalitätsumkehr sein kann.

Was für eine ,,Kausalitätsumkehr"?

Unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit prägt unser Vokabular, nicht umgekehrt.

Außer bei 6-12-Jährigen, oder wie? Weil, dass der Sprachgebrauch (das Vokabular ist eher der langue zuzuordnen, oder?) die Wahrnehmung der Wirklichkeit bei denen mitprägt, hat die Studie ja gezeigt.

ZitatEs ist nur einfach kein Wunder, dass Kinder noch nicht über genug sprachliche Erfahrung verfügen, um echtes von generischem Maskulinum sicher zu unterscheiden, und deshalb im Zweifel zum häufigeren, dem echten, tendieren. Wo hätte ich Kinder für irrelevant erklärt? Ich glaube nur nicht, dass man aus dieser an Kindern durchgeführten Studie verallgemeinernd folgern kann, dass die Welt mit Vokabeln zu ändern ist.

Im Rahmen der Studie wurde die Welt doch bereits geändert, im kleinen Maßstab, in den Köpfen der Kinder. Dass das auch im größeren Maßstab funktioniert, ist damit natürlich nicht zweifelsfrei erwiesen. Aber das Ergebnis deutet zumindest in die Richtung.

ZitatFür die Durchsetzung einer solchen Theorie müsste auch erst einmal die m.E. sehr ernst zu nehmende Hypothese der Euphemismus-Tretmühle (http://de.wikipedia.org/wiki/Euphemismus-Tretm%C3%BChle) außer Kraft gesetzt werden.

Bei der Euphemismus-Tretmühle geht es um negativ konnotierte Begriffe, was hat das mit unserem Thema hier zu tun?

ZitatJahrzehntelanges komplett unfallfreies Sprechen mit dieser Personengruppe unter sehr fleißiger Verwendung des generischen Maskulinums macht mich da zuversichtlich.

Siehe meine obigen Ausführungen zu "Missverständnis". Dass man Effekte dieses Sprachgebrauchs (insbesondere als Mann) nicht bemerkt, bedeutet nicht, dass sie nicht existieren.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Kilian in 2015-06-13, 11:25:19
Zitat von: Homer in 2015-06-12, 09:02:31Aus dem bloßen Befund könnte man ebenso gut, wären die gesellschaftlichen Vorzeichen umgekehrt, das Programm einer maskulistischen Linguistik herleiten: Frauen genießen offenbar das Privileg, über eigene, eindeutig weiblich denotierte Formen zu verfügen. Demgegenüber weiß man, wenn man mit Maskulina spezifisch über Männer sprechen will, nie, ob die Form nicht generisch verstanden werden könnte. Die Männer werden also in der gemeinsamen Masse von Männern und Frauen "unsichtbar gemacht".

Inwiefern ist das einen ,,Unsichtbarmachung", wenn man, wenn man ein Maskulinum hört, sich zu 99% sicher sein kann, dass zumindest ein Teil der gemeinten Gruppe männlich ist?
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Kilian in 2015-06-13, 11:34:25
Zitat von: Homer in 2015-06-12, 17:41:32
Der Plural ist im Deutschen im Prinzip morphologisch genuslos. Das merkt man immer dann, wenn kein Singular da ist, wie bei "Leute". (Das ist auch der entscheidende Grund für die geringere männliche Markiertheit von generischen Maskulina im Plural gegenüber dem Singular.) Man muss also, wenn man ein Genus im Plural ermitteln will, immer äußere Kriterien hinzuziehen aus anderen Teilen des Paradigmas (das ist im Normalfall der Singular), durch Rekurs auf sprachgeschichtliche Daten oder – wie in Deinem Fall – durch noch andere Versuche.

Es ist aber überlegenswert, ob man nicht, statt Pluralformen auf künstlichen Umwegen eine Kategorie "Genus" zuzuweisen, die morphologisch gar nicht nachweisbar ist, sagen sollte, dass der Plural im Deutschen grundsätzlich genusindifferent ist und diese Kategorie nur im Singular existiert. Das klingt kühner, als es wahrscheinlich ist. Ich meine mich zu erinnern, dass mein Sprachwissenschaftsprofessor in Göttingen diese Ansicht vertrat.

Ich sympathisiere auch damit, rein morphologisch bezeichnen manche den Plural als das ,,vierte Genus" des Deutschen. Semantisch sind die Anwälte oder die Fußpfleger m.E. freilich immer noch sexusmarkiert, wenn auch wahrscheinlich schwächer.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Kilian in 2015-06-13, 11:43:36
Zitat von: Homer in 2015-06-13, 01:01:01
Mir geht es hier genau umgekehrt: dem klingt völlig in Ordnung, der würde ich nie sagen. Das grammatische Genus setzt sich, glaube ich, ganz regelmäßig gegen das semantische durch, wie in Mein Vater ist eine Person, der ich vertraue und nicht dem ich vertraue.

Nachtrag: Aber sieh an, die Duden-Grammatik nennt bei jemand und niemand auch den Bezug auf das natürliche Geschlecht an zweiter Stelle als akzeptabel. Wie gesagt, das wäre überhaupt nicht meine Wahl (und ich habe das Gefühl, wenigstens in ambitionierterem Schriftdeutsch sollte man es meiden), ist aber offenbar möglich. In einer älteren Auflage (1998) wird noch ausdrücklich betont, dass das nicht standardsprachlich ist, aber im Zuge feministischer Sprachänderungsbemühungen propagiert wird. Das ist also etwas ziemlich Neues; insofern kein Wunder, dass mir das nicht eingängig ist.

Bei Substantiven wie Person bleibt es aber bei der konsequenten Kongruenz mit dem grammatischen Genus.

Ich empfinde da auch eine gewisse Spannung dazwischen, dass jemand meinem Sprachgefühl nach maskulines Genus aufweist, und meinen Bemühungen, dieses Genus möglichst nicht auf Personen weiblichen oder unbekannten Geschlechts anzuwenden. Eine hübsche Lösung, die ich manchmal lese und verwende, ist die Ersetzung von jemand oder auch man durch eine (feminin, für Frauen) oder eins (neutral, für Personen beliebigen Geschlechts). ;D Überhaupt bietet das Neutrum tolle Möglichkeiten, da hat ja Luise Pusch sehr kreative Vorschläge gemacht. Warum ist die eigentlich nicht längst als unser Ehrenmitglied nominoren? Gleich mal nachholen.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-06-13, 13:40:41
Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:34:25
Zitat von: Homer in 2015-06-12, 17:41:32
Der Plural ist im Deutschen im Prinzip morphologisch genuslos. Das merkt man immer dann, wenn kein Singular da ist, wie bei "Leute". (Das ist auch der entscheidende Grund für die geringere männliche Markiertheit von generischen Maskulina im Plural gegenüber dem Singular.) Man muss also, wenn man ein Genus im Plural ermitteln will, immer äußere Kriterien hinzuziehen aus anderen Teilen des Paradigmas (das ist im Normalfall der Singular), durch Rekurs auf sprachgeschichtliche Daten oder – wie in Deinem Fall – durch noch andere Versuche.

Es ist aber überlegenswert, ob man nicht, statt Pluralformen auf künstlichen Umwegen eine Kategorie "Genus" zuzuweisen, die morphologisch gar nicht nachweisbar ist, sagen sollte, dass der Plural im Deutschen grundsätzlich genusindifferent ist und diese Kategorie nur im Singular existiert. Das klingt kühner, als es wahrscheinlich ist. Ich meine mich zu erinnern, dass mein Sprachwissenschaftsprofessor in Göttingen diese Ansicht vertrat.

Ich sympathisiere auch damit, rein morphologisch bezeichnen manche den Plural als das ,,vierte Genus" des Deutschen. Semantisch sind die Anwälte oder die Fußpfleger m.E. freilich immer noch sexusmarkiert, wenn auch wahrscheinlich schwächer.

Ja. Was mich zögern lässt, voll und ganz auf diese Linie einzuschwenken, ist die offensichtlich stets lauernde Intuition, dass doch auch Wörter im Plural ein Genus haben müssen. Das bricht sich dann Bahn, wenn die Grammatik eine Entscheidung tatsächlich einfordert, wie in Partitivkonstruktionen. Einer der Anwälte geht, eine der Anwälte nicht (angenommen, es handelt sich im Kontext um eine bekanntermaßen gemischte Gruppe). Da strahlt der Singular ab, selbst wenn der Sexus der Anwaltsgruppe gemischt und das semantische Genus des Wortes neutral oder unermittelbar ist.

Ich würde mich, glaube ich, nur etwas anders ausdrücken als Du: Ich würde nicht sagen, dass die Anwälte und die Fußpfleger (in welchem Grade auch immer) sexusmarkiert sind, weil das nach einer konstanten Zuschreibung eines Grades von Markiertheit klingt. Ich glaube eher, dass kontextabhängig kognitive Abstufungen von Sexusmarkiertheit (da es sich um die Wörter, die signifiants, und nicht um die Personen, die signifiés, handelt, wäre übrigens "semantisches Genus" statt "Sexus" genauer) vorkommen, von tatsächlich unmarkiert – es stellt sich überhaupt kein "männlicher" Nebengedanke ein – bis zu stärkerer Markiertheit. Diese dynamische Vorstellung entspricht m.E. der Sprachwirklichkeit eher als das sehr holzschnittartige "Männer sind immer mitgemeint" der feministischen Linguistik. In dem Satz "Die Römer sprachen Latein" ist die Markierung offenbar in unverfänglichem, alltäglichem Zusammenhang komplett auf Null gestellt und wird erst durch sekundäre Sprachreflexion, also auf der Metaebene, aktiviert. In diesem Satz sind semantisch nicht Männer und Frauen mitgedacht, sondern weder Männer noch Frauen, auch wenn die Römer in der realen Welt Männer und Frauen waren. Spätestens seit Saussure, aber eigentlich schon seit Aristoteles weiß man, dass sprachliche Zeichen nicht Laute mit Gegenständen verknüpfen, sondern Lautvorstellungen mit psychischen Begriffsinhalten. Diese Begriffsinhalte unterliegen aber dem Prinzip der abstraktiven Relevanz (Ausdruck von Karl Bühler): Aus der nahezu unendlichen Fülle der möglichen realen Eigenschaften eines Gegenstands werden psychisch bei der Begriffsbildung nur diejenigen aktiviert, kraft deren das auszusprechende Wort in seine Funktion als "Zeichen für etwas" eintreten soll. (Niemand soll mir weismachen, dass er bei Römer immer das Merkmal Geschlecht mitdenkt; vielleicht seltener, aber oft genug gibt es sicher Kontexte, in denen bei Anwälte auch niemand Männer mitdenkt.) Das Verhältnis Gegenstand – Begriffsinhalt – Lautbild ist ständigen situativen Schwankungen unterworfen. Es ist vielleicht der entscheidende Grundfehler der feministischen Sprachwissenschaft (jedenfalls in der radikalen Form von Pusch usw.) überhaupt, hier lexikalisch stereotype Konstanz anzunehmen (ich würde eher sagen: zu postulieren), weil die sprachlichen Zeichen nicht zu Begriffsinhalten, sondern durch Kurzschluss direkt zu den Gegenständen/Personen der realen Welt mit der Fülle ihrer realen Eigenschaften in Beziehung gesetzt werden. Das hat noch Platon (ein hochgradig idealisierender und fundamentalistischer Kopf, mit dem sich Frau Pusch bestimmt bestens verstanden hätte*) im Kratylos so gemacht, aber schon sein Schüler Aristoteles, der große, geerdete Empiriker, hat ihm dafür eins übergebraten und das Saussuresche Modell einfach mal um mehr als 2000 Jahre vorweggenommen.

*Platons autoritärer, philosophisch als perfekt "gerecht" begründeter Idealstaat sieht übrigens exakt aus wie eine politische Vorlage für das, was die feministische Linguistik heute in der Sprache vorhat. Platons praktischer Versuch, seinen Modellstaat umzusetzen, ist bekanntlich krachend an der Wirklichkeit gescheitert. Gott sei Dank.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-06-13, 14:50:21
Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:25:19
Zitat von: Homer in 2015-06-12, 09:02:31Aus dem bloßen Befund könnte man ebenso gut, wären die gesellschaftlichen Vorzeichen umgekehrt, das Programm einer maskulistischen Linguistik herleiten: Frauen genießen offenbar das Privileg, über eigene, eindeutig weiblich denotierte Formen zu verfügen. Demgegenüber weiß man, wenn man mit Maskulina spezifisch über Männer sprechen will, nie, ob die Form nicht generisch verstanden werden könnte. Die Männer werden also in der gemeinsamen Masse von Männern und Frauen "unsichtbar gemacht".

Inwiefern ist das einen ,,Unsichtbarmachung", wenn man, wenn man ein Maskulinum hört, sich zu 99% sicher sein kann, dass zumindest ein Teil der gemeinten Gruppe männlich ist?

Durch das mögliche Missverstehen eines spezifisch männlich gemeinten Maskulinums als generisch wird das Merkmal "männlich" entwertet, was den Frauen im Femininum nicht passieren kann.

Aber nimm das, was ich geschrieben habe, als das, was gemeint war: als Parodie auf die Argumentationsweise der feministischen Linguistik. Ich glaube, mein parodistisch gemeintes Argument ist nicht schlechter als das der Feministinnen, das im Gegensatz dazu allerdings eine unfreiwillige Parodie seriösen Argumentierens ist.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: amarillo in 2015-06-13, 18:23:07
Entschuldigt bitte meinen Eingratsch:

Es ist leider nicht so, daß ich Eurer hochwohllöblichen Disputation, die ich mit größtem Interesse und ebensolchem Nichtverstehen verfolge, auch nur ein Iota inhaltlicher Zutat angedeihen lassen könnte; erlaubt einem Simplex wie mir bitte nur diese Frage: Geht es -
eventuell auch nur in Nuancen - um ein Randproblem des politisch korrekten Sprachgebrauchs? Bitte, bitte: keine Abhandlung mehr,  ein schlichtes "Ja" - "Nein" - "Vielleicht" befrädöge mich vollends.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-06-13, 18:43:04
Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Beschwere ich mich auch nicht drüber. Ich kann aber auch Kristin Kopf gut verstehen, die lieber zu einer randomisierten Liste greift, als sich jedes Mal den Kopf darüber zu zerbrechen, ob ein generisches Maskulinum hier völlig unproblematisch ist oder nicht.

Ja, die randomisierte Liste ist sicher bequemer als eine Millisekunde zusätzlichen Nachdenkens. [*Sarkasmus* (Entschuldigung!)] "Sich den Kopf zerbrechen" (toller name pun übrigens, Respekt!) ist ein sehr starker Ausdruck für einen winzigen Moment der Unsicherheit, wie wir ihn täglich beim Kommunizieren in allen Bereichen der Sprache dutzendfach haben. Daran ist überhaupt nichts Vermeidenswertes.

Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Erstens gibt es das Argument der höheren kognitiven Bürde für Frauen (s.o.).

Ja, das Argument gibt es. Es ist aber – mit Verlaub – so evidenter Nonsens, dass ich mich frage, warum es dauernd wiederholt wird:

1. Polemisch: Ich wundere mich, dass Feministinnen eine so geringe Meinung von den kognitiven Fähigkeiten ihrer Geschlechtsgenossinnen haben. Könnte mir nicht passieren.

2. Jetzt im Ernst: Niemand wird vernünftigerweise bestreiten wollen, dass Männer und Frauen grundsätzlich gleich starke kognitive Kompetenzen haben. Wenn ich nun beispielsweise in einem Vortrag vor gemischtem Publikum einen Satz sage wie "Griechische Liebesdichter gebrauchten bestimmte lyrische Metra", dann ist die kognitive Bürde für Frauen wie Männer im Auditorium offensichtlich gleich hoch, vorausgesetzt sie stellen sich die Frage überhaupt, ob ich Sappho ein- oder ausschließen wollte (eine Frage, auf die man wohl nur mit feministischer Vorprägung kommt, was wiederum die Frage aufwirft, ob die feministische Linguistik die von ihr postulierte Kognitionslücke nicht überhaupt erst herbeiredet). Oder gibt es irgendeinen Grund, warum sich Frauen die Sappho-Frage eher stellen sollten als Männer, außer vielleicht wiederum dem eines feministischen Interesses? Das kann natürlich legitim sein, aber dann ist die höhere Bürde der Kognition selbstgeschaffen. Wenn ich mir eine Frage stelle, die sich andere nicht stellen, weil sie fernliegt – wie hier –, habe ich einfach mehr nachzudenken, das kann jeder selbst entscheiden. Man kann sich bestimmt Fälle ausdenken, in denen der Zweifel größer ist, aber in normalen Kontexten kommen Frauen und Männer beim Hören immer in gleicher Weise ins Grübeln oder nicht.

Ob es schwieriger wird – und das ist vermutlich bei dieser These eher gemeint –, wenn gemischte Gruppen angesprochen werden? Nehmen wir folgenden Fall: Ich halte einen Vortrag vor einem geschlechtlich gemischten Publikum von Studenten und Nicht-Studenten. Um den Zweifelsfaktor des Beispiels zu erhöhen, sei angenommen, der Vortrag drehe sich um das Verhältnis von Genus und Sexus, das Thema ist also in den Köpfen des Publikums. Nun sage ich: "Alle Studenten verlassen bitte den Raum!" Die männlichen Studenten wissen nun genau, dass sie gemeint sind, die weiblichen nicht. Sie wissen nicht, ob "Studenten" im Gegensatz zu "Studentinnen" steht oder zu "Nicht-Studenten". Aber ist das ein Fehler des generischen Maskulinums selbst? Mitnichten, es ist ein Fehler, den man in der Pragmatik behandeln würde, die sich mit grammatisch enkodierten Kontextbezügen beschäftigt. Der Fehler liegt bei mir, weil ich mich unklar ausgedrückt habe. Ich hätte das generische Maskulinum hier einfach nicht ohne Setzung weiterer Signale benutzen dürfen, weil die Gefahr des Missverständnisses im Raum lag.

Jetzt wirst Du sagen, es könnte Fälle geben, in denen jemand sich bemüht, sich klar auszudrücken und sicher ist, das generische Maskulinum erfülle diese Anforderung, aber trotzdem von Teilen der Hörerschaft missverstanden wird. Ich will das gern ernsthaft diskutieren und nicht einfach wegreden, habe aber große Schwierigkeiten, mir solche Fälle in neutralen, d.h. nicht feministisch (im Experimentsinne) "verunreinigten" Kontexten vorzustellen. Aber nehmen wir an, es gelänge, einen solchen Fall zu beobachten oder zu konstruieren – dann bliebe es doch ein ganz normales kommunikatives Missverständnis, das auf einer falschen Einschätzung des Sprechers von der gemeinsamen linguistischen Verstehensbasis mit den Rezipienten beruht. Es ist systematisch-pragmatisch nicht anders zu bewerten, als wenn ich ironisch spreche, die Ironie aber nur von einem Teil der Hörer verstanden wird. Auch hier habe ich unwissentlich die kognitive Bürde für manche Hörer erhöht, die weniger sensibel für diese Signale sind. Niemand käme deshalb auf die Idee zu behaupten, Ironie diskriminiere Leute, die für Ironie taub sind. Missverständnisse passieren dauernd, niemand regt sich darüber auf, man klärt sie eben hinterher schnell auf. Nur beim generischen Maskulinum diskutieren wir über maternalistische sprachpolizeiliche Maßnahmen, die solche harmlosen Hänger im Kommunikationsprozess von vornherein verhindern sollen, weil angeblich ausgerechnet diese Art Hänger diskriminiert. Eine hin und wieder mal notwendige Millisekunde zusätzlichen Gehirnschmalzverbrauchs rechtfertigt die Forderung nach Abschaffung einer grammatischen Kategorie, die zum Reichtum der Ausdrucksmöglichkeiten beiträgt? Das bloße Inkaufnehmen der Möglichkeit, selbst bei allerbestem Willen zur Klarheit missverstanden werden zu können, ist bereits diskriminierend? Ich, sprachlich und kommunikativ kein unsensibler Klotz (glaube ich), diskriminiere mit dem generischen Maskulinum also Frauen, ohne es zu merken, gegen meine stabile antidiskriminatorische Überzeugung? Was ist denn das für eine irrwitzige, inflationäre Aufladung dieses Wortes? Und das Empörungspotential in anderen Teilen der Sprache, insbesondere im Lexikon, ist ja auch nicht gerade gering. Mir wird himmelangst. Vielleicht sollte ich Trappist werden.

Also lassen wir es doch einfach dabei: Sprecher und Hörer bemühen sich wechselseitig um plausible Einschätzungen des vermutlichen linguistischen Horizonts des jeweils anderen. Alles andere überlassen wir dem normalen Sprachwandel, der sich seinen Weg bahnen wird, auch ohne dass Frau Pusch ihn herbeieifert. Und wenn dann weiterhin Platz für eine Möglichkeit ist, echte Sexusindifferenz auszudrücken (also nicht beide Geschlechter gleich zu nennen, sondern gar keins), welche grammatische Einkleidung sie auch immer zufällig haben mag, dann freue ich mich. Die "geschlechtergerechte Sprache" ist ganz klar nicht diese Lösung.

Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Zweitens wird die Ambiguität nicht in jedem Diskurs schlussendlich aufgelöst werden, die männliche Interpretation bleibt also möglich und läuft Gefahr, bei der Hörerin bestehende Rollenstereotype zu verstärken. Zumindest halte ich das für möglich.

