Gesellschaft zur Stärkung der Verben

Öffentliche Bretter => Sprache => Thema gestartet von: Anne in 2006-10-06, 16:09:02

Titel: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: Anne in 2006-10-06, 16:09:02
Ihr habt in eurer Liste so schöne starke Verben mit zwei Vorsilben.

Meine Frage:

Gibt es so was wirklich, daß Verben mit zwei Vorsilben stark sind?

Warum ist reiten stark, zureiten auch, aber bereiten und zubereiten schwach?

Hat das vielleicht auch was mit der Betonung der Vorsilben zu tun?
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: Agricola in 2006-10-06, 17:17:57
Zitat von: Anne in 2006-10-06, 16:09:02
Ihr habt in eurer Liste so schöne starke Verben mit zwei Vorsilben.

Meine Frage:

Gibt es so was wirklich, daß Verben mit zwei Vorsilben stark sind?

Warum ist reiten stark, zureiten auch, aber bereiten und zubereiten schwach?

Hat das vielleicht auch was mit der Betonung der Vorsilben zu tun?
Ich ute (ohne nachgeschlagen zu haben) verm, dass bereiten und zubereiten von der Wortherkunft mit reiten nichts zu tun hat und deshalb anders konjugoren wird. Zu dem Adverb "bereit" gibt es ja auch keine Entsprechung ohne "be-".

Aber es gibt in der Tat Wörter wie "beratschlagen", die im Standarddeutsch schwach konjugoren werden, obwohl hier die Beziehung zum "Schlag" ebenso wie bei dem stark konjugorenen Verb "schlagen" gegeben ist. Ich vermute aber, dass die mit "be-" beginnenden und eine weitere Zusammensetzung enthaltenden Wörter von Substantiven abgelitten sind, während sonst in der Regel die Substantive von den Verben abgelitten sind. Also: "Schlag" von "schlagen", aber "beratschlagen" von "Ratschlag". Daher bleibt der "Ratschlag" in allen Formen unangetastet. Das gilt auch für einige Verben ohne "be-": "Urteilen" ist trotz der betonten Vorsilbe und somit gegen alle Regel kein trennbares Verb, weil es von "Urteil" abgeleitet ist und nicht umgekehrt.

Es gibt aber auch Verben mit zwei Vorsilben, die stark konjugoren werden: vorenthalten zum Beispiel.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: VerbOrg in 2006-10-06, 17:37:28
Interessant!
Ich hab mir schon die ganze Zeit die Birne zerbrochen, um ein Beispiel zu finden, bei dem ein Verb mit zwei Vorsilben tatsächlich stark ist.

Und dass bereiten von bereit machen kommt, war mir auch noch nie in den Sinn gekommen.
Aber wieso ist gibt es dann zusätzlich zu bereiten auch noch zubereiten? Rein inhaltlich drückt das doch dasselbe aus, nämlich, dass man irgend was fertig macht. (Ich glaube, ich schweife ab, aber das Thema ladet dazu ein.)

Mal sehen, vielleicht fällt mir ja nachher auch noch was ein, das mit zwei Vorsilben stark daherkommt.
Die Frage mit der Betonung der Vorsilben werd ich auch noch mal ein bisschen überdenken, aber ich glaube nicht, dass die irgend was mit der Stärke oder Schwäche des Verbs zu tun hat.
Eher denke ich mal, dass die älteren Verben eher zu Stärke neigen und Neubildungen schwach konjugiert werden. Allerdings machen ja die unbevorsilbten Stammverben die Möglichkeit der Stärke schon vor, wodurch sich natürlich Analogiebildungen regelrecht aufdrängen.

Wie auch immer, ich muss los - hier ist mal wieder Filmfest.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: Agricola in 2006-10-06, 19:17:52
Zitat von: VerbOrg in 2006-10-06, 17:37:28
Und dass bereiten von bereit machen kommt, war mir auch noch nie in den Sinn gekommen.
Aber wieso ist gibt es dann zusätzlich zu bereiten auch noch zubereiten? Rein inhaltlich drückt das doch dasselbe aus, nämlich, dass man irgend was fertig macht.
Ich habe es nicht überprüft, aber es kommt mir wahrscheinlich vor. (Übrigens lateinisch bereiten = parare, bereit = paratus.) Zubereiten ist wahrscheinlich wirklich (wie viele Wörter) redundant, aber die Redundanz dient dazu, die Aufmerksamkeit auf das Produkt zu lenken.
Zitat von: VerbOrg in 2006-10-06, 17:37:28
(... aber das Thema ladet dazu ein.)
Schäm Dich! Ab in die GSV (Gesellschaft zur Schwächung der Verben) ;D
Und ab mit "laden" in die rote Liste! >:(
Auch wenn ich in Gedanken schon bin laden, wollen wir derartige Mirssbäuche doch lieber gewaltfrei bekämpfen. :D
Zitat von: VerbOrg in 2006-10-06, 17:37:28
Mal sehen, vielleicht fällt mir ja nachher auch noch was ein, das mit zwei Vorsilben stark daherkommt.
Die Frage mit der Betonung der Vorsilben werd ich auch noch mal ein bisschen überdenken, aber ich glaube nicht, dass die irgend was mit der Stärke oder Schwäche des Verbs zu tun hat.
Nein, aber mit der Trennbarkeit. Trennbare Verben werden in der Regel auf der Vorsilbe betont (ich werde mir die starken Formen wiederholen, ja, ich hole sie wieder!), untrennbare auf der Stammsilbe (ich werde den ersten Teil des Stücks wiederholen, ja, ich wiederhole ihn!). Und Verben, die von zusammengesetzten Substantiven oder Adjektiven abgeleitetet sind, werden nicht getrennt (antworten, beckmessern, demütigen, rechtfertigen und eben sehr viele Wörter mit be- und ver-, wie beantragen, vervielfältigen usw.).
Zitat von: VerbOrg in 2006-10-06, 17:37:28
Eher denke ich mal, dass die älteren Verben eher zu Stärke neigen und Neubildungen schwach konjugiert werden. Allerdings machen ja die unbevorsilbten Stammverben die Möglichkeit der Stärke schon vor, wodurch sich natürlich Analogiebildungen regelrecht aufdrängen.
Ich glaube noch nicht an zusammengesetzte Verben, die schwach sind, obwohl die einfachen Verben stark sind.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: VerbOrg in 2006-10-06, 21:52:17
Zitat von: Agricola in 2006-10-06, 19:17:52
Zitat von: VerbOrg in 2006-10-06, 17:37:28
(... aber das Thema ladet dazu ein.)
Schäm Dich! Ab in die GSV (Gesellschaft zur Schwächung der Verben) ;D
Und ab mit "laden" in die rote Liste! >:(
Auch wenn ich in Gedanken schon bin laden, wollen wir derartige Mirssbäuche doch lieber gewaltfrei bekämpfen. :D
Was ladest Du denn in Gedanken?
Sorry, aber irgendwie konntetete ich mir das vorhin einfach nicht verkneift haben.
(Ich glaub, ich habe mich wirklich in der Tür geirrt.)
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: Agricola in 2006-10-06, 22:08:50
Zitat von: VerbOrg in 2006-10-06, 21:52:17
Was ladest Du denn in Gedanken?
Gans einfach die Munition, um auf Leute zu schießen, die den Antistorken Vorschub leisten.
Zitat von: VerbOrg in 2006-10-06, 21:52:17
Sorry, aber irgendwie konntetete ich mir das vorhin einfach nicht verkneift haben.
Jetzt quintst Du aber inkonse. Die von Dir sichtöffelnt abbesachtogene schwache Form von können memüsse "könnte" heißen und wäre deshalb keineswegs Könnjunktiv.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: VerbOrg in 2006-10-06, 22:12:27
Zitat von: Agricola in 2006-10-06, 22:08:50
Zitat von: VerbOrg in 2006-10-06, 21:52:17
Sorry, aber irgendwie konntetete ich mir das vorhin einfach nicht verkneift haben.
Jetzt quintst Du aber inkonse. Die von Dir sichtöffelnt abbesachtogene schwache Form von können memüsse "könnte" heißen und wäre deshalb keineswegs Könnjunktiv.
Nein, ich wewull doch nur ein paar schwächliche Tees dranpacken, mehr nicht.
Bei können - könnte - gekönntet kriech ich 'nen Krampf im Sprachzentrum.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: Agricola in 2006-10-06, 22:31:12
Nicht im Sprach-, sondern im Schwachzentrum, und das zu recht, denn es müsst natülr nicht gekönntet, sondern gekönnt heißen. Wenn Du nicht einmal richtig schwach könnjugieren könnst, könne ich Dir ja nicht einmal mehr raten, in die andere GSV zu gehen, da müsst Du dann schon selber sehen, wer Dich noch aufnehmt.

<... in Gedanken mir selbst eine Ladung durchs Gehürn schieß ...>
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: Anne in 2006-10-07, 11:12:22
Danke für das Beispiel eines starken Verbs, das zwei Vorsilben hat. Ich hatte gar nicht damit gerechnet, daß wirklich jemand eines findet.

Gibt's da noch mehr? Verborg wollte doch da noch ein bißchen forschen, ist da schon was rausgekommen?

Ich glaube übrigens nicht wie Verborg, dass Verben mit Vorsilben, nur weil sie später dazugekommen sind, schwach sind, obwohl das Grundverb stark ist. Ich denke mal, daß die Ableitung von einem Verb dann genau so konjugiert wird, wie das Verb, von dem abgeleitet wurde.

Tut mir leid, aber einige der Sachen, die hier geschrieben wurden, verstehe ich nicht so ganz. Aber ich glaube, die gehörten auch nicht zum Thema. Ich hoffe, ihr seht mir nach, wenn ich nicht in so verdrehten starken Verben schreibe wie ihr, aber das zu lernen ist mir zu anstrengend.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: VerbOrg in 2006-10-07, 11:32:13
Tut mir leid, Anne, aber zu großartigen Forschungen bin ich irgendwie nicht mehr gekommen. Mein Kopf ist dermaßen voll des Filmfestes, dass für die Analyse und Organisation deutscher Verben nicht mehr so viel Hirnkapazität (und Zeit) zur Verfügung steht.

Das mit den später hinzugekommenen Verben:
Ich schätze mal, dass Du da Recht hast. Wenn es sich um eine Ableitung von einem starken Verb handelt, ist diese wohl auch stark. Dass sich da die Analogie zum Ursprungsverb anbietet, hatte ich ja schon in Antwort 2 geschrieben.
Spätere Verben, die schwach konjugiert werden, dürften wohl in der Regel solche Verben sein, die vollständig neu in die Sprache aufgenommen wurden und dann einfach in die regelmäßige Konjugation übernommen wurden. Aber dazu können Kilian, MrMagoo oder Arnymenos sicher fundiertere Informationen beisteuern.

@Agricola
Ich glaube, wir sollten hier lieber normal schreiben.
Starquuerbig rumalbern können wir woanders immer noch.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: Stollentroll in 2006-10-07, 11:46:21
Zwei Vorsilben, stark konjugoren : vorhergehen, vorhersehen, vorankommen, vorangehen, vorausfahren.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: VerbOrg in 2006-10-07, 11:47:41
Wo du bei her bist:

Wie wär's mit umhinkommen?

Herantreten funktioniert auch.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: Stollentroll in 2006-10-07, 11:49:59
Klasse, ich bin hin und her  ;D
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: VerbOrg in 2006-10-07, 11:51:03
Du meinst: hin und weg, oder?

Vorwegnehmen passt nämlich ebenso.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: Stollentroll in 2006-10-07, 11:52:51
Wie wär´s mit : entgegenkommen, entgegengehen @zetera  ;)
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: Stollentroll in 2006-10-07, 11:55:29
Oder vielleicht : einberufen, einbeziehen @zetera  :D
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: VerbOrg in 2006-10-07, 11:58:49
Mir scheint, dass die von starken Verben abgeleiteten Ableitungen vor denen zwei Vorsilben stehen, tatsächlich nicht schwach daherkommen.

Das bestätigt wohl auch Agris These, dass bereiten von bereit und nicht von reiten kommt.

Allerdings kann man ja auch auf zweierlei Weise einen Weg bereiten:

1) indem man diesen begehbar macht (meist im übertragenen Sinne)
2) indem man auf diesem mit dem Pferd unterwegs ist.