Rollenstereotype entstehen im Kopf von rollenstereotypisch handelnden und sprechenden Individuen. Um durch die Verwendung welches sprachlichen Mittels auch immer Rollenstereotype bei einer kommunikativ kooperativen, verständigen Hörerin zu verstärken, muss ich ein Rollenstereotyp, das in mir lauert, in unsensibler Weise sprachliche Gestalt werden lassen. Das sind Effekte, die es gibt, die man aber nicht durch dirigistische Eingriffe in das Sprachsystem beseitigt. Wie schon einmal gesagt: Sprache kann nicht diskriminieren, das können nur Sprecher. Sprache an sich kann die Welt nicht verändern, sondern ihre Benutzung, das Sprechen also, wirkt auf Subjekte ein, die wiederum durch Handeln die Welt verändern. Dieser (http://www.diss-duisburg.de/Internetbibliothek/Artikel/Gewalt_gegen_Frauen.htm) (ansonsten nicht furchtbar ergiebige) der feministischen Linguistik gegenüber nicht unaufgeschlossene Artikel präzisiert immerhin das ganz gut. Es ist, um ein anderes Feld "bösen" Sprechens anzuführen, völlig in Ordnung, dass es die Wörter Neger und Zigeuner noch gibt. Sie sind nicht als Wörter schön "böse". Sie eignen sich nur heutzutage sehr gut dazu, "böse" benutzt zu werden. Aber das hat der Sprecher in der Hand. Ich könnte mir vorstellen, dass wir hierin nicht weit auseinanderliegen. Wenn Du Lust hast, lies mal das hier (http://www.taz.de/!5068913/) aus der taz.

Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
ZitatUnd warum wäre unter dem Blickwinkel der Verständlichkeit ein Satz wie "Linguisten sind alle Idioten" eher für rezipierende Frauen ein Problem als für Männer?

Weil der männliche Linguist sofort weiß, dass er beleidigt wurde, die weibliche Linguistin dagegen erst ermitteln muss, ob sie mitgemeint ist.

Woher weißt Du, dass dieser Satz an Linguisten gerichtet ist? Ich könnte ihn doch auch zu Physikern sprechen, die persönlich gar nicht betroffen sind. Und Physiker beiderlei Geschlechts werden diesen Satz gleich gut verstehen oder nicht verstehen (s.o.). Wenn aber Linguisten angesprochen sind, dann gilt auf der bloßen referentiellen Ebene des Sprachverstehens dasselbe: es gibt keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Was die Berechtigung angeht, sich beleidigt zu fühlen (die konative oder appellative Ebene), gilt, was ich oben gesagt habe: Ich habe offenbar nicht hinreichend klar gemacht, wer die Adressaten der Beleidigung sein sollten, es ist eine missverständliche Beleidigung. Das generische Maskulinum erfüllt den kommunikativen Zweck nicht richtig, den ich im Auge hatte. Wobei sich in diesem Fall die Unsicherheit eher zugunsten der Linguistinnen auswirkt, die nicht sicher davon ausgehen können, dass sie beleidigt worden sind: Diskriminierung aufgrund des Verdachts der Nicht-Beleidigung, lustig. Ich stelle mir vor, was passiert, wenn unter den Adressaten des Satzes feministische Linguistinnen sind: Die sind wahlweise beleidigt, weil sie zwar nicht beleidigt wurden, aber sich sprachlich diskriminiert wähnen, oder beleidigt, weil sie als Sprachwissenschaftlerinnen beleidigt wurden. Herrlich.

(continuabitur)
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-06-13, 18:51:55
Zitat von: amarillo in 2015-06-13, 18:23:07

Es ist leider nicht so, daß ich Eurer hochwohllöblichen Disputation, die ich mit größtem Interesse und ebensolchem Nichtverstehen verfolge, auch nur ein Iota inhaltlicher Zutat angedeihen lassen könnte

Jetzt stellst Du Dein Licht aber arg unter den Scheffel ...

Zitat von: amarillo in 2015-06-13, 18:23:07
erlaubt einem Simplex wie mir bitte nur diese Frage: Geht es -
eventuell auch nur in Nuancen - um ein Randproblem des politisch korrekten Sprachgebrauchs? Bitte, bitte: keine Abhandlung mehr,  ein schlichtes "Ja" - "Nein" - "Vielleicht" befrädöge mich vollends.

"Randproblem" mag sein, aber eines, an dem sich viel Grundsätzliches über Sprachverwendung, Sprachwandel und Sprachsteuerung festmachen lässt. Kurz genug?
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Wortklaux in 2015-06-13, 20:00:42
Zitat von: Wortklaux in 2015-06-12, 17:06:22
... ob "Leute" eigentlich auch ein generisches Maskulinum ist. Ich wüsste kein Kriterium, nach dem man diese Frage beantworten könnte. Allenfalls vielleicht anhand der Entscheidung, welche von den unten angegebenen drei Formulierungen natürlich klingt / annehmbar ist / dem Sprachgefühl wiederstrebt:

a) Diesen Schmutz hat einer der Leute aus dem Haus hinterlassen, und ich weiß auch, wer.
b) Diesen Schmutz hat eine der Leute aus dem Haus hinterlassen, und ich weiß auch, wer.
c) Diesen Schmutz hat eins der Leute aus dem Haus hinterlassen, und ich weiß auch, wer.

Wenn man für Leute "Kinder" einsetzt, ist eindeutig c) richtig. Wenn man "Personen" einsetzt, eindeutig b). Bei "Menschen" ist es a), und daraus kann man jeweils eindeutig entnehmen, welches Geschlecht das Wort hat.

Aber komisch, bei "Leute" kommt mir jede dieser Formulierungen irgendwie gleich möglich und gleich falsch vor. Hat "Leute" also gar kein Geschlecht? In meinem Kopf anscheinend nicht. Also ist vielleicht "Leute" wirklich ein gerechtes Wort.
Um noch einmal auf dieses Problem zurückzukommen, so gibt es doch eine Quelle mit erheblich höherer Autorität als den Duden, nach der nur Satz c) korrurgen sein kann:

Wie auch ,,das Mitglied", ,,das Opfer" und ,,das Leut" ist ,,das Elter" nicht nur inhaltlich, sondern auch grammatisch geschlechtsneutral, sodass es eine der wenigen Personenbezeichnungen ist, die der sprachlichen Gleichstellung von Frau und Mann überhaupt keine Probleme bereiten.

Als Beispiel bietet dieselbe Quelle:

Der Platz war voll von Leuten. Ich beschloss, eins von ihnen anzusprechen, um nach dem Weg zu fragen.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-06-14, 15:51:45
Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Gut, lass es mich anders sagen: Du bezeichnest bestimmte generische Maskulina in bestimmten Situationen als völlig unproblematisch, nur hat anscheinend noch keine Studie deren Problematizität nachzuweisen versucht. Worin also besteht die Uneinigkeit zwischen dir und den Studien?

Ich verstehe immer weniger, worauf Du hinauswillst. Ich sage, dass generische Maskulina, sensibel verwendet, unproblematisch sind. Es ist hingegen ein Dogma der feministischen Linguistik, dass sie grundsätzlich problematisch sind. Das kannst Du nicht bestreiten. Worüber würden wir sonst gerade sprechen? Und wo wäre sonst die Notwendigkeit, auf Drängen der entsprechenden Lobby ein Monstrum wie die flächendeckend (also kontextunabhängig) gegenderte StVO zu erschaffen, also einen Text an zahlreichen Stellen umzuschreiben, bei dem Missverständnisse schon qua Textsorte (Gesetze gelten immer für alle Geschlechter, sofern nicht Geschlecht deren Thema ist, und alle Frauen wissen das) vollkommen ausgeschlossen sind? Also sag bitte nicht, ich regte mich über etwas auf, das niemand meint. Was "die Studien" (also die nach sozialwissenschaftlicher Methodik mit Probanden arbeitenden, auf Statistik angelegten) angeht, so ist es mir im Grunde erst einmal völlig gleichgültig, was sie zu beweisen glauben oder nicht. Das ist m.E. aus systematisch-sprachwissenschaftlicher Sicht keine furchtbar interessante Forschung. Die feministische Linguistik zieht sie aber gern zum Beweis der Problematizität des generischen Maskulinums heran. Zitat Kristin Kopf: "Das Problem am generischen Maskulinum ist natürlich, dass es ein ganz normales Maskulinum ist, dass also nie klar ist, ob nur Männer oder eben Männer und Frauen gemeint sind, und die psycholinguistische Forschung zeigt, dass es zwar ,,generisch" verstanden werden kann, dass Versuchspersonen aber zunächst an Männer denken und erst nach einem messbaren Zeitraum zu einer Interpretation kommen, die Frauen mit einschließt."

Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
ZitatDie Beweislast liegt bei denen, die daran glauben, dass Teile der langue per se diskriminieren können.

Zu denen würde ich weder die Autorinnen der hier genannten Studie noch die darüber Berichtenden zählen. Auch sie erkennen, so weit ich das sehe, an, dass es der Sprachgebrauch ist, der eventuell diskriminiert. Es kömmt mir also so für, als erirfest du dich über Strohleute.

Würde mich freuen, wenn es so wäre. Dann würden sie sich allerdings weit von dem entsprechenden feministischen Dogma entfernen. Die Forderung, eine Frau kontextunabhängig "nie" mit einem Maskulinum zu bezeichnen, ist nicht mehr als eine parole-bezogene interpretierbar, sondern nur noch als "das generische Maskulinum ist per se böse".

Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Zitat5. Durch Beobachten und Nachdenken über Sprache werde ich nichts erfahren?

Das habe ich nicht geschrieben.

Das war überpointiert von mir, ich entschuldige mich. Was ich sagen wollte, ist nur (verkürzt): Die wissenschaftliche Methodik in den eher sprachsystematischen Bereichen der Sprachwissenschaft, die nicht an der Grenze zu den Sozialwissenschaften stehen, ist eine andere. Wie auch in der Literaturwissenschaft spielen dort "empirische" Studien mit Probanden, Statistik usw. fast keine Rolle, weil sie schlicht nichts zur Erkenntnis in diesen Feldern beitragen könnten. Zählen und Messen spielen bei der sauberen Kategorienbildung eben keine große Rolle.

Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Ja, aber ich habe den Eindruck, dass du in die Schlussfolgerungen der Studie und in die Berichterstattung mehr hineinliest, als da steht, nämlich ,,ein generische gemeintes Maskulinum zu verwenden ist unter allen Umständen böse". Sagt doch da niemand.

S.o.

Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Es geht um männliche vs. "geschlechtergerechte" Formen. Wo steht, dass die untersuchten männlichen Formen generisch sein sollten?

Überall, hier z.B.: "Soweit bestätigt das Experiment aus linguistischer Perspektive auf eine sehr interessante Weise den semantischen Effekt des generischen Maskulinums – dies wird offensichtlich als ,,männlich" interpretiert" (KK). Das ist das Thema der Studie, wie kommst Du darauf, das zu bestreiten? Die eine Gruppe der Kinder wird nach "geschlechtergerecht" bezeichneten Berufen gefragt, die andere nach "männlich" bezeichneten. In der Sache ist mit den Berufen in beiden Fällen dasselbe gemeint, Frauen wie Männer können sie ausüben, nur die sprachliche Bezeichnung ist verschieden. Die dahinterstehende Frage, inwieweit sich auch Mädchen vom Maskulinum angesprochen fühlen, ist nichts anderes als die nach dem generischen Maskulinum, auch wenn vielleicht dieser Terminus mangels sprachwissenschaftlicher Kenntnisse von den Psychologen nicht verwendet wird (in der Pressemitteilung kommt er nicht vor).

Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Denn entweder klärt der weitere Verlauf des Gesprächs oder Nachdenken über den Zusammenhang, welchen Geschlechts die gemeinten Personen sind. In dem Fall besteht aber immer noch eine lokale Ambiguität – eben jene Sekundenbruchteile verzögerter Reaktion, die in psycholinguistischen Experimenten gemessen werden, bzw. das Warten auf die zusätzliche Information.

Daran ist nichts schlimm, s.o.

Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Und wie ich schon oft sagte, ist von dieser kognitiven Bürde systematisch eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe (Frauen) stärker betroffen als der Rest. Das allein sollte Grund genug sein, generische Maskulina tendenziell zu vermeiden.

S.o.

Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Z.B.: "Ich werde mich mit meinen Anwälten besprechen."

Auch wenn das generisch gemeint war, stellt die Gesprächspartnerin sich jetzt möglicherweise ein rein männliches Team vor. Du kannst natürlich sagen, dass dieses im Kontext von sprachlicher Kommunikation auftretende Phänomen lediglich ein Symptom der gesellschaftlichen Verhältnisse ist. Aber die Studie von Vervecken legt nahe, dass dieses Symptom wiederum dazu beiträgt, das Übel zu verstärken, weil, wenn Frauen sich immer nur Männer in einem Beruf vorstellen, sie womöglich davon abkommen, sich für diesen Beruf zu entscheiden.

Ich wundere mich immer wieder von neuem darüber, wie wenig Feministinnen von Frauen halten. Frauen ergreifen bestimmte Berufe eventuell weniger, weil sie im generischen Maskulinum der Berufsbezeichnung "nur" mitgemeint sind? Ich möchte wissen, ob dieser Effekt, auch nur als Rollenstereotype verstärkend, irgendwie messbar ist. Das dürfte ein reines feministisches Postulat sein. Aber ich will nicht unnötig unfair sein: Da die Fragestellung hier den Bereich verlässt, in dem die Frage allein ist, ob es sich bei der feministischen Linguistik um gute Wissenschaft handelt (Antwort: nein, es handelt sich, zumindest in der radikalen Form, entweder um grotesk schlechte Wissenschaft oder um gar keine), und in die Frage übergeht, wie wir gesellschaftlich miteinander umgehen wollen, um Gleichstellung zu erreichen, gebe ich zu, dass Berufsbezeichnungen ein vergleichsweise sensibles Gebiet sind, bei dem im Zweifel lieber einmal zu viel gegendert werden sollte als zu wenig. Den obigen Fall würde ich aber noch nicht dazu rechnen.

Wenn der obige Satz generisch gemeint war und von der Rezipientin als generisch verstanden wurde, stellt sie sich eben gerade keine Männer vor, sondern abstrahiert völlig vom Geschlecht und denkt nur an "Leute", die den Anwaltsberuf ausüben. Wenn es generisch gemeint war, die Frau es aber nicht so versteht, dann müssen spezifische persönliche oder im Kontext liegende Gründe vorhanden sein, warum die Frau den Begriff "Anwälte" gegen die Intention des Sprechers geschlechtlich auflädt. Das ist ein in der Kommunikation unerwünschter Effekt, aber auch nichts um jeden Preis Vermeidenswertes. Es wird von der Hörerin eine vom Sprecher nicht intendierte Konnotation aktiviert, na und? Das passiert in jeder normalen Unterhaltung dauernd. Dein Beispielsatz ist aber sicher kein politischer oder kommunikativer Hochrisikosatz, Fettnäpfchengefahr sehr gering. Solange der Sprecher keine Gründe kennt, die es bei seiner besonderen Rezipientin ratsam erscheinen lassen zu gendern, drückt der obige Satz das Gemeinte einfach besser (nämlich geschlechtsneutral) und kürzer aus als der gegenderte.

Aber nehmen wir den Satz in "geschlechtergerechter" Sprache: "Ich werde mich mit meinen Anwältinnen und Anwälten besprechen." Im besten Fall begreift die Rezipientin die Doppelnennung einfach als Variante des generischen Maskulinums, obwohl sie das eigentlich nicht ist. Denn die überflüssige doppelte geschlechtliche Markierung kann auch stutzig machen: "Wozu muss ich wissen, dass der Sprecher anwaltlichen Beistand von Männern und Frauen hat. Welches Signal sendet er damit aus?" Wahrscheinlich gar keins, aber in solchen Fällen entsteht jetzt regelmäßig (durch die Markierung bedingt) eine Kognitionslücke, die gewiss nicht kleiner ist als die im Einzelfall auftretende beim generischen Maskulinum. Wobei mir diese Lücke genau so egal ist wie die andere. Beim Kommunizieren gibt es halt hin und wieder was zu denken.

Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Natürlich kann sich das mit Meta-Motiven verbinden, z.B. 1) eine Position zu beziehen für geschlechtergerechte Sprache, was auch andere dazu ermutigen soll ("seht her, ich mache mit bei diesen Spiel, tut es mir gleich"), 2) sich als "Ally" profilieren ("seht her, ich mache mit bei diesem Spiel, ich bin toll") usw.

Das halte ich auch für einen interessanten Aspekt, wie Du weißt. Weißt Du, ob dazu schon mal jemand was geschrieben hat?

(continuabitur)
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-06-14, 20:21:14
Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Kein/e Wissenschaftler/in ist vorurteilsfrei. Natürlich liegen der Auswahl von Untersuchungsgegenständen bestimmte Nachweisabsichten zugrunde.

Das ist ein brandgefährliches Statement, das zumindest einiger notwendiger Ergänzungen bedarf. Ich weiß auch, dass einzelne Wissenschaftler persönliche und fachliche Vorurteile und Vorannahmen mitbringen, wenn sie zu forschen beginnen. Sie haben auch ein Erkenntnisinteresse, das sich etwa in einer Arbeitshypothese äußern kann. Aber Vorannahmen und Erkenntnisinteresse sind deutlich von jeder Form von bias zu unterscheiden, wie sie die feministische Linguistik kennzeichnet. Um es pointiert zu sagen: Auch der (notwendigerweise) vorurteilsbehaftete Wissenschaftler muss und kann vorurteilsfreie Wissenschaft machen. Wir haben zwischen der unvermeidlichen persönlichen Vorurteilsbehaftetheit des Einzelnen und der anzustrebenden systemischen Vorurteilsfreiheit der scientific community zu unterscheiden. Schon der einzelne Wissenschaftler ist aufgefordert, sich nach Kräften gegen seine eigenen Vorurteile zu wehren, indem er seine Thesen bewusst Belastungstests durch Gegenthesen aussetzt (wir beide tun das gerade gegenseitig). Wichtiger ist aber, dass die systemische Interaktion der einzelnen Vorurteilsträger die Wissenschaft in der Summe vorurteilsfrei macht. Das funktioniert aber nur, wenn dieses System ungelenkt ist, d.h. wenn es auf keine politischen, gesellschaftlichen oder ideologischen Nachweisinteressen von seiten Dritter verpflichtet ist. In autoritären Staaten können deshalb weite Wissenschaftsbereiche nicht vorurteilsfrei sein. Wenn die feministischen Linguistinnen sich schon selbst als akademischen Arm der Frauenbewegung begreifen, die eine auf Veränderung und nicht auf Erkenntnis ausgerichtete Agenda hat, geben sie kund, dass sie eines auf keinen Fall wollen: mit ihrer ihnen zuzugestehenden Voreingenommenheit an einem insgesamt vorurteilsfreien Wissenschaftssystem mitzuarbeiten. Es wäre ja auch der Tod ihrer "Wissenschaft", wenn sie bereit wären, sich echt wissenschaftlichen Selbstregulierungsmechanismen zu unterwerfen, weil sie dann schon die deskriptive Basis, auf der sie ihre Forderungen – wo gibt es sonst eine Wissenschaft, deren Endzweck nicht das Erkennen, sondern das Fordern ist? – gründen, in die mit unendlicher Perspektive arbeitende Objektivierungsmaschine Wissenschaft einbringen müssten und zum Fordern gar nicht mehr kämen. Das Verfahren der Wahl ist also, sich überall das zusammenzusuchen, was die eigene Agenda zu unterstützen verspricht und alles andere auszublenden. Wählerisch kann man da natürlich nicht sein. Sicher sind nicht alle feministischen Linguistinnen gleich – es gibt wohl auch unter ihnen welche, die noch bereit sind, die eigenen Positionen in Frage zu stellen oder stellen zu lassen. Aber die Neigung zu starker moralischer Empörung, deftigem verbalen Umgang mit Andersdenkenden, autoimmunisierenden Argumentationsstrategien ("du als Mann merkst es doch oft gar nicht, wenn du Frauen diskriminierst" = "bleib draußen aus unserem Diskurs, du kannst nicht mitreden, du bist keiner von uns, du störst") und fortwährendem Bedarf an wechselseitiger gruppeninterner Bestätigung, also einen seiner Struktur nach autoritären Habitus, kann man im Netz wunderbar beobachten.

Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
(An sich selbst so bezeichnenden feministischen Linguistinnen schätze ich u.a. die Unverhohlenheit ihrer Absichten.)

Wirklich unverhohlen wären ihre Absichten erst dann, wenn sie zugäben, dass ihnen die Qualität ihrer deskriptiven Basis eigentlich völlig egal ist.

Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Ich warte mit Spannung darauf, dass die Gegenseite Experimente designt, die empirisch genauer zeigen können, unter welche Umständen generische Maskulina problematisch sind und unter welchen nicht.

Die Sprachwissenschaft, die ich meine und die für die Frage nach den Leistungen des generischen Maskulinums zuständig ist, "designt" aus guten Gründen keine "Experimente", sondern wertet Corpora aus. Man kann schon irgendwo auf den ersten Seiten in Saussures Cours nachlesen, dass bei Fragen des Sprachsystems keine psychologischen Überlegungen weiterhelfen.

Zitat von: Kilian in 2015-06-11, 20:18:58
Weil, dass der Sprachgebrauch (das Vokabular ist eher der langue zuzuordnen, oder?) die Wahrnehmung der Wirklichkeit bei denen mitprägt, hat die Studie ja gezeigt.

Glaubt sie vielleicht gezeigt zu haben, hat sie aber nicht. Ich habe sie jetzt online einsehen können. Sie ist linguistisch völlig unbedarft. Außer der Differenzierung in "pair forms" und "generic masculine forms" findet keine weitere sprachwissenschaftliche Grundlegung oder Differenzierung statt. Auch wird nicht diskutiert – was ich unbedingt erwartet hätte –, was die Abstraktionsleistung, die bei der Wahrnehmung des generischen Maskulinums zu erbringen ist, in dem Alter, in dem die Kinder sind, in Relation zu ihren altersgemäßen Abstraktionsfähigkeiten bedeutet und ob da nicht erhebliche Unterschiede zwischen 6- und 12-Jährigen bestehen. So kommt eigentlich nur heraus, dass die Ergebnisse differieren, je nachdem ob man versucht, die Kinder eine Abstraktion vollziehen zu lassen, die sie nur unvollkommen leisten können, oder ob man altersgerecht überexplizit wird. Das ist kein völlig uninteressantes Ergebnis, aber überhaupt keine Bestätigung für irgendeine These der feministischen Linguistik, wie das KK haben will. Ich habe also keine Kinder als Sprecher abgewertet, sondern nur die Verallgemeinerungsfähigkeit der Studie bezweifelt.