In der ersten Variante ist bereiten ein schwaches Verb,
in der zweiten ist es - als tatsächlich bevorsilbtes reiten - stark.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: Stollentroll in 2006-10-07, 12:01:30
Klingt plausibel. Mal säen, was die Germanistiker dazu sägen.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: VerbOrg in 2006-10-07, 12:08:50
Ich fand auch noch doppelbevorsilbte starke reitens (Ist das jetzt der richtige Plural?): herumreiten, davonreiten, vorwegreiten/vorausreiten, hinterherreiten/nebenherreiten ...
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: Stollentroll in 2006-10-07, 12:21:45
Und ausserdem : hineingehen, hineinkommen @zetera.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: Agricola in 2006-10-07, 15:29:11
Mir fallen gerade noch ein: wiedergewinnen, wiedervergelten, wiederverwenden (in der Regel schwach konjugiert, aber mit der starken Nebenform wiederverwandt), wiederbefahren
Vielleicht gibt es ja auch noch starke Verben mit mehr als zwei Vorsilben? (Übrigens ist Vorsilbe ja ein ganz unpassendes Wort, da manche Vorsilben wie "wieder" aus zwei Silben bestehen und trotzdem schlecht als "zwei Vorsilben" bezeichnet werden können.) Zum Beispiel
übereinanderwerfen (und viele andere Verben, die mit "übereinander", "gegeneinander", "voreinander", "untereinander", "hintereinander", "nebeneinander" usw. beginnen)  vorüberdefilieren, wiederaufbereiten (nein, das ist jetzt eigentlich nicht stark, aber das Wort gefällt mir so gut, dass ich es hier stehen lassen möchte), wiederherausbekommen, nebeneinanderherfahren, nebeneinanderherwiederbefahren (oder schreibt man das nicht in einem Wort? Aber mindestens in der Substantivierung wäre es sicher ein Wort: "Das Nebeneinanderherwiederbefahren entminter Wege ist lebensgefährlich und deshalb strengstens verboten. Daher wurden die beiden Soldaten, die gestern die Fahrstraße zum See nebeneinanderherwiederbefuhren, zu Arrest verurteilt.")

Interessant scheint es mir aber noch, ein Licht auf die Wortbildung von Verben mit mehr als einer Vorsilbe zu werfen. Weniger interessant scheinen mir diejenigen zu sein, bei denen die Vorsilben einen Komplex bilden, ehe sie dem Verb vorgestellt werden, wie bei "voran", "herab", "entgegen", "darüber", "nebeneinanderher" usw. Sie unterscheiden sich in ihrer Wortbildung nicht von Verben mit einfachen Vorsilben und sind jedenfalls trennbar. Interessanter sind für die Flexion (jetzt mal ganz abgesehen von der Stärke) Verben, die schon eine Vorsilbe hatten und dann noch eine bekamen. Von denen sind diejenigen unproblematisch, bei denen die Zusammensetzung mit der zuerst vorgestellten Silbe (also der zweiten Vorsilbe) ein untrennbares Verb bilden und die neue Silbe das Verb zu einem trennbaren Verb macht. Sie werden auf der ersten Vorsilbe betont, das "zu" wird zwischengestellt, und das Perfektpartizip wird ohne "ge" gebildet:

wiedererstarken, ich erstarke wieder, ich brauche nicht wiederzuerstarken, ich bin wiedererstarkt
ebenso abbestellen, einberufen, vorbereiten (in beiden von Verborg genannten Bedeutungen), vorenthalten, umverteilen, auferstehen, (zu)rückerstatten

Diejenigen Verben mit (scheinbar) zwei Vorsilben, bei denen die erste Silbe eine nichttrennbare ist (z.B. verabreden, vergewissern) sind meistens von Substantiven oder Adjektiven mit Vorsilbe abgeleitet, so dass die zweite Vorsilbe für die Flexion als Bestandteil des Verbstamms behandelt wird und deshalb ebensowenig Schwierigkeiten bereitet. (Verabreden: von Abrede abgeleitet, analog zu verausgaben [und eben nicht verausgeben] von Ausgabe; vergewissern von gewiss, wie vergrößern von groß, beides vom Komparativ abgeleitet.)

Ich habe bisher nur wenige Verben mit Vorsilbe gefunden, die eine (eigentlich) untrennbare Vorsilbe zusätzlich bekommen haben. Es gibt welche mit der Vorsilbe über- im Sinne von "zu viel", die sonst unbetont und untrennbar ist (sich überessen), in diesem Fall aber betont wird:

überbelichten, überausstatten

überbelichten bleibt trotz der Betonungsanomalie wohl gänzlich untrennbar, zumal ja beide Vorsilben untrennbar sind: zu überbelichten, überbelichtet, ich überbelichte

überausstatten ist ursprünglich ein trennbares Verb. Daher werden ge- und zu- wie üblich eingeschoben: überausgestattet, überauszustatten. Aber die Trennung würde entweder zu einem alleinstehenden "überaus" führen, das ganz anders verstanden würde, oder zu einem alleinstehenden "über", welches ebenfalls grammatisch in diesem Zusammenhang missverständlich wäre. Daher wird das Verb wohl eher aus Verlegenheit im Präsens untrennbar gelassen: Ich überausstatte. Logisch wäre es wohl, nur die trennbare Silbe herauszulösen: ich überstatte aus, aber dazu hat sich unsere Sprachgemeinschaft anscheinend nicht durchgerungen.

Ein weiteres Beispiel ist missverstehen. Hier wurde wie bei überbelichten eine eigentlich unbetonte nichttrennbare Vorsilbe (missbrauchen, missfallen) wegen der nachfolgenden unbetonten Silbe ausnahmsweise betont. Anders als bei überbelichten hat die Betonungsanomalie bei diesem (wohl älteren) Wort dazu geführt, dass es teilweise wie ein trennbares Verb behandelt wird, nämlich bei "misszuverstehen" (neben "zu missverstehen"). Die anderen Formen bleiben in der Standardspache untrennbar: ich missverstehe; dennoch in der Umgangssprache gelegentlich ich verstehe miss.

Interessant sind weiterhin Wörter, die zu keiner der genannten Klassen gehören. Solche etwa, die schon trennbar waren und dann eine zweite eigentlich trennbare Vorsilbe bekamen. Eine Sondergruppe scheinen mir die Verben mit wieder darzustellen, die nach der neuen Rechtschreibung wahrscheinlich auch eher in zwei Wörtern geschrieben werden:

wiederherstellen, wiedereinbestellen, wiederauferstehen

Bei diesen Wörtern trennen sich jedenfalls die beiden Vorsilben, wenn das Verb getrennt wird:

ich stelle wieder her, ich bestelle wieder ein, er ersteht wieder auf

ansonsten werden die beiden Vorsilben als Komplex behandelt:

wiederherzustellen, wiederhergestellt usw.

Es gibt sonst nicht viele Wörter mit zwei eigentlich trennbaren Vorsilben, aber zum Beispiel:

voranmelden

Solange das Verb nicht getrennt wird, werden die beiden Vorsilben als Komplex behandelt:

voranzumelden, vorangemeldet

aber heißt es im Präsens

ich melde mich voran? ich melde mich vor an? ich voranmelde mich?

Da versagt unsere Sprachlogik, und deshalb wird dieses Verb im Präsens wohl gar nicht verwendet. Kennt jemand weitere Beispiele?