Zitat von: Kilian in 2015-06-11, 20:18:58
Im Rahmen der Studie wurde die Welt doch bereits geändert, im kleinen Maßstab, in den Köpfen der Kinder. Dass das auch im größeren Maßstab funktioniert, ist damit natürlich nicht zweifelsfrei erwiesen. Aber das Ergebnis deutet zumindest in die Richtung.

Nein, auch die Welt der Kinder hat sich nicht geändert (die der "generischen" Gruppe ohnehin schon einmal überhaupt nicht). Die Studie wollte etwas ermitteln, nicht verändern. Das hat sie getan, nicht mehr. Es wäre auch unseriös von den Psychologen, etwas anderes zu behaupten. Es wird lediglich die Vermutung ausgesprochen, dass das Verwenden von "pair forms" gegenüber Kindern dieser Altersstufe das Selbstvertrauen insbesondere von Mädchen, männliche Berufe ergreifen zu können, künftig steigern könnte. Das ist ein eigenartiger Gedanke. Warum kommt man nicht auf das viel näher Liegende? Nicht ein niedrigeres Selbstvertrauen wird durch Gendern gesteigert, sondern das bereits vorhandene höhere Selbstvertrauen wird altersgerecht nur durch die expliziteren und damit verständlicheren Formen voll aktiviert. Effektiv kommt das auf dasselbe hinaus, gewiss, aber man braucht dann nicht die a priori unwahrscheinliche These, dass mit Sprache die Welt zu ändern ist.

Zitat von: Kilian in 2015-06-11, 20:18:58
Bei der Euphemismus-Tretmühle geht es um negativ konnotierte Begriffe, was hat das mit unserem Thema hier zu tun?

Eine ganze Menge. Da wir hier nicht über semantische, sondern über morphosemantische Fragen sprechen, könnte man auch einen neuen Terminus erfinden, aber wozu? Der Mechanismus ist derselbe: Man kann vermuten, dass etwa nominalisierte Formen wie Studierende mit der Zeit dazu neigen werden, wiederum eher männlich belegt zu werden: "Die Frage ist, ob die Pluralformen der nominalisierten Adjektive und der Pronomen wirklich so sexusneutral sind, wie sie scheinen. Es gibt Anzeichen dafür, dass es eine verstärkte Tendenz gibt, solche Pluralformen einseitig auf die maskulinen Singulare zu beziehen, die sowohl sexusindifferent als auch sexusspezifisch verwendet werden kön‐ nen" (Peter Gallmann, 2014). Da aber die Euphemismus-Tretmühle, egal, wie Du sie definierst, auf jeden Fall im Lexikon wirkt, und hier klar ist, dass negative gesellschaftliche Verhältnisse gezielte Spracheingriffe, die zu ihrer Veränderung beitragen sollen, mühelos überleben, ist nicht einzusehen, warum es beim generischen Maskulinum andersherum sein soll.

Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Siehe meine obigen Ausführungen zu "Missverständnis". Dass man Effekte dieses Sprachgebrauchs (insbesondere als Mann) nicht bemerkt, bedeutet nicht, dass sie nicht existieren.

Ich könnte Anhaltspunkte dafür anführen, dass meine Selbsteinschätzung stimmt. Aber ich sage doch einfach, dass ich das Argument nicht ganz fair finde und deshalb nicht darauf eingehen möchte (s.o.).
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Wortklaux in 2015-06-14, 20:35:35
Zitat von: Homer in 2015-06-13, 18:43:04
2. Jetzt im Ernst: Niemand wird vernünftigerweise bestreiten wollen, dass Männer und Frauen grundsätzlich gleich starke kognitive Kompetenzen haben.
Welcher Vernunftbegriff liegt dieser Aussage eigentlich zugrunde?
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-06-14, 21:26:38
Die Frage verstehe ich nicht.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Kilian in 2015-06-15, 00:32:11
Zitat von: Homer in 2015-06-13, 18:43:04
Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Erstens gibt es das Argument der höheren kognitiven Bürde für Frauen (s.o.).

Ja, das Argument gibt es. Es ist aber – mit Verlaub – so evidenter Nonsens, dass ich mich frage, warum es dauernd wiederholt wird:

Da habe ich wohl nicht klar genug gemacht, was ich meine.

Zitat1. Polemisch: Ich wundere mich, dass Feministinnen eine so geringe Meinung von den kognitiven Fähigkeiten ihrer Geschlechtsgenossinnen haben. Könnte mir nicht passieren.

Das ist nicht nur polemisch, das zielt auch völlig an dem Argument vorbei, wie dir sicher klar ist.

Zitat2. Jetzt im Ernst: Niemand wird vernünftigerweise bestreiten wollen, dass Männer und Frauen grundsätzlich gleich starke kognitive Kompetenzen haben. Wenn ich nun beispielsweise in einem Vortrag vor gemischtem Publikum einen Satz sage wie "Griechische Liebesdichter gebrauchten bestimmte lyrische Metra", dann ist die kognitive Bürde für Frauen wie Männer im Auditorium offensichtlich gleich hoch, vorausgesetzt sie stellen sich die Frage überhaupt, ob ich Sappho ein- oder ausschließen wollte (eine Frage, auf die man wohl nur mit feministischer Vorprägung kommt, was wiederum die Frage aufwirft, ob die feministische Linguistik die von ihr postulierte Kognitionslücke nicht überhaupt erst herbeiredet). Oder gibt es irgendeinen Grund, warum sich Frauen die Sappho-Frage eher stellen sollten als Männer, außer vielleicht wiederum dem eines feministischen Interesses? Das kann natürlich legitim sein, aber dann ist die höhere Bürde der Kognition selbstgeschaffen. Wenn ich mir eine Frage stelle, die sich andere nicht stellen, weil sie fernliegt – wie hier –, habe ich einfach mehr nachzudenken, das kann jeder selbst entscheiden. Man kann sich bestimmt Fälle ausdenken, in denen der Zweifel größer ist, aber in normalen Kontexten kommen Frauen und Männer beim Hören immer in gleicher Weise ins Grübeln oder nicht.

Ob es schwieriger wird – und das ist vermutlich bei dieser These eher gemeint –, wenn gemischte Gruppen angesprochen werden? Nehmen wir folgenden Fall: Ich halte einen Vortrag vor einem geschlechtlich gemischten Publikum von Studenten und Nicht-Studenten. Um den Zweifelsfaktor des Beispiels zu erhöhen, sei angenommen, der Vortrag drehe sich um das Verhältnis von Genus und Sexus, das Thema ist also in den Köpfen des Publikums. Nun sage ich: "Alle Studenten verlassen bitte den Raum!" Die männlichen Studenten wissen nun genau, dass sie gemeint sind, die weiblichen nicht. Sie wissen nicht, ob "Studenten" im Gegensatz zu "Studentinnen" steht oder zu "Nicht-Studenten". Aber ist das ein Fehler des generischen Maskulinums selbst? Mitnichten, es ist ein Fehler, den man in der Pragmatik behandeln würde, die sich mit grammatisch enkodierten Kontextbezügen beschäftigt. Der Fehler liegt bei mir, weil ich mich unklar ausgedrückt habe. Ich hätte das generische Maskulinum hier einfach nicht ohne Setzung weiterer Signale benutzen dürfen, weil die Gefahr des Missverständnisses im Raum lag.

Das Argument der kognitiven Bürde greift in der Tat nur in Situationen, in denen der die Rezipient/in zum Verstehen gefordert ist, einen Bezug zwischen sich selbst und der referenzierten Personengruppe zu ermitteln, z.B.: Gehöre ich zu den Leuten, die aufgefordert sind, den Raum zu verlassen? Wenn nun nicht alle Sprecher/innen sehr sorgfältig vermeiden, das generische Maskulinum in solchen Situationen zu vermeiden, ist klar, dass systematisch immer wieder Situationen auftreten, in denen die Frauen, um diese Bezugsermittlung zu leisten, ein zusätzliches Denkproblem lösen müssen, das sich den Männern nicht stellt.

Die Klasse von Situationen, die zur Ermittlung solcher persönlichen Bezüge einladen, erschöpft sich nicht in direkten Ansprachen. Auch wenn irgendwas über Personengruppen gesagt wird, wird man oft ermitteln wollen, ob man zu diesen Personengruppen gehört, etwa um das Gesagte zu beherzigen oder sich dazu zu verhalten. Alle Linguisten sind Idioten ist so ein Beispiel, falls Linguist/inn/en zuhören ­– falls nicht, dann nicht, aber das ändert ja nichts an der Tatsache, dass es solche Beispiele zur Genüge gibt. Und man kann auch argumentieren, dass dein Beispiel mit den griechischen Dichtern dazugehört: hier ist der herzustellende Bezug nicht der der Zugehörigkeit zu einer Personengruppe, aber möglicherweise der der Identifikation – Menschen identifizieren sich glaubich leichter mit Personen desselben Geschlechts, womit wir wieder dicht bei den Feuerwehrmännern und Astronauten wären.

ZitatJetzt wirst Du sagen, es könnte Fälle geben, in denen jemand sich bemüht, sich klar auszudrücken und sicher ist, das generische Maskulinum erfülle diese Anforderung, aber trotzdem von Teilen der Hörerschaft missverstanden wird. Ich will das gern ernsthaft diskutieren und nicht einfach wegreden, habe aber große Schwierigkeiten, mir solche Fälle in neutralen, d.h. nicht feministisch (im Experimentsinne) "verunreinigten" Kontexten vorzustellen. Aber nehmen wir an, es gelänge, einen solchen Fall zu beobachten oder zu konstruieren – dann bliebe es doch ein ganz normales kommunikatives Missverständnis, das auf einer falschen Einschätzung des Sprechers von der gemeinsamen linguistischen Verstehensbasis mit den Rezipienten beruht. Es ist systematisch-pragmatisch nicht anders zu bewerten, als wenn ich ironisch spreche, die Ironie aber nur von einem Teil der Hörer verstanden wird. Auch hier habe ich unwissentlich die kognitive Bürde für manche Hörer erhöht, die weniger sensibel für diese Signale sind.

In deinem Beispiel mit dem Raum-Verlassen liegt eine globale Ambiguität vor: Aus der Äußerung kann man wirklich nicht klar schließen, was der Dozent meint. Ein "zusätzliches Denkproblem" für die Frauen liegt aber auch dann vor, wenn jeder klare Verstand innerhalb von Sekundenbruchteilen und vermutlich unbewusst die Ambiguität auflösen kann. Zum Beispiel wenn eine Universität, wie bis vor einigen Jahren vielerorts ja üblich, "alle Studenten" auffordert, sich bis zum soundsovielten Soundsovielten zurückzumelden. Auch das ist problematisch, aus denselben Gründen: Frauen wird hier jedes Mal eine Disambiguierungsleistung abverlangt, so trivial sie auch jedes Mal sein mag, die die Männer sich jedes Mal sparen können.

Also, unwissentlich kannst du von jetzt an durch generisches Maskulinum die kognitive Bürde zum Verstehen deiner Äußerungen für Frauen nicht mehr erhöhen, you have been warned – es sei denn, du wärest dir ganz sicher, dass deine Zuhörer/innen zum Verstehen deiner Äußerungen nicht nach einem Bezug zwischen sich und der genannten Personengruppe suchen werden, und täuschtest dich.

ZitatNiemand käme deshalb auf die Idee zu behaupten, Ironie diskriminiere Leute, die für Ironie taub sind.

Ironieverstehen ist nicht Gegenstand irgendeiner mir bekannten bestehenden gesellschaftlichen Antidiskriminierungsübereinkunft, Geschlecht schon.

ZitatMissverständnisse passieren dauernd, niemand regt sich darüber auf, man klärt sie eben hinterher schnell auf.

Wie ich nicht müde werde zu sagen, es geht nicht um mögliche Missverständnisse, es geht auch um still vorübergehende kognitive Bürden.

ZitatNur beim generischen Maskulinum diskutieren wir über maternalistische sprachpolizeiliche Maßnahmen

Wieso sprachpolizeilich? Du kannst doch öffentlich schreiben, wie dir die Feder gewachsen ist, nur nicht unbedingt überall.

Zitatdie solche harmlosen Hänger im Kommunikationsprozess von vornherein verhindern sollen, weil angeblich ausgerechnet diese Art Hänger diskriminiert. Eine hin und wieder mal notwendige Millisekunde zusätzlichen Gehirnschmalzverbrauchs rechtfertigt die Forderung nach Abschaffung einer grammatischen Kategorie, die zum Reichtum der Ausdrucksmöglichkeiten beiträgt?

Ich kritisiere nicht, dass hin und wieder mal eine Millisekunde zusätzlichen Gehirnschmalzverbrauchs nötig wird. Ich kritisiere, dass das systematisch Frauen betrifft und Männer nicht. Das lässt sich auch anders ändern als durch Abschaffung des generischen Maskulinums. Wer fordert die überhaupt? Selbst Sprachlog-Autorin Kristin Kopf (der Artikel, den wir hier diskutieren, ist übrigens von Anatol Stefanowitsch und nicht, wie du schreibst, von ihr) verwendet es in ihrem Buch ständig - nur eben im Wechsel mit einem generischen Femininum.

ZitatDas bloße Inkaufnehmen der Möglichkeit, selbst bei allerbestem Willen zur Klarheit missverstanden werden zu können, ist bereits diskriminierend?

Nein. Noch einmal, es geht nicht um Missverständnisse.

ZitatIch, sprachlich und kommunikativ kein unsensibler Klotz (glaube ich), diskriminiere mit dem generischen Maskulinum also Frauen, ohne es zu merken, gegen meine stabile antidiskriminatorische Überzeugung?

Es wird oft so getan, als wäre man, weil man, auch ohne es zu wollen oder auch nur zu merken, einige diskriminierende Verhaltensweisen aufweist, automatisch ein schlechter Mensch und müsse zur Hölle fahren. Quatsch. Niemand ist hundertprozentig frei davon, das halte ich für unmöglich. Der Autor plomlompom hat es schön auf den Punkt gebracht (https://twitter.com/plomlompom/statuses/273064048847888385): "Schaut her, ich hab bestimmt ein paar rassistische, sexistissche, nazistische, antisemitische Meme in meinem Kopf. & mich trifft kein Blitz!" Das unterschreibe ich für mich ebenfalls. Wenn man das akzeptiert, ist es glaubich viel leichter, solche Meme und Verhaltensweisen aufzuzeigen und in Ruhe zu diskutieren. Nichts von dem, was ich schreibe, soll eine bittere Anklage oder eine Verurteilung sein.

ZitatWas ist denn das für eine irrwitzige, inflationäre Aufladung dieses Wortes?

Weder in der DGPs-Pressemitteilung noch im Sprachlog-Beitrag kommt das Wort diskriminieren auch nur einmal vor, außer in letzterem als Tag. Verstehst du jetzt, dass ich das Gefühl habe, dass du in diese Veröffentlichungen etwas reinliest, was da nicht steht?
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Kilian in 2015-06-15, 01:13:00
Ad Rollenstereotype durch Sprache verstärken/ihnen entgegenwirken durch Sprache:

Zitat von: Homer in 2015-06-13, 18:43:04Das sind Effekte, die es gibt, die man aber nicht durch dirigistische Eingriffe in das Sprachsystem beseitigt.

Aber man kann ihnen durch einen bewussten Sprachgebrauch entgegenwirken, und um nichts anderes geht es Vervecken und Stefanowitsch. Behaupte ich mal.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Kilian in 2015-06-15, 01:17:14
Zu den möglicherweise beleidigten Linguistinnen:

Zitat von: Homer in 2015-06-13, 18:43:04Wobei sich in diesem Fall die Unsicherheit eher zugunsten der Linguistinnen auswirkt, die nicht sicher davon ausgehen können, dass sie beleidigt worden sind.

Inwiefern ist das ein Vorteil für die Linguistinnen? ??? Ich sähe das eher als Nachteil: Möglicherweise beleidigt worden zu sein und noch nicht einmal zu wissen, ob man wirklich gemeint war. Wie fies.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Kilian in 2015-06-15, 01:43:37
Zitat von: Homer in 2015-06-14, 15:51:45Ich verstehe immer weniger, worauf Du hinauswillst.

Ich versuche hier zu zeigen, dass deine Kritik an Verveckens Studie und Stefanowitschs Bericht darüber weitgehend unberechtigt ist.

ZitatEs ist hingegen ein Dogma der feministischen Linguistik, dass sie grundsätzlich problematisch sind. Das kannst du nicht bestreiten.

Doch. Das ist kein Dogma, sondern eine These der feministischen Linguistik. Luise Pusch zum Beispiel bemüht sich z.B. in Das Deutsche als Männersprache darum, sie argumentativ zu belegen. Was meinst du mit "grundsätzlich"? Ich glaube auch nicht, dass alle, die sich als feministische Linguist/inn/en bezeichnen, die starke These vertreten, dass ausnahmslos jede Verwendung des generischen Maskulinums problematisch ist. Ich vertrete diese starke These jedenfalls nicht.

ZitatUnd wo wäre sonst die Notwendigkeit, auf Drängen der entsprechenden Lobby ein Monstrum wie die flächendeckend (also kontextunabhängig) gegenderte StVO zu erschaffen, also einen Text an zahlreichen Stellen umzuschreiben, bei dem Missverständnisse schon qua Textsorte (Gesetze gelten immer für alle Geschlechter, sofern nicht Geschlecht deren Thema ist, und alle Frauen wissen das) vollkommen ausgeschlossen sind?

Die Notwendigkeit mag sich z.B. aus dem Wunsch nach einer konsistenten sprachlichen Gestaltung von juristischen Dokumenten speisen, einfache Regeln befolgend, statt für jeden Zusammenhang - zugespitzt gesagt - ein Gutachten einzuholen, ob Gendern erforderlich ist oder nicht.

Sag bitte nicht, dass Gesetzestexte Meisterwerke sprachlicher Schönheit sind, die durch das Gendern verdorben werden! :D

ZitatWürde mich freuen, wenn es so wäre. Dann würden sie sich allerdings weit von dem entsprechenden feministischen Dogma entfernen.

Mit anderen Worten, du siehst ein, dass du eine Strohfrau angegriffen hast? ;D
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Kilian in 2015-06-15, 01:46:55
Zitat von: Homer in 2015-06-14, 15:51:45Die wissenschaftliche Methodik in den eher sprachsystematischen Bereichen der Sprachwissenschaft, die nicht an der Grenze zu den Sozialwissenschaften stehen, ist eine andere. Wie auch in der Literaturwissenschaft spielen dort "empirische" Studien mit Probanden, Statistik usw. fast keine Rolle, weil sie schlicht nichts zur Erkenntnis in diesen Feldern beitragen könnten. Zählen und Messen spielen bei der sauberen Kategorienbildung eben keine große Rolle.

Ich bin ein großer Fan von sauberer Kategorienbildung, aber sie reicht halt nicht aus, um fundierte Aussagen über die tatsächlichen Auswirkungen eines bestimmten Sprachgebrauchs zu treffen.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Kilian in 2015-06-15, 01:51:39
Zitat von: Homer in 2015-06-14, 15:51:45
Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Es geht um männliche vs. "geschlechtergerechte" Formen. Wo steht, dass die untersuchten männlichen Formen generisch sein sollten?

Überall, hier z.B.: "Soweit bestätigt das Experiment aus linguistischer Perspektive auf eine sehr interessante Weise den semantischen Effekt des generischen Maskulinums – dies wird offensichtlich als ,,männlich" interpretiert" (KK). Das ist das Thema der Studie, wie kommst Du darauf, das zu bestreiten? Die eine Gruppe der Kinder wird nach "geschlechtergerecht" bezeichneten Berufen gefragt, die andere nach "männlich" bezeichneten. In der Sache ist mit den Berufen in beiden Fällen dasselbe gemeint, Frauen wie Männer können sie ausüben, nur die sprachliche Bezeichnung ist verschieden. Die dahinterstehende Frage, inwieweit sich auch Mädchen vom Maskulinum angesprochen fühlen, ist nichts anderes als die nach dem generischen Maskulinum, auch wenn vielleicht dieser Terminus mangels sprachwissenschaftlicher Kenntnisse von den Psychologen nicht verwendet wird (in der Pressemitteilung kommt er nicht vor).

Sehe ich ein. Dann ist die Beimischung von lexikalisch sexusmarkierten Personenbezeichnungen wie Geschäftsmänner und Feuerwehrmänner wohl tatsächlich als Fehler der Studie zu sehen.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Kilian in 2015-06-15, 01:53:14
Zitat von: Homer in 2015-06-14, 15:51:45
Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Denn entweder klärt der weitere Verlauf des Gesprächs oder Nachdenken über den Zusammenhang, welchen Geschlechts die gemeinten Personen sind. In dem Fall besteht aber immer noch eine lokale Ambiguität – eben jene Sekundenbruchteile verzögerter Reaktion, die in psycholinguistischen Experimenten gemessen werden, bzw. das Warten auf die zusätzliche Information.

Daran ist nichts schlimm, s.o.

Naja, es ist im Sinne der Gleichstellung ungünstig, s.o.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Wortklaux in 2015-06-15, 02:03:29
Zitat von: Homer in 2015-06-14, 21:26:38
Die Frage verstehe ich nicht.
Du meinst meine Frage nach dem Vernunftbegriff in "2. Jetzt im Ernst: Niemand wird vernünftigerweise bestreiten wollen, dass Männer und Frauen grundsätzlich gleich starke kognitive Kompetenzen haben.".
Es ist durchaus eine ernstgemeinte Frage. Ich frage mich, warum es vernünftig ist, das nicht bestreiten zu wollen: Gibt es wissenschaftliche, politische oder andere Gründe dafür? Für andere Kompetenzen (z.B. emotionale, körperliche etc.) gilt das ja nicht unbedingt. Warum ist es also unvernünftig, eine solche Ungleichheit auch für kognitive Fähigkeiten zu postulieren? Wäre es z.B. politisch unklug, das zu tun, oder gibt es zwingende wissenschaftliche Argumente, oder gibt es eine dem ,,gesunden Menschenverstand" (was auch immer das sei) unmittelbar einsichtige Tatsache?
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Kilian in 2015-06-15, 02:10:29
Zitat von: Homer in 2015-06-14, 15:51:45
Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Z.B.: "Ich werde mich mit meinen Anwälten besprechen."