Interessant sind schließlich Verben, die ausnahmsweise nicht oder nur teilweise getrennt werden können:

uraufführen (aufführen müsste getrennt werden, aber weder ur noch urauf können alleine stehen; daher uraufzuführen, uraufgeführt, aber ich uraufführe)

feuerbestatten (feuerzubestatten, feuerbestattet, aber das Wort Feuer ergäbe alleinstehend keinen Sinn, also ich feuerbestatte, wenn überhaupt)
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: VerbOrg in 2006-10-07, 16:41:39
Zitat von: Agricola in 2006-10-07, 15:29:11wiederverwenden (in der Regel schwach konjugiert, aber mit der starken Nebenform wiederverwandt)
Du meinst: in der unregelmäßigen Form wiederverwandt. Schwach ist's trotzdem noch.

ZitatÜbrigens ist Vorsilbe ja ein ganz unpassendes Wort, da manche Vorsilben wie "wieder" aus zwei Silben bestehen und trotzdem schlecht als "zwei Vorsilben" bezeichnet werden können.
Gut, dann schreiben wir besser zukünftig von Präfixen (und Partikeln), wenn Dir das Wort Vorsilbe zu sehr auf eine einzelne Silbe abstellt.

Zitatnebeneinanderherwiederbefahren (oder schreibt man das nicht in einem Wort? Aber mindestens in der Substantivierung wäre es sicher ein Wort: "Das Nebeneinanderherwiederbefahren entminter Wege ist lebensgefährlich und deshalb strengstens verboten. Daher wurden die beiden Soldaten, die gestern die Fahrstraße zum See nebeneinanderherwiederbefuhren, zu Arrest verurteilt.")
Ich denke mal, dass man da eher schriebe: nebeneinander(her) wiederbefahren, wenn nicht gar wieder befahren (Die Abtrennung von wieder - wenn sie eventuell mal vorgesehen war - ist m.E. widersinnig, weil es dann einen anderen Sinn ergibt, die sich auch durch eine andere Betonung ausdrückt.)

ZitatIch habe bisher nur wenige Verben mit Vorsilbe gefunden, die eine (eigentlich) untrennbare Vorsilbe zusätzlich bekommen haben. Es gibt welche mit der Vorsilbe über- im Sinne von "zu viel", die sonst unbetont und untrennbar ist (sich überessen), in diesem Fall aber betont wird:

überbelichten, überausstatten

überbelichten bleibt trotz der Betonungsanomalie wohl gänzlich untrennbar, zumal ja beide Vorsilben untrennbar sind: zu überbelichten, überbelichtet, ich überbelichte
Bist Du Dir da sicher, dass es gänzlich untrennbar ist?
Ich glaube, im Infinitiv mit zu rückt das zu dazwischen, was eine Halbtmesis ist, denn bei einem gänzlich untrennbaren Verb hieße es nicht überzubelichten sondern zu überbelichten, und das deucht mich sehr merkwürdig.
Ich denke mal, überbelichten ist ebenso ein Zwitterfall wie missverstehen, bei dem auch das zu dazwischengeschoben wird, obwohl missverstehen ansonsten nicht getrennt wird. Vielleicht ist das ja auch einer der Gründe, dass man immer häufiger jemanden sagen hört, er verstehe etwas miss.
Weiß jemand, ob sich das Verb von der Tmesis weg entwickeln hat und die Sache mit dem zu ein Relikt ist, oder ob es tatsächlich DURCH das zu eine Entwicklung hin zur Tmesis gibt?

Interessant ist bei überbelichten ja auch noch, dass das Verb so behandelt wird, als sei das Stammverb nicht das präfixlose lichten (muss es doch mal gegeben haben, oder ist's eine Abwandlung von leuchten), sondern tatsächlich bereits das Verb belichten.
Sonst schöbe sich das zu eventuell sogar noch hinter die Vorsilbe be...
(Oder ist dieser Einschub zwischen den beiden Präfixen dadurch begründet, dass es sich bei über um ein betontes und bei be um ein unbetontes handelt?)

Ich glaube, uraufführen ist ein ähnlich gelagerter Fall, genauso wie feuerbestatten. In beiden Verben hat man auch wieder den zu-Einschub.

Statt: er feuerbestattet oder er bestattet Feuer (wie sinnig, aber von den Rechtschreibreformern wär's wohl so gewollt) bzw. er bestattet feuer schriebe ich eher: er verbrennt xy oder er äschert xy ein (wobei die Bestattung ja danach noch weitergeht). Das Verb feuerbestatten hört sich für mich im Indikativ merkwürdig an, ganz egal, ob's tmetisch ist oder nicht. Das ist für mich auch so ein typisches Verb, das bei mir nur im Infinitiv oder in den zusammengesetzten Zeitformen bzw. im Passiv, also als Partizip, existiert.

Bei uraufführen habe ich sowohl den Indikativ sie führen das Stück urauf oder sie uraufführen das Stück bereits gelesen. Auch wenn es sich bei der zusammengeschriebenen Form um die richtigere handeln mag, klingt die tmetische Variante für mich weniger schlimm.
Das Partikelchen urauf ist aber wirklich zu merkwürdig.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: Agricola in 2006-10-07, 17:15:44
Zitat von: VerbOrg in 2006-10-07, 16:41:39
Zitat von: Agricola in 2006-10-07, 15:29:11wiederverwenden (in der Regel schwach konjugiert, aber mit der starken Nebenform wiederverwandt)
Du meinst: in der unregelmäßigen Form wiederverwandt. Schwach ist's trotzdem noch.
Warum das? Ist nicht eine unregelmäßige Partizipform eine starke Form? Was bedeutet stark sonst?
Zitat von: VerbOrg in 2006-10-07, 16:41:39
ZitatIch habe bisher nur wenige Verben mit Vorsilbe gefunden, die eine (eigentlich) untrennbare Vorsilbe zusätzlich bekommen haben. Es gibt welche mit der Vorsilbe über- im Sinne von "zu viel", die sonst unbetont und untrennbar ist (sich überessen), in diesem Fall aber betont wird:

überbelichten, überausstatten

überbelichten bleibt trotz der Betonungsanomalie wohl gänzlich untrennbar, zumal ja beide Vorsilben untrennbar sind: zu überbelichten, überbelichtet, ich überbelichte
Bist Du Dir da sicher, dass es gänzlich untrennbar ist?
Wenn ich mir sicher wäre, hätte ich das Wort wohl wohl nicht verwendet.
Zitat
Ich glaube, im Infinitiv mit zu rückt das zu dazwischen, was eine Halbtmesis ist, denn bei einem gänzlich untrennbaren Verb hieße es nicht überzubelichten sondern zu überbelichten, und das deucht mich sehr merkwürdig.
Die Sprachgemeinschaft scheint Dir mehrheitlich rechtzugeben, da google für "überzubelichten" etwa fünfmal so viele Treffer meldet wie für "zu überbelichten". In meinem deutsch-japanischen Lexikon steht das Verb sogar als trennbares drin, wie ich gerade sehe.
Zitat
Ich denke mal, überbelichten ist ebenso ein Zwitterfall wie missverstehen, bei dem auch das zu dazwischengeschoben wird, obwohl missverstehen ansonsten nicht getrennt wird. Vielleicht ist das ja auch einer der Gründe, dass man immer häufiger jemanden sagen hört, er verstehe etwas miss.
Weiß jemand, ob sich das Verb von der Tmesis weg entwickeln hat und die Sache mit dem zu ein Relikt ist, oder ob es tatsächlich DURCH das zu eine Entwicklung hin zur Tmesis gibt?

Interessant ist bei überbelichten ja auch noch, dass das Verb so behandelt wird, als sei das Stammverb nicht das präfixlose lichten (muss es doch mal gegeben haben, oder ist's eine Abwandlung von leuchten), sondern tatsächlich bereits das Verb belichten.
Sonst schöbe sich das zu eventuell sogar noch hinter die Vorsilbe be...
(Oder ist dieser Einschub zwischen den beiden Präfixen dadurch begründet, dass es sich bei über um ein betontes und bei be um ein unbetontes handelt?)
Erstens: Das Verb belichten ist (wie viele Verben mit be-) wahrscheinlich nicht von einem Stammverb, sondern von dem Substantiv "Licht" direkt gebildet. Ebenso wie "berücksichtigen", "beamten" und meiner Meinung nach auch (bis es jemand widerlegt) "beurteilen", "beantworten", "beauftragen" etc., bei denen ich vermute, dass sie von den Substantiven abgeleitet sind, obwohl es in diesem Fall die einfachen Verben gibt.

Zweitens: be- gehört zu den nichttrennbaren Vorsilben und deshalb wird niemals ein zu hinter das be- gestellt. Dasselbe gilt für alle Verben, die ich in der Kategorie "Nichttrennbare Verben, denen eine trennbare Vorsilbe vorangestellt wurde", aufgezählt habe. Die Grundregel (von der ich nur einige Ausnahmen genannt habe) ist: Betonte Vorsilben können abgetrennt werden, das "zu" und das "ge" wird zwischengestellt; unbetonte Vorsilben werden nicht abgetrennt, das zu wird vorangestellt und das "ge" entfällt.
Zitat
Statt: er feuerbestattet oder er bestattet Feuer (wie sinnig, aber von den Rechtschreibreformern wär's wohl so gewollt) bzw. er bestattet feuer schriebe ich eher: er verbrennt xy oder er äschert xy ein (wobei die Bestattung ja danach noch weitergeht). Das Verb feuerbestatten hört sich für mich im Indikativ merkwürdig an, ganz egal, ob's tmetisch ist oder nicht. Das ist für mich auch so ein typisches Verb, das bei mir nur im Infinitiv oder in den zusammengesetzten Zeitformen bzw. im Passiv, also als Partizip, existiert.
Ich denke ein Satz wie "Die Japaner feuerbestatten ihre Toten." wäre schon akzeptabel. "Die Japaner bestatten ihre Toten feuer." scheint mir unabhängig von der Groß- und Kleinschreibung ein völlig unannehmbarer Satz zu sein.
Zitat
Bei uraufführen habe ich sowohl den Indikativ sie führen das Stück urauf oder sie uraufführen das Stück bereits gelesen. Auch wenn es sich bei der zusammengeschriebenen Form um die richtigere handeln mag, klingt die tmetische Variante für mich weniger schlimm.
Das Partikelchen urauf ist aber wirklich zu merkwürdig.
Wörter wie uraufführen und feuerbestatten sind vermutlich Rückbildungen aus den Substantiven "Uraufführung" und "Feuerbestattung". Es handelt sich also um Substantivpräfixe, die ohne Rücksicht auf die Sprachlogik zu Verbpräfixen wurden.

Übrigens: Er feiert fröhliche Urständ –> fröhlich urstehen, er steht fröhlich ur.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: VerbOrg in 2006-10-07, 17:35:38
Zitat von: Agricola in 2006-10-07, 17:15:44
Zitat von: VerbOrg in 2006-10-07, 16:41:39
Zitat von: Agricola in 2006-10-07, 15:29:11wiederverwenden (in der Regel schwach konjugiert, aber mit der starken Nebenform wiederverwandt)
Du meinst: in der unregelmäßigen Form wiederverwandt. Schwach ist's trotzdem noch.
Warum das? Ist nicht eine unregelmäßige Partizipform eine starke Form? Was bedeutet stark sonst?

Wäre es eine starke Partizipform, endete sie auf "en", aber nicht auf "t".

Einen recht ausführlichen Beitrag über die Abgrenzung zwischen starken, unregelmäßigen und schwachen Verben, findest Du hier (http://verben.texttheater.net/forum/index.php?topic=107.0) in Antwort 4 vom Kollegen Mr Magoo.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: Agricola in 2006-10-07, 18:06:00
Zitat von: VerbOrg in 2006-10-07, 17:35:38
Zitat von: Agricola in 2006-10-07, 17:15:44
Zitat von: VerbOrg in 2006-10-07, 16:41:39
Zitat von: Agricola in 2006-10-07, 15:29:11wiederverwenden (in der Regel schwach konjugiert, aber mit der starken Nebenform wiederverwandt)
Du meinst: in der unregelmäßigen Form wiederverwandt. Schwach ist's trotzdem noch.
Warum das? Ist nicht eine unregelmäßige Partizipform eine starke Form? Was bedeutet stark sonst?

Wäre es eine starke Partizipform, endete sie auf "en", aber nicht auf "t".

Einen recht ausführlichen Beitrag über die Abgrenzung zwischen starken, unregelmäßigen und schwachen Verben, findest Du hier (http://verben.texttheater.net/forum/index.php?topic=107.0) in Antwort 4 vom Kollegen Mr Magoo.
Danke für den Link, da habe ich viel gelernt. Du solltest ihn aber auch lesen, denn demnach beruht die Form "wiederverwandt" weder auf starker noch auf unregelmäßiger, sondern auf schwacher, regelmäßiger Flexion mit Rückumlaut.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: VerbOrg in 2006-10-07, 18:17:57
Gut, das mag sein, aber die gaaanz regelmäßige Form ist ja

wenden - wendete - gewendet

Da ist dann

wenden - wandte - gewandt

schon unregelmäßiger, wenn ich mich recht irre.