Auch wenn das generisch gemeint war, stellt die Gesprächspartnerin sich jetzt möglicherweise ein rein männliches Team vor. Du kannst natürlich sagen, dass dieses im Kontext von sprachlicher Kommunikation auftretende Phänomen lediglich ein Symptom der gesellschaftlichen Verhältnisse ist. Aber die Studie von Vervecken legt nahe, dass dieses Symptom wiederum dazu beiträgt, das Übel zu verstärken, weil, wenn Frauen sich immer nur Männer in einem Beruf vorstellen, sie womöglich davon abkommen, sich für diesen Beruf zu entscheiden.

Ich wundere mich immer wieder von neuem darüber, wie wenig Feministinnen von Frauen halten. Frauen ergreifen bestimmte Berufe eventuell weniger, weil sie im generischen Maskulinum der Berufsbezeichnung "nur" mitgemeint sind?

Was hat das Vertreten solcher Thesen damit zu tun, wenig von Frauen zu halten?

ZitatIch möchte wissen, ob dieser Effekt, auch nur als Rollenstereotype verstärkend, irgendwie messbar ist.

Es gibt natürlich einen Unterschied zwischen kurzfristigen "Priming"-Effekten, die sich in solchen psychologischen Studien leicht messen lassen, und langfristigen Effekten, bei denen ein solcher Nachweis sehr schwierig wäre. Natürlich glaube ich nicht, dass gegenderte Personenbezeichnungen der einzige Faktor sind, der z.B. Geschlechtsungleichgewichte im Berufsleben stabilisiert. Aber es scheint mir schon plausibel, dass Sprachgebrauch einer von mehreren guten Ansatzpunkten ist, um hier langfristig etwas zu verbessern. Auch dadurch, dass er nicht nur auf der Sachebene, sondern auch auf der Selbstkundgabeebene/Appellseite von Äußerungen Auswirkungen hat.

Ein Ansatz zu einer Diskussion über mögliche langfristige Effekte gegenderter Personenbezeichnungen findet sich hier: http://www.sprachlog.de/2015/06/09/geschlechtergerechte-sprache-und-lebensentscheidungen/#comment-1464669
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Kilian in 2015-06-15, 02:11:58
Zitat von: Homer in 2015-06-14, 15:51:45Aber ich will nicht unnötig unfair sein: Da die Fragestellung hier den Bereich verlässt, in dem die Frage allein ist, ob es sich bei der feministischen Linguistik um gute Wissenschaft handelt (Antwort: nein, es handelt sich, zumindest in der radikalen Form, entweder um grotesk schlechte Wissenschaft oder um gar keine), und in die Frage übergeht, wie wir gesellschaftlich miteinander umgehen wollen

Um genau diese Frage ging es m.E. eigentlich von Anfang an, hier angesichts bestimmter Erkenntnisse aus der Psychologie.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Kilian in 2015-06-15, 02:18:44
Zitat von: Homer in 2015-06-14, 15:51:45
Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Z.B.: "Ich werde mich mit meinen Anwälten besprechen."

Auch wenn das generisch gemeint war, stellt die Gesprächspartnerin sich jetzt möglicherweise ein rein männliches Team vor. Du kannst natürlich sagen, dass dieses im Kontext von sprachlicher Kommunikation auftretende Phänomen lediglich ein Symptom der gesellschaftlichen Verhältnisse ist. Aber die Studie von Vervecken legt nahe, dass dieses Symptom wiederum dazu beiträgt, das Übel zu verstärken, weil, wenn Frauen sich immer nur Männer in einem Beruf vorstellen, sie womöglich davon abkommen, sich für diesen Beruf zu entscheiden.

Wenn der obige Satz generisch gemeint war und von der Rezipientin als generisch verstanden wurde, stellt sie sich eben gerade keine Männer vor, sondern abstrahiert völlig vom Geschlecht und denkt nur an "Leute", die den Anwaltsberuf ausüben. Wenn es generisch gemeint war, die Frau es aber nicht so versteht, dann müssen spezifische persönliche oder im Kontext liegende Gründe vorhanden sein, warum die Frau den Begriff "Anwälte" gegen die Intention des Sprechers geschlechtlich auflädt. Das ist ein in der Kommunikation unerwünschter Effekt, aber auch nichts um jeden Preis Vermeidenswertes. Es wird von der Hörerin eine vom Sprecher nicht intendierte Konnotation aktiviert, na und? Das passiert in jeder normalen Unterhaltung dauernd. Dein Beispielsatz ist aber sicher kein politischer oder kommunikativer Hochrisikosatz, Fettnäpfchengefahr sehr gering. Solange der Sprecher keine Gründe kennt, die es bei seiner besonderen Rezipientin ratsam erscheinen lassen zu gendern, drückt der obige Satz das Gemeinte einfach besser (nämlich geschlechtsneutral) und kürzer aus als der gegenderte.

Aber nehmen wir den Satz in "geschlechtergerechter" Sprache: "Ich werde mich mit meinen Anwältinnen und Anwälten besprechen." Im besten Fall begreift die Rezipientin die Doppelnennung einfach als Variante des generischen Maskulinums, obwohl sie das eigentlich nicht ist. Denn die überflüssige doppelte geschlechtliche Markierung kann auch stutzig machen: "Wozu muss ich wissen, dass der Sprecher anwaltlichen Beistand von Männern und Frauen hat. Welches Signal sendet er damit aus?" Wahrscheinlich gar keins, aber in solchen Fällen entsteht jetzt regelmäßig (durch die Markierung bedingt) eine Kognitionslücke, die gewiss nicht kleiner ist als die im Einzelfall auftretende beim generischen Maskulinum. Wobei mir diese Lücke genau so egal ist wie die andere. Beim Kommunizieren gibt es halt hin und wieder was zu denken.

Joah, das sind ein paar recht subjektive ("besser", "mir egal") Argumente für das generische Maskulinum. Das Argument dagegen, das ich genannt habe, wird davon nicht berührt, oder habe ich was verpasst?
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Kilian in 2015-06-15, 02:20:02
Zitat von: Homer in 2015-06-14, 15:51:45
Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Natürlich kann sich das mit Meta-Motiven verbinden, z.B. 1) eine Position zu beziehen für geschlechtergerechte Sprache, was auch andere dazu ermutigen soll ("seht her, ich mache mit bei diesen Spiel, tut es mir gleich"), 2) sich als "Ally" profilieren ("seht her, ich mache mit bei diesem Spiel, ich bin toll") usw.

Das halte ich auch für einen interessanten Aspekt, wie Du weißt. Weißt Du, ob dazu schon mal jemand was geschrieben hat?

Da fällt mir jetzt nur ein kritischer Essay zu einem verwandten Thema, nämlich "Privilegiengeständniskultur", ein, der mir mal untergekommen ist: https://andrea366.wordpress.com/2013/08/14/the-problem-with-privilege-by-andrea-smith/
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Kilian in 2015-06-15, 02:32:59
Zitat von: Homer in 2015-06-14, 20:21:14
Die Sprachwissenschaft, die ich meine und die für die Frage nach den Leistungen des generischen Maskulinums zuständig ist, "designt" aus guten Gründen keine "Experimente", sondern wertet Corpora aus. Man kann schon irgendwo auf den ersten Seiten in Saussures Cours nachlesen, dass bei Fragen des Sprachsystems keine psychologischen Überlegungen weiterhelfen.

Dass du der Psycholinguistik jede Zuständigkeit für die Frage nach den Leistungen des generischen Maskulinums absprichst, finde ich ganz schön krass. Wie in aller Welt kommst du denn zu dem Statement?

Das mit Saussure interessiert mich. Kannst du genauer sagen, welche Passagen du meinst?
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Kilian in 2015-06-15, 02:47:13
Zitat von: Homer in 2015-06-14, 20:21:14
Zitat von: Kilian in 2015-06-11, 20:18:58
Weil, dass der Sprachgebrauch (das Vokabular ist eher der langue zuzuordnen, oder?) die Wahrnehmung der Wirklichkeit bei denen mitprägt, hat die Studie ja gezeigt.

Glaubt sie vielleicht gezeigt zu haben, hat sie aber nicht. Ich habe sie jetzt online einsehen können. Sie ist linguistisch völlig unbedarft. Außer der Differenzierung in "pair forms" und "generic masculine forms" findet keine weitere sprachwissenschaftliche Grundlegung oder Differenzierung statt. Auch wird nicht diskutiert – was ich unbedingt erwartet hätte –, was die Abstraktionsleistung, die bei der Wahrnehmung des generischen Maskulinums zu erbringen ist, in dem Alter, in dem die Kinder sind, in Relation zu ihren altersgemäßen Abstraktionsfähigkeiten bedeutet und ob da nicht erhebliche Unterschiede zwischen 6- und 12-Jährigen bestehen. So kommt eigentlich nur heraus, dass die Ergebnisse differieren, je nachdem ob man versucht, die Kinder eine Abstraktion vollziehen zu lassen, die sie nur unvollkommen leisten können, oder ob man altersgerecht überexplizit wird. Das ist kein völlig uninteressantes Ergebnis, aber überhaupt keine Bestätigung für irgendeine These der feministischen Linguistik, wie das KK haben will. Ich habe also keine Kinder als Sprecher abgewertet, sondern nur die Verallgemeinerungsfähigkeit der Studie bezweifelt.

Noch einmal: Die Studie hat gezeigt, dass Sprachgebrauch bei 6-12-Jährigen Kindern die Wahrnehmung der Wirklichkeit (zumindest kurzfristig) mitprägt. Wo ist da die unzulässige Verallgemeinerung, die du behauptest? Und selbst wenn das bei Erwachsenen nicht funktionieren sollte, warum sollte sich die Welt nicht dadurch ändern können, dass Kinder sie anders wahrnehmen?

Ad "irgendeine These der feministischen Linguistik, wie KK [du meinst: AS] das haben will": AS erwähnt den Begriff "feministische Linguistik" nicht, da müsstest du jetzt schon konkreter werden.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Kilian in 2015-06-15, 02:51:51
Zitat von: Homer in 2015-06-14, 20:21:14Es wird lediglich die Vermutung ausgesprochen, dass das Verwenden von "pair forms" gegenüber Kindern dieser Altersstufe das Selbstvertrauen insbesondere von Mädchen, männliche Berufe ergreifen zu können, künftig steigern könnte. Das ist ein eigenartiger Gedanke. Warum kommt man nicht auf das viel näher Liegende? Nicht ein niedrigeres Selbstvertrauen wird durch Gendern gesteigert, sondern das bereits vorhandene höhere Selbstvertrauen wird altersgerecht nur durch die expliziteren und damit verständlicheren Formen voll aktiviert. Effektiv kommt das auf dasselbe hinaus, gewiss, aber man braucht dann nicht die a priori unwahrscheinliche These, dass mit Sprache die Welt zu ändern ist.

Ist nicht auch das "volle Aktivieren" durch Verwenden bestimmter Formen eine Art und Weise, die Welt durch einen bestimmten Sprachgebrauch zu ändern?
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Kilian in 2015-06-15, 03:32:16
Zitat von: Homer in 2015-06-14, 20:21:14
Zitat von: Kilian in 2015-06-11, 20:18:58
Bei der Euphemismus-Tretmühle geht es um negativ konnotierte Begriffe, was hat das mit unserem Thema hier zu tun?

Eine ganze Menge. Da wir hier nicht über semantische, sondern über morphosemantische Fragen sprechen, könnte man auch einen neuen Terminus erfinden, aber wozu? Der Mechanismus ist derselbe: Man kann vermuten, dass etwa nominalisierte Formen wie Studierende mit der Zeit dazu neigen werden, wiederum eher männlich belegt zu werden: "Die Frage ist, ob die Pluralformen der nominalisierten Adjektive und der Pronomen wirklich so sexusneutral sind, wie sie scheinen. Es gibt Anzeichen dafür, dass es eine verstärkte Tendenz gibt, solche Pluralformen einseitig auf die maskulinen Singulare zu beziehen, die sowohl sexusindifferent als auch sexusspezifisch verwendet werden kön‐ nen" (Peter Gallmann, 2014).

Das ist ein wirklich interessanter Gedanke. Schade, dass Gallmann verschweigt (http://www.personal.uni-jena.de/~x1gape/Wort/Wort_Nomen_Genus_Personen.pdf), was das für Anzeichen sind.

ZitatDa aber die Euphemismus-Tretmühle, egal, wie Du sie definierst, auf jeden Fall im Lexikon wirkt, und hier klar ist, dass negative gesellschaftliche Verhältnisse gezielte Spracheingriffe, die zu ihrer Veränderung beitragen sollen, mühelos überleben, ist nicht einzusehen, warum es beim generischen Maskulinum andersherum sein soll.

Dass gesellschaftliche Verhältnisse sich selten oder nie durch Änderungen im Sprachgebrauch allein ändern, glaube ich auch. Dass die Euphemismus-Tretmühle diese Unmöglichkeit beweise, wie du implizierst, stimmt allerdings nicht: sie ist ein sehr spezifisches Phänomen. Daraus, dass das Ersetzen von negativ konnotierten Wörtern in allen Kontexten durch andere Wörter das Problem nicht löst, folgt nicht, dass z.B. das overte Differenzieren zwischen rein männlichen und beliebiggeschlechtlichen Personenkreisen kein Problem löst.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-06-15, 13:28:57
Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 00:32:11
Das Argument der kognitiven Bürde greift in der Tat nur in Situationen, in denen der die Rezipient/in zum Verstehen gefordert ist, einen Bezug zwischen sich selbst und der referenzierten Personengruppe zu ermitteln, z.B.: Gehöre ich zu den Leuten, die aufgefordert sind, den Raum zu verlassen? Wenn nun nicht alle Sprecher/innen sehr sorgfältig vermeiden, das generische Maskulinum in solchen Situationen zu vermeiden, ist klar, dass systematisch immer wieder Situationen auftreten, in denen die Frauen, um diese Bezugsermittlung zu leisten, ein zusätzliches Denkproblem lösen müssen, das sich den Männern nicht stellt.

Die Klasse von Situationen, die zur Ermittlung solcher persönlichen Bezüge einladen, erschöpft sich nicht in direkten Ansprachen. Auch wenn irgendwas über Personengruppen gesagt wird, wird man oft ermitteln wollen, ob man zu diesen Personengruppen gehört, etwa um das Gesagte zu beherzigen oder sich dazu zu verhalten. Alle Linguisten sind Idioten ist so ein Beispiel, falls Linguist/inn/en zuhören ­– falls nicht, dann nicht, aber das ändert ja nichts an der Tatsache, dass es solche Beispiele zur Genüge gibt. Und man kann auch argumentieren, dass dein Beispiel mit den griechischen Dichtern dazugehört: hier ist der herzustellende Bezug nicht der der Zugehörigkeit zu einer Personengruppe, aber möglicherweise der der Identifikation – Menschen identifizieren sich glaubich leichter mit Personen desselben Geschlechts, womit wir wieder dicht bei den Feuerwehrmännern und Astronauten wären.

Das ist eine richtige und nützliche Erweiterung und Präzisierung der Frage, der ich voll und ganz zustimme. Man wird hier freilich – darin wirst Du mir hoffentlich ebenfalls zustimmen – deutliche graduelle Unterschiede der Identifikation bis hin zu Null annehmen müssen, die auf die Schwere der kognitiven Bürde durchschlagen. In einer Vorlesung über griechische Lyrik kann ich vergleichsweise sehr sicher sein, dass auch bei (nicht feministisch vorgeprägten) Zuhörerinnen die geschlechtliche Identifikation von vornherein völlig unterbleibt.

Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 00:32:11
In deinem Beispiel mit dem Raum-Verlassen liegt eine globale Ambiguität vor: Aus der Äußerung kann man wirklich nicht klar schließen, was der Dozent meint. Ein "zusätzliches Denkproblem" für die Frauen liegt aber auch dann vor, wenn jeder klare Verstand innerhalb von Sekundenbruchteilen und vermutlich unbewusst die Ambiguität auflösen kann. Zum Beispiel wenn eine Universität, wie bis vor einigen Jahren vielerorts ja üblich, "alle Studenten" auffordert, sich bis zum soundsovielten Soundsovielten zurückzumelden. Auch das ist problematisch, aus denselben Gründen: Frauen wird hier jedes Mal eine Disambiguierungsleistung abverlangt, so trivial sie auch jedes Mal sein mag, die die Männer sich jedes Mal sparen können.

Das habe ich verstanden. Aber hier fangen wir an, uns argumentativ im Kreis zu drehen. Deshalb nur zusammenfassend meine Punkte:
1. Kommunikationshindernisse sind nichts Schlimmes.
2. Auch wenn Du dauernd etwas anderes behauptest: Es geht bei der Frage nach den kognitiven Bürden um Missverständnisse, nämlich um die Möglichkeit, missverstanden zu werden. Seltsam, dass Du das abstreitest. Du umkreist den Begriff immer mit Ausdrücken wie "lokale Ambiguität", Du beschreibst Situationen, in denen Frauen nicht gleich wissen, ob sie "mitgemeint" sind, wehrst Dich aber gegen das dafür übliche Wort.
3. Sprecher sind im Interesse gelingender Kommunikation gehalten, kognitive Bürden, also potentielle Quellen von Missverständnissen, möglichst klein zu halten.
4. Es gibt keine Notwendigkeit, kognitive Bürden, die absehbar sehr klein sind, zwanghaft auf Null zu setzen, wenn die manifesten Vorteile der Ausdrucksweise an anderer Stelle die sehr kleinen potentiellen Nachteile der kognitiven Bürde überwiegen.
5. Strategien der Vermeidung von generischen Maskulina, insbesondere Paarformen, errichten sehr häufig an anderer Stelle kognitive Hürden (sinnlose Markierung des Merkmals Geschlecht), die größer sind als die, die sie vermeiden wollen.
6. Das generische Maskulinum erfordert eine in den allermeisten Fällen sehr triviale Abstraktionsleistung, die Menschen beiderlei Geschlechts mit der größten Selbstverständlichkeit vollbringen. Abstraktion funktioniert offenbar (entgegen dem Wortsinn) eher so, dass das für das sprachliche Zeichen Wesentliche unmittelbar erkannt wird, als dass aus der Gesamtfülle aller Eigenschaften eines Gegenstands und aller möglichen Konnotationen eines Wortes die unwesentlichen gestrichen werden. Deshalb kann sie so blitzartig funktionieren. Wenn man den Satz hört: "Was hast du denn da angestellt?", leuchtet wohl in keinem (muttersprachlichen, normal sprachkompetenten) Kopf auch nur für eine Nanosekunde für "anstellen" eine der anderen Bedeutungen wie "in Funktion setzen", "eine bezahlte Beschäftigung geben" usw. auf.
7. Diese Abstraktionsleistung kann von Fall zu Fall – das ist unbestreitbar – sprachstrukturell bedingt für Frauen größer sein als für Männer. Die Größe dieses gap ist in aber Fällen wie dem Römerbeispiel oder dem Dichterbeispiel entweder Null oder eine quantité negligeable, da sie (jedenfalls in nicht durch feministische Theoreme beeinflussten Kontexten) sehr wahrscheinlich unterhalb der subjektiven Wahrnehmungsschwelle liegt.
8. Wo diese Wahrnehmungsschwelle nicht überschritten wird, kann auch keine subjektive Diskriminierung vorliegen.
9. Wo der Sprecher vermuten muss, dass diese Wahrnehmungsschwelle überschritten wird, hat er intuitiv alle Faktoren abzuwägen (Zuhörerschaft, Äußerungskontext, grammatische und stilistisch-ästhetische Fragen, an anderer Stelle entstehende kognitive Hindernisse), um die Frage zu entscheiden, ob nicht vielleicht im Gesamtbild das generische Maskulinum dennoch – auch für die zuhörenden Frauen – die kommunikativ erfolgversprechendere Wahl ist.
10. Diese Abwägung kann auch misslingen, wie jede andere in jeder anderen Kommunikation auch. Das ist angesichts der in 9. genannten möglichen Kontraindikationen kein Grund, sie generell zu vermeiden.
11. Das baut gegenüber einer Schema-Lösung auf eine gewisse geistige Flexibilität der Gesprächsteilnehmer. Deswegen war meine Polemik – die ich ja  als solche gekennzeichnet habe – gegen das Frauenbild der Feministinnen auch nicht so völlig aus der Luft gegriffen, wie Du denkst.
12. Deshalb gibt es Frauen, die sich von Paarformen für dumm verkauft vorkommen, um nicht gleich von Diskriminierung zu sprechen (siehe z.B. hier (https://web.archive.org/web/20021230215839/http://www.morgenwelt.de/kultur/9904-sprache.htm)). Ich kenne solche Frauen.
13. Die feministische Forderung nach strikter Vermeidung des generischen Maskulinums impliziert eindeutig die Annahme seiner kontextunabhängigen Problematizität. Das ist kein sprachwissenschaftlich nachweisbares Faktum, sondern ein in seiner angeblichen Bedeutsamkeit heillos aufgeblähtes, gesellschaftspolitisch motiviertes Postulat.

Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 00:32:11
Also, unwissentlich kannst du von jetzt an durch generisches Maskulinum die kognitive Bürde zum Verstehen deiner Äußerungen für Frauen nicht mehr erhöhen, you have been warned – es sei denn, du wärest dir ganz sicher, dass deine Zuhörer/innen zum Verstehen deiner Äußerungen nicht nach einem Bezug zwischen sich und der genannten Personengruppe suchen werden, und täuschtest dich.

Das habe ich nicht verstanden. Kannst Du mir das nochmal erläutern?

Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 00:32:11
Ironieverstehen ist nicht Gegenstand irgendeiner mir bekannten bestehenden gesellschaftlichen Antidiskriminierungsübereinkunft, Geschlecht schon.

Eben, Du hast den Punkt erfasst. Über die pauschale Genus-Sexus-Verwechslung wird für Frauen ein sprachliches Diskriminierungspotential erkannt, das für die ebenfalls vorhandene, aber gesellschaftlich nicht hinreichend distinkte Gruppe der Ironie-Tauben nicht thematisiert wird, obwohl die Fälle kommunikationsstrukturell parallel sind. Das zeigt, dass die Diskriminierungsbehauptung nicht auf dem Boden von Wissenschaft entstanden und auch dort nicht beweisbar ist. Dass Frauen in der Gesellschaft eine Lobby haben und Ironie-Taube nicht, hat zweifellos sehr gute Gründe, ist aber für unsere Diskussion vollkommen kontingent. Wir reden hier über Diskriminierung als mögliches Thema der Sprachwissenschaft. Und da sprechen wir bitte entweder über die potentielle Diskriminierung aller irgendwie konstituierbaren Gruppen durch das Errichten kognitiver Hürden oder gar keiner! Oder welchen Unterschied willst Du machen zwischen jemandem, der durch die Verwendung des generischen Maskulinums wie in meinem Studenten-Dozenten-Beispiel tatsächliche Kommunikationshürden aufbaut, und jemandem, der in komplizierten Schachtelsätzen vor einem aus Gymnasiasten und Hauptschülern bestehenden Publikum spricht? Entweder beide diskriminieren oder beide diskriminieren nicht. Es sind aber auch im zweiten Beispiel nicht die Schachtelsätze, die diskriminieren, sondern der, der sie formuliert. Wenn er das unabsichtlich tut, hat er die falschen Mittel verwendet, und so auch beim generischen Maskulinum. C'est tout.

Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 00:32:11
Wieso sprachpolizeilich? Du kannst doch öffentlich schreiben, wie dir die Feder gewachsen ist, nur nicht unbedingt überall.

Aber dass ich im Gespräch mit feministisch beeinflussten Frauen, denen ich ja nicht erst lang und breit meine Argumente darlegen kann, warum ich das generische Maskulinum benutze, mich schon insgeheim ärgern darf, dass ich mich unbegründeten Dogmen anpassen muss, wenn ich nicht Gefahr laufen will, als Anti-Feminist zu gelten – der ich nicht bin –, das wirst Du mir zugestehen, oder? Und dass dieser Kurzschluss zwischen Genusverwendung und gesellschaftlicher Positionierung auf feministischen Ansichten über Sprache beruht, doch wohl auch? Über einer solchen Unterhaltung schwebt dann ein totalitärer Geist, von dem ich mich kontrolliert fühle, den allerdings nicht unbedingt direkt die Person, mit der ich mich unterhalte, einbringt, sondern mein Wissen um die Zugehörigkeit dieser Person zu einer (in ihrer radikalen Form) apodiktisch und totalitär argumentierenden Gruppe.

Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 00:32:11
Ich kritisiere nicht, dass hin und wieder mal eine Millisekunde zusätzlichen Gehirnschmalzverbrauchs nötig wird. Ich kritisiere, dass das systematisch Frauen betrifft und Männer nicht. Das lässt sich auch anders ändern als durch Abschaffung des generischen Maskulinums. Wer fordert die überhaupt? Selbst Sprachlog-Autorin Kristin Kopf (der Artikel, den wir hier diskutieren, ist übrigens von Anatol Stefanowitsch und nicht, wie du schreibst, von ihr) verwendet es in ihrem Buch ständig - nur eben im Wechsel mit einem generischen Femininum.

1.Diese Asymmetrie ist praktisch in aller Regel völlig bedeutungslos (s.o.). Du hast mir immer noch nicht erklärt – und es gibt auch m.E. kein einziges gutes Argument dafür –, warum wegen der Möglichkeit, dass in Fällen unsensibler Kommunikation durch die Sprecher diese Asymmetrie auch einmal praktisch bedeutsam werden könnte, das Sprachsystem nicht nur geändert, sondern eindeutig sehr hilfreicher und schöner Ausdrucksmöglichkeiten beraubt werden soll.
2. AS, nicht KK, natürlich, mein Fehler.
3. Die radikale feministische Sprachkritik fordert die generelle Abschaffung des generischen Maskulinums. Das habe ich bereits belegt.
4. Ein generisches Femininum gibt es nicht, und ich möchte ja schließlich im Alltag kommunizieren können. Das generische Maskulinum ist seit mindestens 5000 Jahren eingeführt. Die spezifisch maskuline Verwendung dieses Genus ist sprachhistorisch nur ein Spezialfall der eigentlich primären generischen, der durch die Ausgliederung des später gebildeten Femininums aus der Klasse "belebt" entstanden ist. (Zuvor wurden Geschlechter lexematisch enkodiert: Vater – Mutter, Bruder – Tochter, Eber – Sau.) Es hätte genau so gut andersherum sein können, ist es aber nicht. Und alle Sprecher, auch Frauen, waren es sehr zufrieden, sonst wäre das generische Maskulinum längst an seiner vermeintlichen Ambiguität zugrundegegangen und durch etwas anderes ersetzt worden. Das angebliche Problem damit ist pure feministische Konstruktion.
5. Vorschlagen und fordern kann man viel. Und KKs Versuch ist ja auch ganz lustig. Aber eine Neuerung hat den praktischen Beweis anzutreten, dass sie kommunikativ besser ist das Alte. Es ist leicht zu sehen, dass die Randomisierung systematisch Unklarheiten schafft, die vorher nicht da waren. Deshalb wird sie eine Spielerei bleiben.

Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 00:32:11
Nein. Noch einmal, es geht nicht um Missverständnisse.

Nein, Kilian, tut mir leid, in dem Punkt entkommst Du mir nicht (s.o.)!  :D

Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 00:32:11
Es wird oft so getan, als wäre man, weil man, auch ohne es zu wollen oder auch nur zu merken, einige diskriminierende Verhaltensweisen aufweist, automatisch ein schlechter Mensch und müsse zur Hölle fahren. Quatsch. Niemand ist hundertprozentig frei davon, das halte ich für unmöglich. Der Autor plomlompom hat es schön auf den Punkt gebracht (https://twitter.com/plomlompom/statuses/273064048847888385): "Schaut her, ich hab bestimmt ein paar rassistische, sexistissche, nazistische, antisemitische Meme in meinem Kopf. & mich trifft kein Blitz!" Das unterschreibe ich für mich ebenfalls. Wenn man das akzeptiert, ist es glaubich viel leichter, solche Meme und Verhaltensweisen aufzuzeigen und in Ruhe zu diskutieren. Nichts von dem, was ich schreibe, soll eine bittere Anklage oder eine Verurteilung sein.

Ja, da hast Du wohl Recht. Ich weise das aus einer Rest-Unsicherheit über die Qualität meiner Introspektion besser nicht von mir. Aber so viel kann ich sagen: Ich gebe mir alle Mühe, nicht-diskriminierend zu sprechen, und denke, dass mindestens diese Mühe auch im allgemeinen honoriert wird. Ich nehme an, ich hätte sonst schon bestimmte Irritationen bei besonders sensiblen Gesprächspartnerinnen bemerken können. Es halten ja nicht immer alle zu hundert Prozent mit ihrer subjektiven Verletztheit hinter dem Berg.

Dass Du nicht anklagen oder verurteilen willst, merke ich sehr genau, keine Sorge. Ich habe bei der Genusfrage auch keine persönlichen Aktien im Spiel. Das ist rein wissenschaftliches Interesse. Wenn ich das Gefühl hätte, dass es bei Dir anders wäre, wäre es sicher längst an der Zeit gewesen, die Diskussion abzubrechen.

Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 00:32:11
Weder in der DGPs-Pressemitteilung noch im Sprachlog-Beitrag kommt das Wort diskriminieren auch nur einmal vor, außer in letzterem als Tag. Verstehst du jetzt, dass ich das Gefühl habe, dass du in diese Veröffentlichungen etwas reinliest, was da nicht steht?

Wenn Du mir zeigen kannst, dass der Bericht von AS, verlinkt von KK, nicht in den feministischen Kontext eingebettet werden sollte, in dessen Zusammenhang die Verwendung des generischen Maskulinums regelmäßig als diskriminatorisch oder sogar sexistisch gebrandmarkt wird (beliebig herbeigegoogeltes Beispiel (http://www.unesco.de/fileadmin/medien/Dokumente/Bibliothek/eine_sprache.pdf), gleich im Vorwort), dann verstehe ich das. Und für wie wahrscheinlich hältst Du es angesichts der Fragestellung tatsächlich, dass die Psychologen überhaupt nicht von feministischen Forderungen nach "sprachlicher Gleichstellung" ausgegangen sind, als sie die Studie planten? Nein, Kilian, tut mir leid, das Offensichtliche kann ich nicht einmal Dir zu Gefallen weglesen.

Noch etwas anderes, von dem ich nicht weiß, ob es in der Diskussion um die Frage der Diskriminierung durch sprachliche Äußerungen weiterführt: Der Sprecher merkt/beabsichtigt entweder, dass er diskriminiert, oder nicht. Der Rezipient fühlt sich entweder diskriminiert oder nicht. Daraus ergeben sich vier Fälle. Das wird man vielleicht für die Frage heranziehen müssen, was sprachliche Diskriminierung überhaupt ist. Genügt es, dass sich jemand diskriminiert fühlt, obwohl der andere ihn gar nicht diskriminieren wollte? Ich bin, ehrlich gesagt, kein Anhänger von rein opferzentrierten Definitionen bei solchen Fragen (die gibt es, wie Du weißt, in Political-Correctness-Diskussionen jeder Art, vor allem in den USA), obwohl die Opferperspektive zu Recht besonders schwer wiegt. Über die Frage, ob jemand beleidigt wurde, entscheiden ja aus guten Gründen dauernd Gerichte (existenziell kann es für beide Parteien beim Thema Vergewaltigung werden). Offenbar ist man im Rechtssystem der Meinung, dass man aus der Gesamtfaktenlage objektivierbare Kriterien herausfiltern muss, obwohl das Beleidigtsein sehr subjektiv ist. Jemand kann sich beleidigt fühlen, aber nicht beleidigt worden sein. Ebenso kann aber auch jemand nicht die Absicht gehabt haben zu beleidigen, aber trotzdem beleidigt haben. Die Notwendigkeit, die Vier-Fälle-Kasuistik objektiv zu überwölben, macht vermutlich auch jede Defintion sprachlicher Diskriminierung enorm kompliziert. Ich bin mit jeder rational wohlbegründeten Lösung einverstanden. Was ich lediglich nicht akzeptieren kann, ist das alleinige Urteil einer angesprochenen Person über meinen Sprechakt ("ich fühle mich diskriminiert, also bin ich diskriminiert worden"). Meine Absicht und – in der Gesamtschau – möglichst objektive, Absicht und Auswirkung berücksichtigende Kriterien müssen auch eine Rolle spielen.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-06-15, 15:42:42
Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 01:13:00
Ad Rollenstereotype durch Sprache verstärken/ihnen entgegenwirken durch Sprache:

Zitat von: Homer in 2015-06-13, 18:43:04Das sind Effekte, die es gibt, die man aber nicht durch dirigistische Eingriffe in das Sprachsystem beseitigt.

Aber man kann ihnen durch einen bewussten Sprachgebrauch entgegenwirken, und um nichts anderes geht es Vervecken und Stefanowitsch. Behaupte ich mal.

AS vereinnahmt Vervecken, wofür der nichts kann, das ist klar.

Vervecken beweist übrigens auch nicht, dass man durch bestimmte Sprachformen kindliche Vorstellungen von Berufen beeinflussen kann, sondern er interpretiert den Befund in die Zukunft hinein ("conclusion" am Ende des Textes). Man könnte auch sagen, er wünscht. Dass mangels sprachwissenschaftlicher Grundlegung schon der Befund auf sehr wackligen Beinen steht, habe ich schon gesagt. Und selbst wenn er der Überprüfung standhielte, könnten, wie schon gesagt, auch ganz andere Rückschlüsse auf das Verhältnis von Sprache und kindlichem Selbstbewusstsein gezogen werden, die die Studie gar nicht in Betracht zieht.

Den Zahn, dass AS doch "nur" bewussten Sprachgebrauch einfordere, muss ich Dir allerdings ziehen. Zwei Links genügen: http://www.scilogs.de/sprachlog/sprache-diskriminiert/ und http://www.scilogs.de/sprachlog/frauen-natuerlich-ausgenommen/. Wer pauschal behauptet, "Sprache diskriminiert" (nicht erst Sprecher) und "Im Deutschen gibt es kein generisches Maskulinum" (er meint: das, was üblicherweise so genannt wird, sei immer männlich konnotiert), der hat das Feld des bloß gesellschaftlichen Appells zu bewusstem Sprachgebrauch verlassen und sich auf das Feld der echten Sprachwissenschaft begeben. Dort muss er dann mit dem energischen Widerspruch deskriptiv seriös kategorisierender Forscher rechnen.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-06-15, 16:01:34
Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 01:17:14
Zu den möglicherweise beleidigten Linguistinnen:

Zitat von: Homer in 2015-06-13, 18:43:04Wobei sich in diesem Fall die Unsicherheit eher zugunsten der Linguistinnen auswirkt, die nicht sicher davon ausgehen können, dass sie beleidigt worden sind.

Inwiefern ist das ein Vorteil für die Linguistinnen? ??? Ich sähe das eher als Nachteil: Möglicherweise beleidigt worden zu sein und noch nicht einmal zu wissen, ob man wirklich gemeint war. Wie fies.

Jetzt hack doch nicht auf meiner Pointe herum! Ich fand sie nicht schlecht ...  ;) Das könnte ein Mini-Experiment werden: Ich stelle mich vor einen Raum voller feministischer Linguistinnen und sage diesen Satz. Dann mache ich eine Statistik, worüber sie sich ärgern: über den empfundenen Nicht-Einbezug, über die Beleidigung oder – dritte Möglichkeit, danke! – über ihr Schwanken-Müssen zwischen diesen Möglichkeiten. ;D
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Wortklaux in 2015-06-15, 17:58:21
Das Problem der Diskriminierung besteht sicher zwischen erwachsenen Männern und Frauen, aber manchmal sind auch die Jungen und Mädchen davon betroffen. Die Jungen, so sagt einem die Erfahrung allerdings, fühlen sich nicht so schnell diskrimiert wie die Alten.

Bei dem Weg bin ich immer noch auf Homers Beantwortung meiner Frage gespannt.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-06-15, 18:16:47
Zitat von: Wortklaux in 2015-06-15, 02:03:29
Zitat von: Homer in 2015-06-14, 21:26:38
Die Frage verstehe ich nicht.
Du meinst meine Frage nach dem Vernunftbegriff in "2. Jetzt im Ernst: Niemand wird vernünftigerweise bestreiten wollen, dass Männer und Frauen grundsätzlich gleich starke kognitive Kompetenzen haben.".
Es ist durchaus eine ernstgemeinte Frage. Ich frage mich, warum es vernünftig ist, das nicht bestreiten zu wollen: Gibt es wissenschaftliche, politische oder andere Gründe dafür? Für andere Kompetenzen (z.B. emotionale, körperliche etc.) gilt das ja nicht unbedingt. Warum ist es also unvernünftig, eine solche Ungleichheit auch für kognitive Fähigkeiten zu postulieren? Wäre es z.B. politisch unklug, das zu tun, oder gibt es zwingende wissenschaftliche Argumente, oder gibt es eine dem ,,gesunden Menschenverstand" (was auch immer das sei) unmittelbar einsichtige Tatsache?

Mein Satz war keine "stark" gemeinte Aussage. Sieh ihn eher als eine Mischung aus
1. Diese Annahme schafft eine besonders geeignete Ausgangslage für die hier stattfindende Diskussion. Wenn man sich über sprachliche Gleichstellung unterhält, kompliziert die Annahme einer naturgegebenen die Sprache betreffenden kognitiven Ungleichheit zwischen den Geschlechtern die Sache, weil ein zusätzlicher, störender Faktor ins Spiel kommt.
2. Politisch unklug wäre die Annahme sowieso.
3. Ich kenne aber auch keine diesbezüglichen Anhaltspunkte und glaube bis zur Darlegung des Gegenteils auch nicht daran.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Wortklaux in 2015-06-15, 19:52:33
Zitat von: Homer in 2015-06-15, 18:16:47
Zitat von: Wortklaux in 2015-06-15, 02:03:29
Zitat von: Homer in 2015-06-14, 21:26:38
Die Frage verstehe ich nicht.
Du meinst meine Frage nach dem Vernunftbegriff in "2. Jetzt im Ernst: Niemand wird vernünftigerweise bestreiten wollen, dass Männer und Frauen grundsätzlich gleich starke kognitive Kompetenzen haben.".
Es ist durchaus eine ernstgemeinte Frage. Ich frage mich, warum es vernünftig ist, das nicht bestreiten zu wollen: Gibt es wissenschaftliche, politische oder andere Gründe dafür? Für andere Kompetenzen (z.B. emotionale, körperliche etc.) gilt das ja nicht unbedingt. Warum ist es also unvernünftig, eine solche Ungleichheit auch für kognitive Fähigkeiten zu postulieren? Wäre es z.B. politisch unklug, das zu tun, oder gibt es zwingende wissenschaftliche Argumente, oder gibt es eine dem ,,gesunden Menschenverstand" (was auch immer das sei) unmittelbar einsichtige Tatsache?

Mein Satz war keine "stark" gemeinte Aussage. Sieh ihn eher als eine Mischung aus
1. Diese Annahme schafft eine besonders geeignete Ausgangslage für die hier stattfindende Diskussion. Wenn man sich über sprachliche Gleichstellung unterhält, kompliziert die Annahme einer naturgegebenen die Sprache betreffenden kognitiven Ungleichheit zwischen den Geschlechtern die Sache, weil ein zusätzlicher, störender Faktor ins Spiel kommt.
2. Politisch unklug wäre die Annahme sowieso.
3. Ich kenne aber auch keine diesbezüglichen Anhaltspunkte und glaube bis zur Darlegung des Gegenteils auch nicht daran.

1.: Bezweifele ich. Die panikartige Abwehr jeder im geringsten Ansatz vorhandenen Möglichkeit, nicht oder nicht in demselben Grade oder nicht im selben Augenblick mitgemeint gewesen sein zu können, beruht ja gerade darauf, dass den in einer spezifische Weise Sprechenden eine Ungleichbehandlung der Geschlechter unterstellt wird. Geht man von vornherein davon aus, dass diejenigen, die an eine unterschiedliche Begabung (bewusst oder unbewusst) glauben, unvernünftig sind (und somit ihre Sprachbehandlung irrelevant ist), redet man zielsicher aneinander vorbei. (Genau das scheint mir zwischen Kilian und dir im Augenblick der Fall zu sein.)

2.: Vielleicht. ,,Sowieso" nur, soweit es um die Frage der Überlegenheit des einen über das andere Geschlecht geht, gleich in welcher Richtung. (Dennoch stellt sich z.B. in Korea, wo absolut geschlechtergerecht geprüft wird, ernsthaft die Frage, wie man mit der Tatsache umgeht, dass männliche Kandidaten in den meisten Ausbildungen mit hohen kognitiven Anforderungen fast keine Chancen mehr haben. Vielleicht wäre es ab einem bestimmten Punkt doch politisch vernünftig, die Unterschiede als gegeben zu akzeptieren und zu fragen, wie man dem unterlegenen Geschlecht adäquate Entwicklungsmöglichkeiten in der modernen Gesellschaft einräumt.)

3.: Sehr pragmatisch. Wissenschaftlicher wäre es aber zweifelsfrei, von der Möglichkeit eines Unterschiedes auszugehen. Dieser würde sich vielleicht nicht in einer allgemeinen Überlegenheit des einen über das andere Geschlecht ausdrücken (die ohnehin schwierig zu definieren wäre), aber in einer im Durchschnitt unterschiedlich starken Ausprägung spezifischer kognitiver Fähigkeiten. Mehrere Millionen Jahre natürlicher Auslese unter den unterschiedlichen Lebensanforderungen, die sich Männern und Frauen gestellt haben, müssen sich ja irgendwie niederschlagen, wenn man nicht die ganze Evolutionstheorie ablehnen will. Oder gibt es irgendwelche Anhaltspunkte dafür, dass sich die natürliche Auslese im Hinblick auf kognitive Fähigkeiten nicht teilweise unabhängig voneinander auf beide Geschlechter beziehen kann? Mit geht es daher genau umgekehrt wie dir: Solange mir niemand diese (d.h. die zuletzt von mir genannten) Anhaltspunkte erläutert, glaube ich nicht an eine Gleichheit.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Wortklaux in 2015-06-15, 21:01:26
Zitat von: Wortklaux in 2015-06-15, 19:52:33
2.: Vielleicht. ,,Sowieso" nur, soweit es um die Frage der Überlegenheit des einen über das andere Geschlecht geht, gleich in welcher Richtung. (Dennoch stellt sich z.B. in Korea, wo absolut geschlechtergerecht geprüft wird, ernsthaft die Frage, wie man mit der Tatsache umgeht, dass männliche Kandidaten in den meisten Ausbildungen mit hohen kognitiven Anforderungen fast keine Chancen mehr haben. Vielleicht wäre es ab einem bestimmten Punkt doch politisch vernünftig, die Unterschiede als gegeben zu akzeptieren und zu fragen, wie man dem unterlegenen Geschlecht adäquate Entwicklungsmöglichkeiten in der modernen Gesellschaft einräumt.)

Zusatz zu diesem Punkt: Ähnlich wie man es ja auch im Sport tut. Es regt sich niemand darüber auf, dass beim 100-m-Lauf die Frauen nur gegen die Frauen konkurrieren, und nur so haben sie ihre Chance, auch einmal Weltmeister im Schnelllauf zu werden. Politisch unklug wäre es sicher, hier eine Gleichheit herbeizureden.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-06-16, 09:51:02
Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 01:43:37
Die Notwendigkeit mag sich z.B. aus dem Wunsch nach einer konsistenten sprachlichen Gestaltung von juristischen Dokumenten speisen, einfache Regeln befolgend, statt für jeden Zusammenhang - zugespitzt gesagt - ein Gutachten einzuholen, ob Gendern erforderlich ist oder nicht.