Wolltest Du nicht kürzlich sogar die Form

können - könnte - gekönnt

als künstlich verregelmäßigte Form darstellen?  :P


Die Änderung des Stammvokals von e zu a ist für mich schon zeimlich unregelmäßig. Zumal wenn es noch eine Form mit durchgängig gleichem Stammvokal gibt, wie das ja bei wenden, senden etc. der Fall ist.

Sähe man das als völlige Regelmäßigkeit an, was da passiert, dann müsste man unsere schönen Verben aus dem Verbenhilfsprogramm "Unregelmäßigkeit statt Stärke" ja auch kassieren, und Sachen wie

spenden - spandte - gespandt
blenden - blandte - geblandt

finde ich schön.


Es ist Ansichtssache, wie weit man den Begriff Regelmäßigkeit fasst.
Sicher gibt es in der für mich unregelmäßigen Form von wenden eine Regel, aber dann könnte man auch behaupten, die meisten starken Verben seien ebenfalls regelmäßig, schließlich gibt's ja auch Ablautregeln...
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: Agricola in 2006-10-07, 18:26:05
Zitat von: VerbOrg in 2006-10-07, 18:17:57
Es ist Ansichtssache, wie weit man den Begriff Regelmäßigkeit fasst.
Sicher gibt es in der für mich unregelmäßigen Form von wenden eine Regel, aber dann könnte man auch behaupten, die meisten starken Verben seien ebenfalls regelmäßig, schließlich gibt's ja auch Ablautregeln...
Genauso hat es MrMagoo ja auch in dem zitorenen Beitrag dargestellt, den Du offensichtlich immer noch nicht gelesen hast. Starke Verben sind regelmäßige Verben:
Zitat von: MrMagoo in 2005-02-16, 21:37:32
In den ausführlicheren Grammatiken werden die Verben normalerweise wie folgt eingeteilt:

REGELMÄßIG:
1) Schwache Verben
1a) Schwache Verben mit Rückumlaut
2) Starke Verben

UNREGELMÄßIG:
3) Präterito-Präsentia
4) Übrige 'unregelmäßige' Verben
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: VerbOrg in 2006-10-07, 18:40:04
Für mich heißt "regelmäßig" ohne jegliche Besonderheiten.

Und da fallen dann weder die starken Verben noch die schwachen Verben mit Rückumlaut drunter.

Wie gesagt:
Es kommt immer darauf an, wie weit man den Begriff "Regelmäßigkeit" fasst. Bei mir ist der recht eng gefasst.
Bei dem Link kam es mir vor allem darauf an, deine Frage zur Abgrenzung der starken von den nur unregelmäßigen Verben zu beantworten.

Für mich orientiert sich die Unterscheidung zwischen Regelmäßigkeit und Unregelmäßigkeit an der Hauptregel. Dass die unregelmäßigen Verben - egal, ob sie nun stark oder schwach sind - auch Regeln unterliegen und damit eventüll ebenfalls als regelmäßige Verben bezeichnet werden können, habe ich nie bestritten, für mich sind sie es allerdings nicht.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: Agricola in 2006-10-07, 19:48:51
Es hat wohl keinen Sinn, sich hierüber die Köpfe einzuschlagen (zumal das über die Distanz ohnehin schwierig ist). Vielleicht können wir uns darauf einigen, dass es ein "Regelmäßig an sich" nicht geben kann, weil regelmäßig ja nur "gemäß einer Regel" heißen kann, und dann ist eben die Frage, welche Regel gemeint ist.

Wenn es eine Regel der starken Konjugation gibt, dann muss es eben regelmäßige starke Verben geben, und vielleicht auch unregelmäßige, sofern es Verben gibt, die zwar ihrem Charakter nach stark sind, aber nicht alle Formen nach dieser Regel bilden.

Wenn man ein Regelsystem eingeführt hat und feststellt, dass sich viele der unregelmäßigen Fälle mit einer neuen Regel erklären lassen, dann erweitert man eben das Regelsystem um diese neue Regel, und die vorher unregelmäßigen Fälle sind nun regelmäßig, ohne dass sie sich selbst geändert haben.

Wenn es aber um den Begriff der "starken Verben" geht, dann scheint mir der Begriff selbst aus der Erkenntnis einer Regel geboren zu sein. Insofern ist es konsequent, diese dann auch als "regelmäßig" zu bezeichnen.

Warum MrMagoo eine solche Regel für die Präterito-Präsentia nicht gelten lässt, ist mir nicht ganz klar.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: VerbOrg in 2006-10-07, 20:12:33
Starke Verben könnte man einem Normalbürger nicht als regelmäßige Verben erklären. Sie werden nicht so konjugiert wie schauen, labern, lieben oder hören, also sind sie unregelmäßig. Lieschen Müller kümmert sich nicht um Ablautregeln, aber dass sehen anders konjugiert wird als die oben genannten Verben, erkennt auch sie. Und eben weil's anders ist, ist's für sie unregelmäßig, wenn sie sich die Mühe macht, darüber mal nachzudenken.
Wozu soll sie sich mit Ablautregeln auseinandersetzen?

Anders ist's bei Leuten, die sich intensiv mit Sprachtheorie beschäftigen. Diese erkennen die Regeln und haben daher einen anderen Begriff von Regelmäßigkeit.

Ich orientiere mich da eben an der Sichtweise des Normalbürgers. Schließlich zähle ich mich - auch wenn ich Mitglied dieser erlauchten Gesellschaft bin - auch zu diesen Normalbürgern. Dass ich eine ganz annehmbare Bauchgrammatik habe, macht mich noch nicht zur Linguste.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: Agricola in 2006-10-07, 20:35:03
Ich kenne Lieschen Müller nicht und weiß auch nicht, was ein Normalbürger ist. Aber dass "regelmäßig" "einer Regel gemäß" bedeutet, verstehen wahrscheinlich auch Lieschen Müller und ein Normalbürger. Vielleicht kümmert sich Lieschen Müller nicht um die Ablautregeln, aber wenn man ihm sagt, dass es welche gibt, findet es es vielleicht trotzdem interessant? Ich würde jedenfalls versuchen, es ihm zu erklären. Und wenn es dann gar kein Interesse daran hat, würde ich mich vielleicht um Lieschen Müller nicht mehr kümmern.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: VerbOrg in 2006-10-08, 00:17:05
Ich schätze mal, Lieschen Müller wäre nicht böse darüber, dass Du Dich um sie nicht kümmerst, wenn es Dir so wichtig ist, dass sie sich für Ablautregeln interessierst.