Man braucht fürs Gendern grundsätzlich kein Gutachten, sondern nur ein Minimum an Sprachgefühl. Bei Gesetzen braucht man noch nicht mal das: Es gibt nichts zu gendern, wo Geschlecht aus Prinzip nullmarkiert ist (es sei denn, wie gesagt, das Gesetz handelt vom Geschlecht – dann sollte es aber auch früher schon explizit gewesen sein). Unnötige Konnotationen zu generieren, widerspricht dem Ökonomiegebot, dem diese Texte unterliegen.

(Streng genommen verändert sich sogar der Sinn des Textes: Wenn in unserem LHG von "Professorinnen und Professoren" gesprochen wird, wo "Professoren" qua Opposition zu "Professorinnen" nur spezifisches Maskulinum sein kann, sind all diejenigen nicht mitgenannt, die sich eventuell keinem der beiden Geschlechter zugehörig fühlen. Das ist praktisch natürlich irrelevant, aber es ist sprachlich ungenau. Und wenn Genauigkeit für eine Textsorte eine Tugend ist, dann für diese.)

Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 01:43:37
Sag bitte nicht, dass Gesetzestexte Meisterwerke sprachlicher Schönheit sind, die durch das Gendern verdorben werden! :D

Du lachst, aber auf ihre Weise sind sie das tatsächlich. In ihrer unerbittlichen Begriffstreue – wo dasselbe gemeint ist, wird auch dasselbe Wort gebraucht und nicht stilistisch variiert –, in ihrem Festhalten an zwar deutschen, aber doch leicht fremdartig wirkenden Begriffen wie "Vorsatz" (wo die Alltagssprache eher "Absicht" benutzt), in ihrer strikten Ökonomie haben sie einen ganz eigenen, spröden, gleichwohl irgendwie poetischen Reiz. Ich bin nicht der einzige, der das so empfindet, dazu habe ich schon Vorträge gehört. Juristen selbst bedauern übrigens, dass die Kunst der guten Formulierung von Gesetzen immer weiter zurückgeht. Meine in letzter Zeit berufsbedingt ausführlichen Lektüren unseres Landeshochschulgesetzes bestätigen das: Wenn Formulierung oder Disposition irgendwo nicht einleuchten, kann man sicher sein, dass es sich um einen jüngst veränderten Passus handelt. Dass auch dieses Gesetz konsequent gegendert wurde, kann nicht dadurch entschuldigt werden, dass der Text (als sprachliches Produkt) auf andere Weise ohnehin schlechter geworden ist.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: amarillo in 2015-06-16, 17:35:32
Ein Satz, der mich heute stutzen ließ: "Laurie litt wie kaum ein anderer an Schlaflosigkeit..." (John Katzenbach: der Professor)
Meines Erachtens gehören den Übersetzern sowie den Lektoren die Ohren lang gezogen: 'Laurie' ist hier nämlich ein weiblicher Vorname und nicht, was auch möglich wäre, ein Familienname.

Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Kilian in 2015-06-16, 21:55:14
Zitat von: amarillo in 2015-06-16, 17:35:32
Ein Satz, der mich heute stutzen ließ: "Laurie litt wie kaum ein anderer an Schlaflosigkeit..." (John Katzenbach: der Professor)
Meines Erachtens gehören den Übersetzern sowie den Lektoren die Ohren lang gezogen: 'Laurie' ist hier nämlich ein weiblicher Vorname und nicht, was auch möglich wäre, ein Familienname.

Da ist ein anderer wohl als generisches Maskulinum gemeint. Wenn da stünde: eine andere, dann müsste man ja annehmen, hier würde Lauries Schlaflosigkeit nur mit der anderer Frauen verglichen, und nicht von Männern, es sei denn, man wüsste, dass die Autorin (so wie ich jetzt) gelegentlich ein generisches Femininum verwendet.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Kilian in 2015-06-16, 23:31:28
Zitat von: Homer in 2015-06-15, 13:28:57Man wird hier freilich – darin wirst Du mir hoffentlich ebenfalls zustimmen – deutliche graduelle Unterschiede der Identifikation bis hin zu Null annehmen müssen, die auf die Schwere der kognitiven Bürde durchschlagen.

Stimmt.

Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 00:32:11
2. Auch wenn Du dauernd etwas anderes behauptest: Es geht bei der Frage nach den kognitiven Bürden um Missverständnisse, nämlich um die Möglichkeit, missverstanden zu werden. Seltsam, dass Du das abstreitest. Du umkreist den Begriff immer mit Ausdrücken wie "lokale Ambiguität", Du beschreibst Situationen, in denen Frauen nicht gleich wissen, ob sie "mitgemeint" sind, wehrst Dich aber gegen das dafür übliche Wort.

Ich dachte, du meinst mit "Missverständnisse" Situationen, in denen der/die Zuhörer/in das Gesagte tatsächlich falsch interpretiert. Ich meinte bei dem Argument der kognitiven Bürde jedoch in erster Linie Ambiguitäten, die sich in Sekundenbruchteilen auflösen.

ZitatDas habe ich verstanden. Aber hier fangen wir an, uns argumentativ im Kreis zu drehen. Deshalb nur zusammenfassend meine Punkte:
1. Kommunikationshindernisse sind nichts Schlimmes.
(...)
3. Sprecher sind im Interesse gelingender Kommunikation gehalten, kognitive Bürden, also potentielle Quellen von Missverständnissen, möglichst klein zu halten.
4. Es gibt keine Notwendigkeit, kognitive Bürden, die absehbar sehr klein sind, zwanghaft auf Null zu setzen, wenn die manifesten Vorteile der Ausdrucksweise an anderer Stelle die sehr kleinen potentiellen Nachteile der kognitiven Bürde überwiegen.
5. Strategien der Vermeidung von generischen Maskulina, insbesondere Paarformen, errichten sehr häufig an anderer Stelle kognitive Hürden (sinnlose Markierung des Merkmals Geschlecht), die größer sind als die, die sie vermeiden wollen.
6. Das generische Maskulinum erfordert eine in den allermeisten Fällen sehr triviale Abstraktionsleistung, die Menschen beiderlei Geschlechts mit der größten Selbstverständlichkeit vollbringen. Abstraktion funktioniert offenbar (entgegen dem Wortsinn) eher so, dass das für das sprachliche Zeichen Wesentliche unmittelbar erkannt wird, als dass aus der Gesamtfülle aller Eigenschaften eines Gegenstands und aller möglichen Konnotationen eines Wortes die unwesentlichen gestrichen werden. Deshalb kann sie so blitzartig funktionieren. Wenn man den Satz hört: "Was hast du denn da angestellt?", leuchtet wohl in keinem (muttersprachlichen, normal sprachkompetenten) Kopf auch nur für eine Nanosekunde für "anstellen" eine der anderen Bedeutungen wie "in Funktion setzen", "eine bezahlte Beschäftigung geben" usw. auf.
(...)
9. Wo der Sprecher vermuten muss, dass diese Wahrnehmungsschwelle überschritten wird, hat er intuitiv alle Faktoren abzuwägen (Zuhörerschaft, Äußerungskontext, grammatische und stilistisch-ästhetische Fragen, an anderer Stelle entstehende kognitive Hindernisse), um die Frage zu entscheiden, ob nicht vielleicht im Gesamtbild das generische Maskulinum dennoch – auch für die zuhörenden Frauen – die kommunikativ erfolgversprechendere Wahl ist.
10. Diese Abwägung kann auch misslingen, wie jede andere in jeder anderen Kommunikation auch. Das ist angesichts der in 9. genannten möglichen Kontraindikationen kein Grund, sie generell zu vermeiden.

So weit alles richtig, aber wie gesagt, es gibt die systematisch auftretende Bürde für Frauen, auch, wenn sie klein sein sollte. Ah, du kommst dazu:

Zitat
7. Diese Abstraktionsleistung kann von Fall zu Fall – das ist unbestreitbar – sprachstrukturell bedingt für Frauen größer sein als für Männer. Die Größe dieses gap ist in aber Fällen wie dem Römerbeispiel oder dem Dichterbeispiel entweder Null oder eine quantité negligeable, da sie (jedenfalls in nicht durch feministische Theoreme beeinflussten Kontexten) sehr wahrscheinlich unterhalb der subjektiven Wahrnehmungsschwelle liegt.
8. Wo diese Wahrnehmungsschwelle nicht überschritten wird, kann auch keine subjektive Diskriminierung vorliegen.

Für das Römer- und Dichterbeispiel scheint mir das auch plausibel. In anderen Fällen, in denen sich (feministisch weniger sensibilisierte) Frauen keiner Diskriminierung oder auch nur der nötigen Abstraktionsleistung an sich bewusst werden, kann ich mir allerdings vorstellen, dass sie trotzdem unbewusst wirkt – und Frauen (zusammen mit anderen Faktoren, die Frauen beim Reden über verschiedenste Gruppen mehr oder weniger subtil als Out-Group behandeln) schleichend die Lust entzieht, bei solchen Gruppen mitzumischen. Es wäre doch eine im 21. Jahrhundert sehr gewagte These, zu behaupten, nur weil etwas nicht bewusst werde, könne es nicht psychologisch wirken.

Zitat
11. Das baut gegenüber einer Schema-Lösung auf eine gewisse geistige Flexibilität der Gesprächsteilnehmer. Deswegen war meine Polemik – die ich ja  als solche gekennzeichnet habe – gegen das Frauenbild der Feministinnen auch nicht so völlig aus der Luft gegriffen, wie Du denkst.
12. Deshalb gibt es Frauen, die sich von Paarformen für dumm verkauft vorkommen, um nicht gleich von Diskriminierung zu sprechen (siehe z.B. hier (https://web.archive.org/web/20021230215839/http://www.morgenwelt.de/kultur/9904-sprache.htm)). Ich kenne solche Frauen.

Das ist aber falsch gedacht. Wer so argumentiert, hat mein Argument nicht verstanden. Es geht mir nicht darum, dass Frauen etwas Hirnschmalz abverlangt wird. Es geht darum, dass sie systematisch ungleich behandelt werden. Und etwas weiter gedacht: Es geht auch darum, dass man den Männern die Herausforderung vorenthält, ihre geistige Flexibilität zu üben und Frauen regelmäßig "mitzudenken", wodurch ihnen eine Chance entgeht, zu sich für Frauen angenehmer, inklusiver verhaltenden Mitmenschen zu werden.

Zitat
13. Die feministische Forderung nach strikter Vermeidung des generischen Maskulinums impliziert eindeutig die Annahme seiner kontextunabhängigen Problematizität. Das ist kein sprachwissenschaftlich nachweisbares Faktum, sondern ein in seiner angeblichen Bedeutsamkeit heillos aufgeblähtes, gesellschaftspolitisch motiviertes Postulat.

Es ist psycholinguistisch nachgewiesen, dass das generische Maskulinum tendenziell problematisch ist, woraus es m.E. nicht unvernünftig ist, den Appell abzuleiten, es tendenziell zu vermeiden. Natürlich kann niemand nachweisen, dass es gar keine Kontexte gibt, in denen das generische Maskulinum tatsächlich unproblematisch ist. Und ja, es gibt sicher weitaus bedeutsamere Faktoren von Diskriminierung, zumal nachdem die Bemühungen zur Vermeidung generischer Maskulina ja schon jahrzehntelang andauern und sichtbare Erfolge aufweisen.

Zitat
Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 00:32:11
Also, unwissentlich kannst du von jetzt an durch generisches Maskulinum die kognitive Bürde zum Verstehen deiner Äußerungen für Frauen nicht mehr erhöhen, you have been warned – es sei denn, du wärest dir ganz sicher, dass deine Zuhörer/innen zum Verstehen deiner Äußerungen nicht nach einem Bezug zwischen sich und der genannten Personengruppe suchen werden, und täuschtest dich.

Das habe ich nicht verstanden. Kannst Du mir das nochmal erläutern?

In deinem Beispiel mit dem Raumverlassen hattest du (innerhalb des Beispiels) das generische Maskulinum verwendet und damit unwissentlich, wie du schreibst, die Bürde für die weiblichen Studentinnen erhöht. Nach dieser Diskussion hier wirst du dagegen hoffentlich in Zukunft immer wissen, wenn du so eine Erhöhung vornimmst. Das wollte ich damit sagen. :D

ZitatÜber die pauschale Genus-Sexus-Verwechslung wird für Frauen ein sprachliches Diskriminierungspotential erkannt, das für die ebenfalls vorhandene, aber gesellschaftlich nicht hinreichend distinkte Gruppe der Ironie-Tauben nicht thematisiert wird, obwohl die Fälle kommunikationsstrukturell parallel sind.

Das sind sie nicht. In dem Beispiel mit der Ironie sind alle gefordert, die Ironie zu erkennen; den einen gelingt es und den anderen nicht. In dem Beispiel mit dem Maskulinum dagegen müssen die Männer die Ambiguität nicht auflösen, um auf die Aufforderung angemessen zu reagieren. Den Aspekt, ob Frauen mitgemeint sind oder nicht, können sie schlicht ignorieren.

ZitatAber dass ich im Gespräch mit feministisch beeinflussten Frauen, denen ich ja nicht erst lang und breit meine Argumente darlegen kann, warum ich das generische Maskulinum benutze, mich schon insgeheim ärgern darf, dass ich mich unbegründeten Dogmen anpassen muss, wenn ich nicht Gefahr laufen will, als Anti-Feminist zu gelten – der ich nicht bin –, das wirst Du mir zugestehen, oder? Und dass dieser Kurzschluss zwischen Genusverwendung und gesellschaftlicher Positionierung auf feministischen Ansichten über Sprache beruht, doch wohl auch? Über einer solchen Unterhaltung schwebt dann ein totalitärer Geist, von dem ich mich kontrolliert fühle, den allerdings nicht unbedingt direkt die Person, mit der ich mich unterhalte, einbringt, sondern mein Wissen um die Zugehörigkeit dieser Person zu einer (in ihrer radikalen Form) apodiktisch und totalitär argumentierenden Gruppe.

Ja, apodiktisch und totalitär argumentierende Gruppen und Menschen sind eine schwierige Spezies, ich gehe ihnen aus dem Weg. Ich finde z.B. auch Anatol Stefanowitsch ein wenig schwierig, der sehr zur Zuspitzung neigt. Im persönlichen Umgang ist er sicher ein ganz lieber Kerl, und er würde auch wohl niemanden ohne Anlass für die Verwendung eines generischen Maskulinums kasteien. Wenn man ihn aber gleichzeitig für irgendetwas kritisiert, kann das schon anders aussehen.

Auf der anderen Seite habe ich Verständnis dafür, wenn Leute, die ständig gegen Diskriminierung kämpfen und ständig durch Internet-Trolle dafür angegriffen und in Diskussionen verwickelt werden, die die Existenz der Diskriminierung leugnen, keine Lust haben, immer 100%ig zugunsten des weißen Mannes zu differenzieren. Da finde ich es für mich als Nichtdiskriminierten dann produktiver, ihnen entweder entgegenzukommen (z.B. einmal "zu viel" zu gendern) oder mich rauszuhalten.

Zitat1.Diese Asymmetrie ist praktisch in aller Regel völlig bedeutungslos (s.o.).

Nein, s.o.

ZitatDu hast mir immer noch nicht erklärt – und es gibt auch m.E. kein einziges gutes Argument dafür –, warum wegen der Möglichkeit, dass in Fällen unsensibler Kommunikation durch die Sprecher diese Asymmetrie auch einmal praktisch bedeutsam werden könnte, das Sprachsystem nicht nur geändert, sondern eindeutig sehr hilfreicher und schöner Ausdrucksmöglichkeiten beraubt werden soll.

Noch einmal: Ich halte es für sinnvoll, das generische Maskulinum im Sprachgebrauch tendenziell zu vermeiden. Was das mit dem Sprachsystem machen wird, wird sich zeigen.

Zitat4. Ein generisches Femininum gibt es nicht

Naja. Es gibt Menschen, die es verwenden und verstehen.

ZitatDas generische Maskulinum ist seit mindestens 5000 Jahren eingeführt. Die spezifisch maskuline Verwendung dieses Genus ist sprachhistorisch nur ein Spezialfall der eigentlich primären generischen, der durch die Ausgliederung des später gebildeten Femininums aus der Klasse "belebt" entstanden ist. (Zuvor wurden Geschlechter lexematisch enkodiert: Vater – Mutter, Bruder – Tochter, Eber – Sau.) Es hätte genau so gut andersherum sein können, ist es aber nicht. Und alle Sprecher, auch Frauen, waren es sehr zufrieden, sonst wäre das generische Maskulinum längst an seiner vermeintlichen Ambiguität zugrundegegangen und durch etwas anderes ersetzt worden. Das angebliche Problem damit ist pure feministische Konstruktion.

Wir haben aber erst seit Kurzem die gesellschaftliche Übereinkunft der Gleichberechtigung und damit einhergehend eine viel stärkere Durchmischung der Geschlechter in allen möglichen Berufen und anderen gesellschaftlichen Domänen. Die Lage ist jetzt also eine deutlich andere als die 5000 Jahre davor.

Zitat5. Vorschlagen und fordern kann man viel. Und KKs Versuch ist ja auch ganz lustig. Aber eine Neuerung hat den praktischen Beweis anzutreten, dass sie kommunikativ besser ist das Alte. Es ist leicht zu sehen, dass die Randomisierung systematisch Unklarheiten schafft, die vorher nicht da waren. Deshalb wird sie eine Spielerei bleiben.

Gut, warten wir's ab! :D

Zitat
Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 00:32:11
Weder in der DGPs-Pressemitteilung noch im Sprachlog-Beitrag kommt das Wort diskriminieren auch nur einmal vor, außer in letzterem als Tag. Verstehst du jetzt, dass ich das Gefühl habe, dass du in diese Veröffentlichungen etwas reinliest, was da nicht steht?

Wenn Du mir zeigen kannst, dass der Bericht von AS, verlinkt von KK, nicht in den feministischen Kontext eingebettet werden sollte, in dessen Zusammenhang die Verwendung des generischen Maskulinums regelmäßig als diskriminatorisch oder sogar sexistisch gebrandmarkt wird (beliebig herbeigegoogeltes Beispiel (http://www.unesco.de/fileadmin/medien/Dokumente/Bibliothek/eine_sprache.pdf), gleich im Vorwort), dann verstehe ich das. Und für wie wahrscheinlich hältst Du es angesichts der Fragestellung tatsächlich, dass die Psychologen überhaupt nicht von feministischen Forderungen nach "sprachlicher Gleichstellung" ausgegangen sind, als sie die Studie planten? Nein, Kilian, tut mir leid, das Offensichtliche kann ich nicht einmal Dir zu Gefallen weglesen.

Noch etwas anderes, von dem ich nicht weiß, ob es in der Diskussion um die Frage der Diskriminierung durch sprachliche Äußerungen weiterführt: Der Sprecher merkt/beabsichtigt entweder, dass er diskriminiert, oder nicht. Der Rezipient fühlt sich entweder diskriminiert oder nicht. Daraus ergeben sich vier Fälle. Das wird man vielleicht für die Frage heranziehen müssen, was sprachliche Diskriminierung überhaupt ist. Genügt es, dass sich jemand diskriminiert fühlt, obwohl der andere ihn gar nicht diskriminieren wollte? Ich bin, ehrlich gesagt, kein Anhänger von rein opferzentrierten Definitionen bei solchen Fragen (die gibt es, wie Du weißt, in Political-Correctness-Diskussionen jeder Art, vor allem in den USA), obwohl die Opferperspektive zu Recht besonders schwer wiegt. Über die Frage, ob jemand beleidigt wurde, entscheiden ja aus guten Gründen dauernd Gerichte (existenziell kann es für beide Parteien beim Thema Vergewaltigung werden). Offenbar ist man im Rechtssystem der Meinung, dass man aus der Gesamtfaktenlage objektivierbare Kriterien herausfiltern muss, obwohl das Beleidigtsein sehr subjektiv ist. Jemand kann sich beleidigt fühlen, aber nicht beleidigt worden sein. Ebenso kann aber auch jemand nicht die Absicht gehabt haben zu beleidigen, aber trotzdem beleidigt haben. Die Notwendigkeit, die Vier-Fälle-Kasuistik objektiv zu überwölben, macht vermutlich auch jede Defintion sprachlicher Diskriminierung enorm kompliziert. Ich bin mit jeder rational wohlbegründeten Lösung einverstanden. Was ich lediglich nicht akzeptieren kann, ist das alleinige Urteil einer angesprochenen Person über meinen Sprechakt ("ich fühle mich diskriminiert, also bin ich diskriminiert worden"). Meine Absicht und – in der Gesamtschau – möglichst objektive, Absicht und Auswirkung berücksichtigende Kriterien müssen auch eine Rolle spielen.

Was ich meine: Pressemitteilung und Sprachlogbeitrag weisen (zu Recht) darauf hin, dass das generische Maskulinum dazu neigt, diskriminierende Auswirkungen zu haben. Damit richten sie sich m.E. in erste Linie gegen die nicht zu knapp vorhandenen Mitmenschen, die meinen, das jede Form sprachlicher Gleichstellung schon zu viel ist. Sie erheben, so weit ich das sehe, keine Anklage gegen jeden Einzelnen, der es hin und wieder, mit Augenmaß, so wie du, verwendet. Ich verstehe also nicht, warum du dich so aufregst ("traurige", "Verdammung", "irrwitzige", "himmelangst").
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Kilian in 2015-06-16, 23:44:19
Zitat von: Homer in 2015-06-15, 16:01:34
Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 01:17:14
Zu den möglicherweise beleidigten Linguistinnen:

Zitat von: Homer in 2015-06-13, 18:43:04Wobei sich in diesem Fall die Unsicherheit eher zugunsten der Linguistinnen auswirkt, die nicht sicher davon ausgehen können, dass sie beleidigt worden sind.

Inwiefern ist das ein Vorteil für die Linguistinnen? ??? Ich sähe das eher als Nachteil: Möglicherweise beleidigt worden zu sein und noch nicht einmal zu wissen, ob man wirklich gemeint war. Wie fies.

Jetzt hack doch nicht auf meiner Pointe herum! Ich fand sie nicht schlecht ...  ;)

Jaja, ganz lustig, aber es war schon ein ernstgemeinter Einwand von mir, weil das "zugunsten der Linguistinnen"-Argument großes Unverständnis des "Frauen müssen immer überlegen, ob sie mitgemeint sind"-Arguments offenbart.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Kilian in 2015-06-16, 23:58:54
Und nun noch zu den Gesetzen:

Zitat von: Homer in 2015-06-16, 09:51:02
Man braucht fürs Gendern grundsätzlich kein Gutachten, sondern nur ein Minimum an Sprachgefühl. Bei Gesetzen braucht man noch nicht mal das: Es gibt nichts zu gendern, wo Geschlecht aus Prinzip nullmarkiert ist (es sei denn, wie gesagt, das Gesetz handelt vom Geschlecht – dann sollte es aber auch früher schon explizit gewesen sein). Unnötige Konnotationen zu generieren, widerspricht dem Ökonomiegebot, dem diese Texte unterliegen.

Welche unnötigen Konnotationen generiert denn z.B. das "wer zu Fuß geht" der StVO?

Zitat(Streng genommen verändert sich sogar der Sinn des Textes: Wenn in unserem LHG von "Professorinnen und Professoren" gesprochen wird, wo "Professoren" qua Opposition zu "Professorinnen" nur spezifisches Maskulinum sein kann, sind all diejenigen nicht mitgenannt, die sich eventuell keinem der beiden Geschlechter zugehörig fühlen. Das ist praktisch natürlich irrelevant

Das ist es nicht. (https://www.gender.hu-berlin.de/de/zentrum/personen/ma/1682130)

Zitataber es ist sprachlich ungenau. Und wenn Genauigkeit für eine Textsorte eine Tugend ist, dann für diese.)

Guter Punkt. Vielleicht sind Gesetze die nächsten Kandidatx für die Einführung von Formen wie Professx. ;D

Zitat
Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 01:43:37
Sag bitte nicht, dass Gesetzestexte Meisterwerke sprachlicher Schönheit sind, die durch das Gendern verdorben werden! :D

Du lachst, aber auf ihre Weise sind sie das tatsächlich. In ihrer unerbittlichen Begriffstreue – wo dasselbe gemeint ist, wird auch dasselbe Wort gebraucht und nicht stilistisch variiert –, in ihrem Festhalten an zwar deutschen, aber doch leicht fremdartig wirkenden Begriffen wie "Vorsatz" (wo die Alltagssprache eher "Absicht" benutzt), in ihrer strikten Ökonomie haben sie einen ganz eigenen, spröden, gleichwohl irgendwie poetischen Reiz. Ich bin nicht der einzige, der das so empfindet, dazu habe ich schon Vorträge gehört.

Guter Punkt. Unerbittliche Begriffstreue beißt sich allerdings nicht mit einer Vermeidung des generischen Maskulinums. Und das wer zu Fuß geht der neuen StVO fügt sich die spröd-reizvolle Sprache m.E. wunderbar ein: erst ungewohnt, etwas befremdlich, aber völlig mit den Mitteln der bestehenden Sprache und sehr klar. Das zumindest finde ich mal eine gelungene Überarbeitung.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-06-17, 00:32:42
Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 02:18:44
Zitat von: Homer in 2015-06-14, 15:51:45
Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Z.B.: "Ich werde mich mit meinen Anwälten besprechen."

Auch wenn das generisch gemeint war, stellt die Gesprächspartnerin sich jetzt möglicherweise ein rein männliches Team vor. Du kannst natürlich sagen, dass dieses im Kontext von sprachlicher Kommunikation auftretende Phänomen lediglich ein Symptom der gesellschaftlichen Verhältnisse ist. Aber die Studie von Vervecken legt nahe, dass dieses Symptom wiederum dazu beiträgt, das Übel zu verstärken, weil, wenn Frauen sich immer nur Männer in einem Beruf vorstellen, sie womöglich davon abkommen, sich für diesen Beruf zu entscheiden.

Wenn der obige Satz generisch gemeint war und von der Rezipientin als generisch verstanden wurde, stellt sie sich eben gerade keine Männer vor, sondern abstrahiert völlig vom Geschlecht und denkt nur an "Leute", die den Anwaltsberuf ausüben. Wenn es generisch gemeint war, die Frau es aber nicht so versteht, dann müssen spezifische persönliche oder im Kontext liegende Gründe vorhanden sein, warum die Frau den Begriff "Anwälte" gegen die Intention des Sprechers geschlechtlich auflädt. Das ist ein in der Kommunikation unerwünschter Effekt, aber auch nichts um jeden Preis Vermeidenswertes. Es wird von der Hörerin eine vom Sprecher nicht intendierte Konnotation aktiviert, na und? Das passiert in jeder normalen Unterhaltung dauernd. Dein Beispielsatz ist aber sicher kein politischer oder kommunikativer Hochrisikosatz, Fettnäpfchengefahr sehr gering. Solange der Sprecher keine Gründe kennt, die es bei seiner besonderen Rezipientin ratsam erscheinen lassen zu gendern, drückt der obige Satz das Gemeinte einfach besser (nämlich geschlechtsneutral) und kürzer aus als der gegenderte.

Aber nehmen wir den Satz in "geschlechtergerechter" Sprache: "Ich werde mich mit meinen Anwältinnen und Anwälten besprechen." Im besten Fall begreift die Rezipientin die Doppelnennung einfach als Variante des generischen Maskulinums, obwohl sie das eigentlich nicht ist. Denn die überflüssige doppelte geschlechtliche Markierung kann auch stutzig machen: "Wozu muss ich wissen, dass der Sprecher anwaltlichen Beistand von Männern und Frauen hat. Welches Signal sendet er damit aus?" Wahrscheinlich gar keins, aber in solchen Fällen entsteht jetzt regelmäßig (durch die Markierung bedingt) eine Kognitionslücke, die gewiss nicht kleiner ist als die im Einzelfall auftretende beim generischen Maskulinum. Wobei mir diese Lücke genau so egal ist wie die andere. Beim Kommunizieren gibt es halt hin und wieder was zu denken.

Joah, das sind ein paar recht subjektive ("besser", "mir egal") Argumente für das generische Maskulinum. Das Argument dagegen, das ich genannt habe, wird davon nicht berührt, oder habe ich was verpasst?

"Recht subjektiv" ist eine Wertung, gegen die ich mich doch wehren muss.

"Besser" habe ich erklärt: Eine Form, die das geringstmögliche Maß (im Idealfall null) an geschlechtlicher Konnotation hineinträgt in einen Zusammenhang, in dem der Sprecher Nullmarkiertheit dieses Merkmals anstrebt, weil sie der Intention am besten Rechnung trägt, ist besser als eine andere, die das nicht tut – trivial. "Die Römer sprachen Latein" ist in diesem Sinne besser als "Die Römerinnen und Römer sprachen Latein". Um es in der Währung "kognitive Bürde" auszudrücken: Zur Vermeidung einer vermeintlichen, allein die Frauen betreffenden kognitiven Bürde, die vollkommen theoretischer Natur ist – es hätte sie geben können, praktisch ist sie aber exakt null – wird aus puren "Gerechtigkeits"-Gründen eine deutlich mehr als Null betragende kognitive Bürde für alle eingeführt ("was soll die Geschlechtsmarkierung hier?") und auf bestmögliche Präzision und Ökonomie des Ausdrucks verzichtet.

"Wobei mir diese Lücke genau so egal ist wie die andere" ist etwas flapsig ausgedrückt, aber nicht subjektiv gemeint für: "Die durch das generische Maskulinum entstehende Kognitionslücke kann m.E. vernachlässigt werden. Die durch Gendern entstehende ist regelmäßig gravierender, ich kann dennoch darauf verzichten, diesen Punkt sehr stark zu bewerten." Das war als Zugeständnis gedacht, aber wenn Du nicht möchtest ...
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Wortklaux in 2015-06-17, 01:48:37
Zitat von: Kilian in 2015-06-16, 23:58:54
Welche unnötigen Konnotationen generiert denn z.B. das "wer zu Fuß geht" der StVO?
Jedenfalls maskuline...
,,Wer zu Fuß geht, muss die Gehwege benutzen." — Wer denn? Natürlich der, wer... und nicht die, wer...
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-06-17, 02:38:22
Zitat von: Kilian in 2015-06-16, 23:31:28
Zitat
7. Diese Abstraktionsleistung kann von Fall zu Fall – das ist unbestreitbar – sprachstrukturell bedingt für Frauen größer sein als für Männer. Die Größe dieses gap ist in aber Fällen wie dem Römerbeispiel oder dem Dichterbeispiel entweder Null oder eine quantité negligeable, da sie (jedenfalls in nicht durch feministische Theoreme beeinflussten Kontexten) sehr wahrscheinlich unterhalb der subjektiven Wahrnehmungsschwelle liegt.
8. Wo diese Wahrnehmungsschwelle nicht überschritten wird, kann auch keine subjektive Diskriminierung vorliegen.

Für das Römer- und Dichterbeispiel scheint mir das auch plausibel. In anderen Fällen, in denen sich (feministisch weniger sensibilisierte) Frauen keiner Diskriminierung oder auch nur der nötigen Abstraktionsleistung an sich bewusst werden, kann ich mir allerdings vorstellen, dass sie trotzdem unbewusst wirkt – und Frauen (zusammen mit anderen Faktoren, die Frauen beim Reden über verschiedenste Gruppen mehr oder weniger subtil als Out-Group behandeln) schleichend die Lust entzieht, bei solchen Gruppen mitzumischen. Es wäre doch eine im 21. Jahrhundert sehr gewagte These, zu behaupten, nur weil etwas nicht bewusst werde, könne es nicht psychologisch wirken.

Vorsicht, ich habe nicht von "Bewusstsein" gesprochen! Mit der "subjektiven Wahrnehmungsschwelle" meine ich bereits die sehr niedrige Schwelle, oberhalb deren auch diffuses, noch vorbewusstes Unbehagen oder dergleichen auftreten kann. Wenn diese Schwelle der psychologischen Wirksamkeit unterschritten ist, kann auch keine subjektive Diskriminierung stattfinden, mehr wollte ich nicht sagen. Ich glaube nicht, dass wir uns darin uneins sein müssen. Ich glaube wahrscheinlich nur an mehr Fälle der Verwendung des generischen Maskulinums, die unterhalb dieser Schwelle liegen, als Du.

Jetzt muss man aber auch berücksichtigen, dass Diskriminierung ein relationaler Begriff ist. Für subjektive Diskriminierung reicht kein diffuses unbezogenes Unbehagen mehr, sondern es muss ein Vergleich mit einer als besser behandelt empfundenen anderen Person oder Gruppe stattfinden, der nur mit Bewusstsein anzustellen ist.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-06-17, 04:37:28
Zitat von: Kilian in 2015-06-16, 23:58:54
Und nun noch zu den Gesetzen:

Zitat von: Homer in 2015-06-16, 09:51:02
Man braucht fürs Gendern grundsätzlich kein Gutachten, sondern nur ein Minimum an Sprachgefühl. Bei Gesetzen braucht man noch nicht mal das: Es gibt nichts zu gendern, wo Geschlecht aus Prinzip nullmarkiert ist (es sei denn, wie gesagt, das Gesetz handelt vom Geschlecht – dann sollte es aber auch früher schon explizit gewesen sein). Unnötige Konnotationen zu generieren, widerspricht dem Ökonomiegebot, dem diese Texte unterliegen.

Welche unnötigen Konnotationen generiert denn z.B. das "wer zu Fuß geht" der StVO?

Die unnötigen Konnotationen entstehen vorzugsweise durch Paarformen. Ausgerechnet die sind in der StVO immerhin vermieden (anders als in unserem LHG). Dafür hat man jede Menge andere merkwürdige Dinge getrieben: "wer zu Fuß geht", "zu Fuß Gehende" und auch noch "Fußgänger" (in Komposita sowieso, aber nicht nur dort) wechseln einander ab, der begrifflichen Einheitlichkeit, die gute Gesetzessprache auszeichnet, hohnsprechend. Das gilt auch für "Verkehrsteilnehmer" und seine gegenderten Varianten u.a. Man kann sich übrigens angesichts der krampfhaft wirkenden Genderformen wie "zu Fuß Gehende", das jeder – ich behaupte: selbst Feministinnen – unwillkürlich sofort in das übliche "Fußgänger" zurückübersetzt, fragen, ob das Merkmal "Geschlecht" nicht gerade durch die ungelenken Vermeidungsversuche erst recht ins Bewusstsein rückt.

Zitat von: Kilian in 2015-06-16, 23:58:54
Zitat(Streng genommen verändert sich sogar der Sinn des Textes: Wenn in unserem LHG von "Professorinnen und Professoren" gesprochen wird, wo "Professoren" qua Opposition zu "Professorinnen" nur spezifisches Maskulinum sein kann, sind all diejenigen nicht mitgenannt, die sich eventuell keinem der beiden Geschlechter zugehörig fühlen. Das ist praktisch natürlich irrelevant

Das ist es nicht. (https://www.gender.hu-berlin.de/de/zentrum/personen/ma/1682130)

Ich meine nur, dass es keine Auswirkung auf die juristische Gültigkeit der Gesetze für alle Personen hat.

Zitat von: Kilian in 2015-06-16, 23:58:54
Unerbittliche Begriffstreue beißt sich allerdings nicht mit einer Vermeidung des generischen Maskulinums.

O doch. Spätestens bei Komposita wie "Fußgängerüberweg" (in der neuen StVO einfach ungegendert geblieben) wird es eng. Gut, Leuten, die das verzapfen, was jetzt vorliegt, traut man auch den "Zufußgehendenüberweg" zu.

Zitat von: Kilian in 2015-06-16, 23:58:54
Und das wer zu Fuß geht der neuen StVO fügt sich die spröd-reizvolle Sprache m.E. wunderbar ein: erst ungewohnt, etwas befremdlich, aber völlig mit den Mitteln der bestehenden Sprache und sehr klar. Das zumindest finde ich mal eine gelungene Überarbeitung.

Ich finde es im Gegenteil ganz schrecklich. Sieh Dir mal § 25 an, der ist mit "Fußgänger" überschrieben. Das geht auch nicht anders, denn "Wer zu Fuß geht" konnte er nicht heißen. "Zu Fuß Gehende" wäre möglich gewesen, aber offenbar wollte man in der Überschrift nicht von dem griffigen, üblichen Wort lassen – symptomatisch, wie ich finde. Jetzt sieh Dir aber bitte mal die ersten vier Absätze an: Alle beginnen Sie mit "Wer zu Fuß geht". Ich hatte sofort das Gefühl, dass das – unabhängig vom Gender-Aspekt – nicht gesetzessprachgemäß ist. Und nach einer Weile bin ich darauf gekommen, warum: Solche "Wer-"Formeln gibt es häufig in Gesetzen. Sie stehen aber immer dort, wo situativ in einem Gesetzestext eine Gruppe eigens definiert werden soll, für die kein hinreichend kurzer, gängiger Gruppenterminus existiert: "Wer aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert", "Wer sich um einen Sitz im Bundestage bewirbt", "Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder ... erhält" "Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist ..., wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt" (Beispiele aus dem GG). So ein Ausdruck wird nie für dieselbe Gruppe wiederholt ("wer die meisten Stimmen erhält" könnte natürlich auf mehrere Gruppen angewendet werden). Auch bei Stichproben im BGB habe ich nur Ausdrücke dieser Art und nur Solitäre gefunden. Wie in § 25 StVO reihenweise und danach öfter "wer zu Fuß geht" für die in der Straßenverkehrsthematik wohlbekannte Standardteilnehmergruppe der Fußgänger zu benutzen, ist stilistisch genau so schlimm, als wollte man im GG "Bundesminister" konsequent durch "wer ein Bundesministerium leitet" ersetzen. Ich frage mich, warum man an eine solche Novellierung Leute heranlässt, die keinerlei Sprachgefühl für die Textsorte haben, in der sie sich täglich bewegen.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-06-17, 08:39:14
Zitat von: Kilian in 2015-06-16, 21:55:14
Zitat von: amarillo in 2015-06-16, 17:35:32
Ein Satz, der mich heute stutzen ließ: "Laurie litt wie kaum ein anderer an Schlaflosigkeit..." (John Katzenbach: der Professor)
Meines Erachtens gehören den Übersetzern sowie den Lektoren die Ohren lang gezogen: 'Laurie' ist hier nämlich ein weiblicher Vorname und nicht, was auch möglich wäre, ein Familienname.

Da ist ein anderer wohl als generisches Maskulinum gemeint. Wenn da stünde: eine andere, dann müsste man ja annehmen, hier würde Lauries Schlaflosigkeit nur mit der anderer Frauen verglichen, und nicht von Männern, es sei denn, man wüsste, dass die Autorin (so wie ich jetzt) gelegentlich ein generisches Femininum verwendet.

Ja, das soll wohl wirklich generisches Maskulinum sein. Für mein Gefühl ist aber "ein anderer" mit seiner maskulinen Endung gerade durch den vergleichenden, über "wie" auch grammatisch hergestellten Bezug auf eine Frau in doch störender Weise mit einem nicht unerheblichen Rest männlicher Konnotation behaftet. Der in der Tendenz weniger für die Abstraktion vom Merkmal "Geschlecht" geeignete Singular tut ein übriges. Es hätte bessere Mittel gegeben, die Geschlechtsneutralität auszudrücken: "wie kaum jemand anders" oder (sogar im radikalsten feministischen Sinne klinisch sauber) "wie (nur) wenige andere". Deshalb bin ich beim Ohren-Langziehen dabei.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Wortklaux in 2015-06-17, 17:17:27
Zitat von: Homer in 2015-06-17, 08:39:14
Zitat von: Kilian in 2015-06-16, 21:55:14
Zitat von: amarillo in 2015-06-16, 17:35:32
Ein Satz, der mich heute stutzen ließ: "Laurie litt wie kaum ein anderer an Schlaflosigkeit..." (John Katzenbach: der Professor)
Meines Erachtens gehören den Übersetzern sowie den Lektoren die Ohren lang gezogen: 'Laurie' ist hier nämlich ein weiblicher Vorname und nicht, was auch möglich wäre, ein Familienname.

Da ist ein anderer wohl als generisches Maskulinum gemeint. Wenn da stünde: eine andere, dann müsste man ja annehmen, hier würde Lauries Schlaflosigkeit nur mit der anderer Frauen verglichen, und nicht von Männern, es sei denn, man wüsste, dass die Autorin (so wie ich jetzt) gelegentlich ein generisches Femininum verwendet.

Ja, das soll wohl wirklich generisches Maskulinum sein. Für mein Gefühl ist aber "ein anderer" mit seiner maskulinen Endung gerade durch den vergleichenden, über "wie" auch grammatisch hergestellten Bezug auf eine Frau in doch störender Weise mit einem nicht unerheblichen Rest männlicher Konnotation behaftet. Der in der Tendenz weniger für die Abstraktion vom Merkmal "Geschlecht" geeignete Singular tut ein übriges. Es hätte bessere Mittel gegeben, die Geschlechtsneutralität auszudrücken: "wie kaum jemand anders" oder (sogar im radikalsten feministischen Sinne klinisch sauber) "wie (nur) wenige andere". Deshalb bin ich beim Ohren-Langziehen dabei.
Ich kann mich über diese Diskussion nur wundern. Jedenfalls bestätigt sie, dass es vollkommen subjektiv ist, wo die Grenzen des generischen Maskulinums sind. Hier handelt es sich offensichtlich um Literatur. Gleich ob es sich um ein Originalwerk oder um eine Übersetzung handelt, darf man die Sprache hier nicht mit denselben Maßstäben messen wie in einem Gesetzestext oder einer Universitätsveröffentlichung, da es ja jedem Leser freisteht, das künstlerische Werk anzunehmen oder abzulehnen und dadurch keinerlei subjektives Recht berührt wird. Kritik ist erlaubt, aber das Ohren-Langziehen (eine obsolete Erziehungsmaßnahme, die, wenn heute überhaupt noch etwas, nur die Zurechtweisung aus einer Autoritätsposition bezeichnen kann) ist hier meiner Meinung nach vollkommen fehl am Platze.

Für mich klingt das generische Maskulinum hier im übrigen akzeptabel, vorausgesetzt, dass vorher bereits bekannt ist, dass Laurie eine Frau ist. Es ist hier vom wortklauxischen Standpunkt sogar besonders angemessen, da selbst die theoretische Möglichkeit, dass Frauen nicht eingeschlossen sein könnten, durch den Kontext sicher ausgeschlossen ist (denn Laurie ist ja eingeschlossen). Aber das ist anscheinend auch wieder nur meine ganz subjektive Meinung.

"Wie kaum jemand anders" wäre in einem Gesetzestext ein adäquater Ersatz, aber nicht in einem literarischen Text. "Einer trage des andern Last" kann man auch nicht durch "man trage die Last von jemand anders" ersetzen, ohne dass der Satz seiner rhetorischen Wirkung beraubt wird. Gibt es für diesen Satz eigentlich überhaupt einen akzeptablen Ersatz, der auf generisches Maskulinum verzichtet?
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-06-17, 20:29:53
Stilfragen sind in gewissen Grenzen unvermeidlich subjektiv, natürlich. Ich finde das generische Maskulinum hier, wie gesagt, nicht glücklich, zumal es vermeidbar ist, ohne dass m.E. die Literarizität des Ausdrucks leidet. Wenn Dir "wie kaum jemand anders" nicht gefällt – ich finde es keine Spur bürokratischer und unliterarischer als "wie kaum ein anderer" –, wie ist es dann mit meinem anderen Vorschlag "wie (nur) wenige andere"? Es gibt noch andere Möglichkeiten, mit einem der allenfalls sehr schwach männlich markierten Ausdrücke "jemand" oder "niemand" zu arbeiten, wenn es unbedingt ein Singular sein soll, z.B. "wie kaum jemand sonst", "wie fast niemand sonst". Umformungen mit "mehr als" sind ebenfalls denkbar: "mehr als die meisten anderen" z.B. Das kommt mir durchweg besser vor als die gewählte Lösung.