Da auch ich keine große Lust habe, mich näher damit zu beschäftigen - wer zwingt mich dazu - gehe ich davon aus, dass Deine Unlust hinsichtlich des Kümmerns auch mich betrifft.
So sei es denn. Es muss ja nicht jeder Deine Vorlieben teilen.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: Agricola in 2006-10-08, 07:04:14
Es ist ja immer noch ein Unterschied, ob man sich "für Ablautregeln interessiert" oder dafür, "dass es sie gibt". Bisher hatte ich nicht den Eindruck, dass Du diesen Dingen so indifferent gegenüberstehst.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: Anne in 2006-10-08, 11:15:45
Herr Agricola, Sie sind der Meinung, daß Sie sich nicht um Leute kümmern müssen, wenn die sich nicht für Ablautregeln interessieren, wenn Sie Ihnen das erklärt haben.

Gut, dann gebe ich Ihnen mal eine Chance, denn ich verstehe auch nicht, warum starke Verben von allen als regelmäßige Verben anerkannt werden sollen.

Regelmäßig konjugiert man zum Beispiel:

wehen – wehte – geweht
flehen – flehte – gefleht.

Aber Sie sind seit gestern der Meinung, daß auch folgende (starke) Verben regelmäßig konjugiert werden:

sehen – sah – gesehen
gehen – ging – gegangen
stehen – stand – gestanden

Nun erklären Sie mir bitte mal die Regel, nach der diese Verben konjugiert werden, damit ich alle vier Konjugationsmuster als regelmäßig erkennen kann. Für mich sind die letzten drei nämlich schon immer unregelmäßig gewesen.

Sie sind da ja jetzt Experte, nachdem Verborg Ihnen den Link zu den Ausführungen von MrMagoo geliefert hat.


(Tut mit leid, daß mir hier nach der Art, wie Sie sich über Verborg und Lieschen Müller erheben, das "Du" im Halse stecken bleibt)

An Verborg:
Das mit der Bauchgrammatik verstehe ich gut. Ich finde, man muß nicht Sprachwissenschaftler sein, um sich über die Sprache Gedanken machen zu dürfen.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: Agricola in 2006-10-08, 12:01:51
Ich habe mich über niemanden erhoben, ich habe auch nicht behauptet, dass starke Verben von allen als regelmäßige Verben anerkannt werden müssen. Ich habe im Gegenteil gesagt, dass es regelmäßige Verben "an sich" nicht gebe, sondern nur in bezug auf bestimmte Regeln; und da es anscheinend Ablautregeln gebe (davon weiß ich auch kaum mehr, als was in dem Link steht, den mir Verborg dankenswerterweise genannt hat), sei es sinnvoll, die Verben, die diesen Regeln folgen, als regelmäßig zu bezeichnen.

Im übrigen hat VerbOrg mich (zu Recht und dankenswerterweise) zurechtgewiesen, dass ich das Wort "starke Verben" falsch verwendet habe, und hat dazu auf einen sehr interessanten und differenzierten Beitrag hingewiesen, in dem aber eben (anders als VerbOrg vorschlug) steht, dass starke Verben ebenso wie Verben mit Rückumlaut von den Germanisten unter die regelmäßigen Verben eingeteilt werden. Und ich frage mich, ob man sich in einer Sache auf einen in sich stimmigen Beitrag berufen kann und gleichzeitig in einer anderen Sache diesem Beitrag nicht folgt. Nachdenken ist ja wohl noch erlaubt, damit erhebt man sich über niemanden.

Und im übrigen bin ich tatsächlich der Meinung, dass ich mich nicht um alle Leute kümmern muss. Wie sollte ich auch müssen, was ich ohnehin nicht kann. Aber ich habe wiederum auch nicht behauptet, dass ich mich nicht um Leute kümmere, die mir erklären, dass sie sich nicht für Ablautregeln interessieren, sondern ich habe gesagt, dass ich versuchen würde, es ihnen so zu erklären, dass sie es verstehen und anfangen, sich dafür interessieren. Und dass ich, wenn diese Person sich dann trotzdem nicht dafür interessiert, mich um diese Person vielleicht (!) nicht mehr kümmern würde. Das betrifft aber ganz sicher weder Sie, Anne, noch VerbOrg, da ich mich immer um Leute kümmere, die mir sinnvolle Fragen stellen. Ich hatte allerdings den Verdacht, dass das mir unbekannte Lieschen Müller zu den Leuten gehört, die gar keine Fragen stellen.

Nun gibt es vielleicht die Auffassung, dass nur diejenigen Verben als regelmäßig anerkannt werden dürfen, bei denen man alle Formen ohne weitere Hinweise aus einer gegebenen Grundform ableiten kann. Diese Auffassung scheint mir aber nicht zwingend zu sein. Im Lateinischen beispielsweise werden die Verben auch erst dann als unregelmäßig anerkannt, wenn sich nicht alle Formen aus der Grundform und der Deklinationsklasse ableiten lassen, bei den Substantiven aus Nominativ und Genitiv, und bei den Adjektiven aus den drei Geschlechtern des Nominativ oder ersatzweise (falls diese gleichlauten) aus Nominativ und Genitiv.

Als Nichtgermanist und Nichtsprachwissenschaftler möchte ich mich lieber auf die Details der starken Konjugation nicht einlassen, aber ich habe aus den Diskussionen in diesem Forum gelernt, dass es nicht eine Regel für die starke Konjugation gibt, sondern ein Bündel von Regeln, wobei die Frage, welche Ablautklasse angewandt wird und wie sich die Stammendkonsonanten gegebenfalls verändern (z.B. gehen ging, stehen stand) unter anderem (?) von den Anlautkonsonanten abhängt. Wie dies genau funktioniert, habe ich auch noch nicht verstanden, aber es interessiert mich schon.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: Anne in 2006-10-08, 12:35:25
"Im übrigen hat VerbOrg mich (zu Recht und dankenswerterweise) zurechtgewiesen, dass ich das Wort "starke Verben" falsch verwendet habe, und hat dazu auf einen sehr interessanten und differenzierten Beitrag hingewiesen, in dem aber eben (anders als VerbOrg vorschlug) steht, dass starke Verben ebenso wie Verben mit Rückumlaut von den Germanisten unter die regelmäßigen Verben eingeteilt werden. Und ich frage mich, ob man sich in einer Sache auf einen in sich stimmigen Beitrag berufen kann und gleichzeitig in einer anderen Sache diesem Beitrag nicht folgt. Nachdenken ist ja wohl noch erlaubt."

Eben:
Nachdenken ist erlaubt. Ich denke, daß Sie das auch Verborg erlauben sollten. Wenn ich das recht verstanden habe, ist sie keine Germanistin. Warum sollte sie da gezwungen werden, deren Auffassung vollständig zu teilen, was Regelmäßigkeit angeht, nur, weil sie auf die in dem Beitrag angesprochene Abgrenzung zwischen starken und schwachen Verben hinweist?