"Einer trage des andern Last" kann man nicht deshalb nicht durch "man trage die Last von jemand anders" ersetzen, weil "jemand anders" per se so viel hässlicher wäre als "des andern" – obwohl es sicher weniger poetisch ist –, sondern aus zwei anderen Gründen: 1. Die durch "einer ... des anderen" ausgedrückte Reziprozität geht verloren, die für die Aussage zentral ist; 2. wegen des hier nun wirklich unschönen "von"-Genitivs. Kilian würde hier wahrscheinlich zum Gendern auf die Einführung des Neutrums "eines" dringen, aber solange die Standardsprache das (m.E. verständlicherweise) nicht akzeptiert, sehe ich hier keine gleichwertige Alternative zum generischen Maskulinum.

Was das Ohren-Langziehen angeht: "Ohren-Langziehen ;)" – besser so?
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Wortklaux in 2015-06-17, 21:34:31
Ich glaube nicht, dass "einer trage des andern Last" reziprok gemeint ist. Gemeint ist hauptsächlich, dass der Stärkere dem Schwächeren helfen soll. Entscheidend ist hier, dass man nicht egoistisch denken soll und dass das Gegenüber (oh! ein schöner geschlechtsneutraler Ausdruck!) eine konkrete Person ist, die einem begegnet.

Und was die anderen Abwägungen betrifft: ich denke, es ist wirklich eine Geschmacksfrage. "Wie kaum ein anderer" rückt einem die andere Person meiner Meinung konkreter vor Augen als "wie kaum jemand anders", und bei den Pluralvarianten verschwimmt der andere ohnehin in der Menge. Es ist schön, dass die deutsche Sprache so viele Ausdrucksmöglichkeiten hat. Die in diesem Fall von dx Überstetzx gewählte Formulierung finde ich jedenfalls prägnant und verständlich, und auch wenn ich über keine andere deiner Varianten stolpern würde, fiele meine Wahl vermutlich auch auf "wie kaum jemand anders" — wenngleich es schwierig ist, sich in einer Disputation ganz in die neutrale Position zu versetzen.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-06-17, 21:57:42
Zitat von: Wortklaux in 2015-06-17, 21:34:31
Ich glaube nicht, dass "einer trage des andern Last" reziprok gemeint ist.

Doch, das ist eindeutig. Im griechischen Original (Galater 6:2) steht der Genitiv des Reziprokpronomens: ἀλλήλων τὰ βάρη βαστάζετε (allēlōn ta barē bastazete).
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Wortklaux in 2015-06-17, 22:18:53
OK, man soll sich gegenseitig helfen, aber sicher nicht, indem man demjenigen, dessen Last man übernimmt, die eigene aufbürdet, denn das wäre nicht sinnvoll. Die Gegenseitigkeit steht hier nicht im Vordergrund. Im Einzelfall ist es immer der eine, der dem anderen hilft, und zwar ohne die Erwartung einer Gegenleistung.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: amarillo in 2015-06-18, 07:11:55
Zitat von: Homer in 2015-06-17, 20:29:53
Was das Ohren-Langziehen angeht: "Ohren-Langziehen ;)" – besser so?

Oder, einer etwas älteren, rustikaleren Pädagogik folgend, den Arsch versohlen!
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Wortklaux in 2015-06-18, 08:17:27
Zitat von: Homer in 2015-06-17, 20:29:53
Was das Ohren-Langziehen angeht: "Ohren-Langziehen ;)" – besser so?
Vielleicht besser, aber länger zieht man sooooo ;)"""
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-06-18, 09:03:05
Zitat von: Wortklaux in 2015-06-17, 22:18:53
OK, man soll sich gegenseitig helfen, aber sicher nicht, indem man demjenigen, dessen Last man übernimmt, die eigene aufbürdet, denn das wäre nicht sinnvoll. Die Gegenseitigkeit steht hier nicht im Vordergrund. Im Einzelfall ist es immer der eine, der dem anderen hilft, und zwar ohne die Erwartung einer Gegenleistung.

Der Begriff der "Gegenseitigkeit", die hier gemeint ist, ist natürlich nicht auf paarweise Reziprozität beschränkt. Das griechische ἀλλήλων und das deutsche "einander" werden in der Grammatik in diesem etwas weiteren Sinne üblicherweise als Reziprozitätsausdrücke bezeichnet. Eine ganz wörtliche Übersetzung des griechischen Galatertextes wäre "tragt die Lasten voneinander".
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Wortklaux in 2015-06-18, 13:13:01
Aber diese paarunweise Reziprozität wäre ja semantisch auch durch die Form "man trage die Last von jemand anders" gegeben, da sich das "man" ja auf alle Mitglieder der Gemeinschaft bezieht, also auch wieder auf diejenigen, deren Lasten getragen werden.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-06-18, 22:12:18
Nach meinem Gefühl reicht das vielleicht für die nachrechnende Logik, aber nicht für das Stilgefühl zum Ausdruck der Reziprozität. Hast Du ja selbst schon gesagt. "Jemand anders" ist auch nicht wirklich äquivalent zu "der andere".
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Kilian in 2015-06-19, 00:36:17
Zitat von: Homer in 2015-06-17, 02:38:22Wenn diese Schwelle der psychologischen Wirksamkeit unterschritten ist, kann auch keine subjektive Diskriminierung stattfinden, mehr wollte ich nicht sagen. Ich glaube nicht, dass wir uns darin uneins sein müssen. Ich glaube wahrscheinlich nur an mehr Fälle der Verwendung des generischen Maskulinums, die unterhalb dieser Schwelle liegen, als Du.

So ist es wohl. Glauben hilft freilich weder dir noch mir weiter, zur Wahrheitsfindung sind wir auf empirische Befunde angewiesen. Also bitte nicht der Psycholinguistik ihre Relevanz für diese Materie absprechen.

Ob man im Einzelfall lieber eine mögliche Ungleichbehandlung von weiblichen Zuhörerinnen und ein mögliches Beitragen zum Erhalt von Rollenstereotypen in Kauf nimmt oder andererseits durch ein gewisses Überbetonen der Kategorie "Geschlecht" Kommunikationshürdchen für alle Zuhörer/innen schafft, ist natürlich auch eine Frage der Abwägung – und letztlich wird uns da unser Gespür für die sich wandelnde Sprache und für den jeweiligen Kontext leiten.

Ich finde, das ist ein schönes Schlusswort. ;D
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Berthold in 2015-06-21, 19:22:51
Zitat von: Wortklaux in 2015-06-12, 17:06:22

Dabei ging mir gerade die Frage auf, ob "Leute" eigentlich auch ein generisches Maskulinum ist. Ich wüsste kein Kriterium, nach dem man diese Frage beantworten könnte.

Na ja, "das Geleut'-Geläut'" gäb's da ja nöthenfalls auch noch. - Froychl ist eins mit einem bekannten Faustzitat ("die Faust!") - und der dazugehörigen Antwort - keineswegs aus der Schneiderin. Auch das ist nicht ganz Gerächtigkeit. - Denn auch es masculiert ein wagn - und entstammt nicht der Frau Vulpius:

Faust:
Mein schönes Fräulein, darf ich wagen,
Meinen Arm und Geläut' Ihr anzutragen?

Margarete:
Bin weder Fräulein, weder schön,
Kann unbeläutet nach Hause gehn.

Forts. von Schikaneder & Mozart:
Faust:
Beim Himmel, dieses Kind ist schön,
wie noch kein Auge je geseh'n ...

Diesmal möchte ich mit einem laaangen japanischen Vogelnamen unterschreiben:
Mamijirotsumenagasekirei <眉白爪長鶺鴒> (Schafstelze - Motacilla flava simillima)
Ob in diesem Namen das Sekkieren - wohl kaum das Säckieren - stecken mag?
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Wortklaux in 2015-06-22, 02:50:57
Ich bin nicht ganz sicher, ob ich deinen Punkt beim Geläut/Geleit kapgeoren haben, aber in der Tat böte der Ge-schwätz (ganz heideggerisch) noch Raum für geschlechtergerechte Ausdrücke.

Etwa kekünne man die Regierungsmitglieder als das Gelenk und die Regierungsfraktionsmitglieder als das Genick bezeichnen. Und eine Beratungskommission wäre wohl das Gerät, während die Schlichtungskommission mit das Geschlecht geschlechtergerecht benonnen wäre.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Berthold in 2015-06-22, 09:31:38
Zitat von: Wortklaux in 2015-06-22, 02:50:57
Ich bin nicht ganz sicher, ob ich deinen Punkt beim Geläut/Geleit kapgeoren haben, aber in der Tat böte der Ge-schwätz (ganz heideggerisch) noch Raum für geschlechtergerechte Ausdrücke.


Das bezieht sich - als Primitivwitz halt meines gelegentlich hervorbrechenden Unniwoos - auf ein Wortfeld mit Schwängel/Schwengel, Pimmel und solchernen Anhängse(r)ln. Mehr baumelt da ja eh nicht herunter. Dort, wo sich halt die Klöppel mit den Pinseln (Pems/schteln) überschneiden ...

Was hältst Du von jenem langen japanischen Vogelnamen - für eine Unterart der Schafstelze?
Ich wiederhole: Mamijirotsumenagasekirei <眉白爪長鶺鴒> (Schafstelze - Motacilla flava simillima)
Kennst Du einen (japanischen) Vogelnamen (Tier-, Pflanzennamen) mit noch mehr Silben?

Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Wortklaux in 2015-06-23, 16:08:35
Zitat von: Berthold in 2015-06-22, 09:31:38
Was hältst Du von jenem langen japanischen Vogelnamen - für eine Unterart der Schafstelze?
Ich wiederhole: Mamijirotsumenagasekirei <眉白爪長鶺鴒> (Schafstelze - Motacilla flava simillima)
Kennst Du einen (japanischen) Vogelnamen (Tier-, Pflanzennamen) mit noch mehr Silben?

Na ja, kennen natürlich nicht. Aber googlen kann ich:
黄打込堺渦柳葉淡水色地青紫吹雪撫子采咲牡丹
http://mg.biology.kyushu-u.ac.jp/mg-files/henka/mwdp/629.html
liest man "kiuchikomisakaiuzuyanagibaawamizuirojiaomurasakifubukinadeshikosaizakibotan".
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Wortklaux in 2015-06-23, 17:12:01
Da bist du als schriftzeichenkundiger Biologe wohl eher als ich prädestiniert, das aufzulösen... Auf deine Auflösung in Schüttelversen wartet die ganze GSV  ;D
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Berthold in 2015-06-23, 17:13:53
Zitat von: Wortklaux in 2015-06-23, 16:08:35
Zitat von: Berthold in 2015-06-22, 09:31:38
Was hältst Du von jenem langen japanischen Vogelnamen - für eine Unterart der Schafstelze?
Ich wiederhole: Mamijirotsumenagasekirei <眉白爪長鶺鴒> (Schafstelze - Motacilla flava simillima)
Kennst Du einen (japanischen) Vogelnamen (Tier-, Pflanzennamen) mit noch mehr Silben?

Na ja, kennen natürlich nicht. Aber googlen kann ich:
黄打込堺渦柳葉淡水色地青紫吹雪撫子采咲牡丹
http://mg.biology.kyushu-u.ac.jp/mg-files/henka/mwdp/629.html
liest man "kiuchikomisakaiuzuyanagibaawamizuirojiaomurasakifubukinadeshikosaizakibotan".

Puiuiui! Diese Japse!
Und wie setzest Du das über? Daß 牡丹 irgendeine Pfingstrose sei ... aber sonst?
Jetzt dachte ich öfters, daß Hanzi sehr oft eine wahre Flut, ein wahrer Kramuri an möglichen Silben wären, ja seien.
Ich mein, ich hab da wägnstens eine Wörterbuch-Wöaschn abguschrimp-schramp-schrump.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Berthold in 2015-06-23, 17:16:02
Zitat von: Wortklaux in 2015-06-23, 17:12:01
Da bist du als schriftzeichenkundiger Biologe wohl eher als ich prädestiniert, das aufzulösen... Auf deine Auflösung in Schüttelversen wartet die ganze GSV  ;D

Nun ja, aber nahezu meiner Diät zum Hohn & Trotze, muß ich nun doch ein gewisses Maß Nachtmahles essen gehen.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Wortklaux in 2015-06-23, 17:57:41
Zitat von: Berthold in 2015-06-23, 17:16:02
Nun ja, aber meiner Diät zum Hohn & Trotze

Triff bei allem Hohn und Trotze
Stets den rechten Ton, Hund, rotze:
Einem Nichtsnutz drohe Not
Doch es sei ohn' Nutzertod!
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: amarillo in 2015-06-23, 18:18:53
Auf Lingu-Philisophenweise
drah man das Thema hier im Kreise;
doch eins bekam ich noch nicht mit:
wieso heißt's 'der Hermaphrodit'?
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Homer in 2015-06-23, 20:57:35
Der Name heißt "Merkur plus Venus",
er war ihr Sohn, daher das Genus.
Doch masch sich dann mit ihm beim Bade
untrennbar eine Quellnajade (https://de.wikipedia.org/wiki/Salmakis).
Ihr weiches Wasser macht noch heute
aus Männern, die dort planschen, Leute.

Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: amarillo in 2015-06-24, 05:52:47
Das mag ja für die Alten gelten,
Du weißt schon, die der Mythenwelten,
doch nach moderner Medizin
haut das für mich nicht so glatt hin.
Bei Mensch mit Hoden und Ovar
erscheint mir wirklich sonderbar,
daß man so schrecklich ungeniert
das Leut frech maskulinisiert.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Berthold in 2015-06-24, 10:07:40
Zitat von: amarillo in 2015-06-23, 18:18:53
Auf Lingu-Philisophenweise
drah man das Thema hier im Kreise;
doch eins bekam ich noch nicht mit:
wieso heißt's 'der Hermaphrodit'?

Doch kennst Du einen Kitt, Ritt, Schnitt, Schritt, Tritt,
Calzit, Granit, Nephrit, Pyrit, sei's Zoolith
auch Abder-, Abraham- und Adamit
wie Parasit, Presbyt und Zoophyt
der Manns NICHT wäre? - Schweig mir mit der Bitt'!
Vergiß auch Eigennamen: Edith, Judith! -
Da lächelt amarillo: "He! Sanskrit
braucht's nicht. Auch nicht "das Hiermit, Damit".
Denn - sieh, jetzt strahlt er! - : "Denk ans Requisit!"
Laut schmatzend fügt er bei: "Und ans Biscuit!
Bleibt, als Replik -" "Was?" "Das Fazit.
- Und noch die Info-Einheit, schlicht: das Bit."   
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Wortklaux in 2015-06-24, 11:38:30
Die Endung "dit" passt zu Hermapho nur, wenn dat Herr Neutrum ist:

Nur wenn dat selbst sich amat, odit,
Kann werden dieset Herr ma froh, ditt.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Berthold in 2015-06-24, 12:15:22
Zitat von: Wortklaux in 2015-06-24, 11:38:30
Die Endung "dit" passt zu Hermapho nur, wenn dat Herr Neutrum ist:

Nur wenn dat selbst sich amat, odit,
Kann werden dieset Herr ma froh, ditt.

Sich paaren, das tun Zwitter auch - als Regel.
Grotesk erscheint der Akt beim Tigerschnegel.
Einander pflegen zweie, bis es schnackt, zu necken -
als Paarung, statt des Vögelns, lange nackt zu schnecken:

https://www.youtube.com/watch?v=NkzoG6hrdRE

Das erscheint dem Berti doch als "die Mutter der Bilder" zur Geschlechtergerechtigkeit:
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Berthold in 2015-06-24, 13:21:34
Zitat von: Homer in 2015-06-23, 20:57:35
(...) eine Quellnajade (https://de.wikipedia.org/wiki/Salmakis).
(...)

Ich weiß's schon, die mal F.., mal Sack is,
das ist die Quellnymphe Salmakis.
In Hellas sah sie oftmals Kais.
Aß sie, in Osttirol, Kalsmais?

http://www.kals.at
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Wortklaux in 2015-06-24, 14:43:58
Der Hermaphrodit:

Du wolltest wohl wie jener baden:
In (a) dem Quell, mit (b) Najaden!
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Berthold in 2015-06-24, 15:48:53
Zitat von: Wortklaux in 2015-06-23, 17:12:01
Da bist du als schriftzeichenkundiger Biologe wohl eher als ich prädestiniert, das aufzulösen... Auf deine Auflösung in Schüttelversen wartet die ganze GSV  ;D

Die liebe M. S. brachte mich darauf, daß es sich da wohl um die Zuchtform einer Petunia /(Solanaceae) handeln wird.
Wär's nix Gärtnerisches, sondern Fachbotanisches, stünde ja wohl ein wassenschuftler Name dabei.

Ein Züchter auf Hokkaido, "Ainu-Pat",
ziacht eine seltene Petunia;
Er hält auch Vögelzüchten für sehr nett;
Prachtfinken sind es, namens Munia.


Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Berthold in 2015-06-28, 13:00:09
Eine meiner - fachbotanischen - Kolleginnen äußert sich zu den letztens vom lieben Wortklaux prasantor'nen Bildern - vorsichtig und folgendermaßen:

"Lieber Bertel! (...)
(...)
Also zäumen wir das Pferd von hinten auf: die unterste Abbildung zeigt meines Erachtens Cy[=a]lystegia soldanella, eine Convolvulaceae, die in Japan vorkommt. Bei der mittleren Pflanze KÖNNTE es sich um eine andere Calystegia-Art mit sehr schmalen Laubblättern handeln, VIELLEICHT um C. japonica. Schmale Blätter treten bei den Convolvulaceae immer wieder auf, siehe z.B. Convolvulus cantabricus. Die schlitzbrättrige Krone wäre als Laune der Natur anzusehen. Bei der obersten Pflanze geht es dann noch launiger zu, da mehrere Blüten zu einer kopfigen Infloreszenz zusammentreten. Das habe ich bei Convolvulaceen bisher überhaupt noch nie beobachtet! Rechts unten im Bild ist aber deutlich ein windender Spross zu erkennen, und so gehe ich trotzdem davon aus, dass es sich um eine als Zierpflanze genutzte Convolvulaceae handelt. Kannst Du der Argumentation etwas abgewinnen? (...)"

Das schrieb nun nicht irgendjemand, sondern eine erstklassige & hochbegabte Frau vom Fach. Sie meint somit, daß eben keine Petunia darunter sei.   
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Wortklaux in 2015-07-19, 06:01:33
Um mal zum Thema zurückzukommen: Eben las ich im SPON:

"Wer mit dem Gehalt einer Verkäuferin in München auskommt, ist schon eine absolute Lebenskünstlerin", sagte Victoria Sklomeit von Ver.di, bevor die dritte Runde der Tarifverhandlungen begann.

Wenn man einmal zu dem "Wer" das "d.." ergänzt, wie lautet dann dieser Satz?

Wer mit dem Gehalt einer Verkäuferin in München auskommt, der ist schon eine absolute Lebenskünstlerin.

oder

Wer mit dem Gehalt einer Verkäuferin in München auskommt, die ist schon eine absolute Lebenskünstlerin.

Da kommt mein Sprachgefühl aber mächtig ins Schwimmen. Das zweite klingt jedenfalls noch verquerer als das erste. Dabei ist ja der erste Satzteil nicht umformulierbar, da es eindeutig um das Gehalt eines weiblichen Verkäufers geht. Dann aber im zweiten Teil das generische Maskulinum einzusetzen, wirkt auch wieder vollkommen verquer:

Wer mit dem Gehalt einer Verkäuferin in München auskommt, der ist schon ein absoluter Lebenskünstler.

denn es öre sugger, dass es auch ein Mann sein kekünne, der das Gehalt einer Verkäuferin bezieht. Nur für Ver.di-Vertreter empföhle sich allerdings:

Ver mit dem Gehalt einer Verkäuferin in München auskommt, di ist schon eine absolute Lebenskünstlerin.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: amarillo in 2015-08-20, 17:10:08
Bei meinem Bemühen, maskulinen Substantiven adäquate aber bislang nicht vorhandene feminine Formen zur Seite zu stellen (nur ein sprachliches Vergnügen - gesellschaftlich geht mir das am Allerwertesten vorbei), bin ich bei 'der Fan' hängengeblieben. Könnt Ihr mir helfen, eine gescheite Auswahl zu treffen oder gar eigene Vorschläge in den Ring zu werfen?
Bislang quollen die folgenden Molge aus meiner Murmel:

die Fanne - die Fane - die Fannin - die Fännin - die Fanine

...und keine fand meinen vollen Überzug.
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Kilian in 2015-08-21, 00:46:37
Die Ventilatrix? ;)
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: Wortklaux in 2015-08-21, 01:55:20
Analog zum Federvieh kekünne man auch sagen

der Fan - das Fun

(sprich: der Fänn - das Fünn)
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: amarillo in 2015-08-21, 11:40:59
Zitat von: Kilian in 2015-08-21, 00:46:37
Die Ventilatrix? ;)
"Wir begrüßen zum heutigen Spiel ... alle Ventilatrices und Fans..."

Das hat was! Kennt jemand einen Stadionsprecher, den man veranlassen kekünne, das mal bei einem Bundesligaspiel per Mikro zu verbreiten?
Titel: Re: Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit
Beitrag von: wischundweg in 2015-08-21, 20:46:44
Zitat von: amarillo in 2015-08-20, 17:10:08
Bei meinem Bemühen, maskulinen Substantiven adäquate aber bislang nicht vorhandene feminine Formen zur Seite zu stellen bin ich bei 'der Fan' hängengeblieben. Könnt Ihr mir helfen, eine gescheite Auswahl zu treffen oder gar eigene Vorschläge in den Ring zu werfen?

Ich schlage vor: Fanse mit a wie in fun