"Und im übrigen bin ich tatsächlich der Meinung, dass ich mich nicht um alle Leute kümmern muss. Wie sollte ich auch müssen, was ich ohnehin nicht kann. Aber ich habe wiederum auch nicht behauptet, dass ich mich nicht um Leute kümmere, die mir erklären, dass sie sich nicht für Ablautregeln interessieren, sondern ich habe gesagt, dass ich versuchen würde, es ihnen so zu erklären, dass sie es verstehen und anfangen, sich dafür interessieren. Und dass ich, wenn diese Person sich dann trotzdem nicht dafür interessiert, mich um diese Person vielleicht (!) nicht mehr kümmern würde. Das betrifft aber ganz sicher weder Sie, Anne, noch VerbOrg, da ich mich immer um Leute kümmere, die mir sinnvolle Fragen stellen. Ich hatte allerdings den Verdacht, dass das mir unbekannte Lieschen Müller zu den Leuten gehört, die gar keine Fragen stellen."

Das von Ihnen hervorgehobene "vielleicht" liest sich für mich in Ihrem Beitrag wie ein Wort, das zwar hingeschrieben, aber nicht wirklich gedacht wurde.
Wenn Sie Lieschen Müller nicht kennen, können Sie doch auch nicht pauschal urteilen, daß sie gar keine Fragen stellt.

"Vielleicht kümmert sich Lieschen Müller nicht um die Ablautregeln, aber wenn man ihm sagt, dass es welche gibt, findet es es vielleicht trotzdem interessant? Ich würde jedenfalls versuchen, es ihm zu erklären. Und wenn es dann gar kein Interesse daran hat, würde ich mich vielleicht um Lieschen Müller nicht mehr kümmern."

Wie wollen Sie Lieschen Müller die Sache mit den Ablautregeln erklären, wenn Sie – wie Sie gerade geschrieben haben – selbst nicht mehr wissen, als in dem Beitrag von MrMagoo steht, und daher keine Erklärung für diese Regeln abgeben können?
Ich kann eine Regel nur dann als Regel anerkennen, wenn ich sie auch verstehe, ich weiß nicht, wie es Ihnen da geht.
Mich haben Sie jedenfalls nicht für Ablaute interessieren können. Und da ich kein Interesse daran habe, werden Sie sich VIELLEICHT um mich nicht mehr kümmern.

Machen Sie's gut.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: VerbOrg in 2006-10-08, 13:06:04
Hallo Anne,

danke für Deine Fürsprache, aber ich denke, ich bin alt genug, um für mich selbst zu sprechen. Ich finde es übrigens schön, dass Du mich verstehst. Deine Ausführungen - egal, ob es um das erlaubte Nachdenken oder um die "Bauchgrammatik geht - treffen voll ins Schwarze.

Interessant finde ich Dein Beispiel mit den -ehen-Verben, das wunderschön verdeutlicht, wie unterschiedlich Konjugationen sein können, die von den Germanisten als völlig regelmäßig dargestellt werden.
Ist es da nicht normal, dass - außer den Germanisten, die sich schließlich damit beschäftigen, Regeln für diese Ausnahmen zu finden - die meisten Menschen die starken Verben als unregelmäßig empfinden?

Hätte ich mich für solche Regeln interessiert, dann hätte ich wahrscheinlich Sprachwissenschaft studiert. Allerdings interessieren mich die Auswüchse der Gegenwartssprache mehr als das wissenschaftliche Aufdröseln der Sprachentwicklung. (Ich bin halt keine Sprachtheoretikerin, sondern hauptsächlich Praktikerin. Dass ich da hin und wieder auch mal in die Theorie reinschnuppere, ist normal, denn die Theorie ist ja normalerweise Grundlage der Praxis, aber ich will selbst entscheiden, wie tief ich in die Theorie eintauche.)

Ich hoffe, dass Du jetzt nicht allzu abgeschreckt bist von der GSV.
Schau doch weiter hin und wieder mal rein. Und wenn Du eine Frage hast, trau Dich, sie zu stellen.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: Agricola in 2006-10-08, 13:07:23
Zitat von: Anne in 2006-10-08, 12:35:25
Nachdenken ist erlaubt. Ich denke, daß Sie das auch Verborg erlauben sollten.
Habe ich es ihr verboten? Ich habe mir nur erlaubt, eine andere Meinung zu vertreten als sie.
ZitatWenn ich das recht verstanden habe, ist sie keine Germanistin. Warum sollte sie da gezwungen werden, deren Auffassung vollständig zu teilen, was Regelmäßigkeit angeht, nur, weil sie auf die in dem Beitrag angesprochene Abgrenzung zwischen starken und schwachen Verben hinweist?
Gezwungen werden soll sie nicht, aber die Meinungen von Leuten, die mehr von der Sache verstehen (damit meine ich jetzt nicht mich, aber zum Beispiel MrMagoo), wiegen unter Umständen etwas mehr als die Meinungen von Leuten, die von sich selber sagen, dass sie sich für die Sache weniger interessieren.
Zitat
Das von Ihnen hervorgehobene "vielleicht" liest sich für mich in Ihrem Beitrag wie ein Wort, das zwar hingeschrieben, aber nicht wirklich gedacht wurde.
Ich pflege solche Wörter nur hinzuschreiben, wenn ich sie auch denke.
ZitatWenn Sie Lieschen Müller nicht kennen, können Sie doch auch nicht pauschal urteilen, daß sie gar keine Fragen stellt.
Nein. Es war nur mein Eindruck nach dem, wie mir Lieschen Müller von VerbOrg geschildert würde. Wie ich bereits sagte, würde ich mit Lieschen gerne diskutieren, falls Lieschen mit mir diskutieren will.
Zitat
Wie wollen Sie Lieschen Müller die Sache mit den Ablautregeln erklären, wenn Sie – wie Sie gerade geschrieben haben – selbst nicht mehr wissen, als in dem Beitrag von MrMagoo steht, und daher keine Erklärung für diese Regeln abgeben können?
Ich würde ihr erklären, dass es Regeln für den Ablaut gibt und dies mit einigen Beispielen erläutern, die zeigen, dass manche Wörter nach denselben Vokalumwandlungen konjugiert werden, also z.B.
helfen, hilf, half, geholfen
schelten, schilt, schalt, gescholten
bersten, birst, barst, geborsten
bergen, birgst, barg, geborgen
brechen, bricht, brach, gebrochen
nehmen, nimmt, nahm, genommen
sprechen, spricht, sprach, gesprochen
sterben, stirbt, starb, gestorben
treffen, trifft, traf, getroffen
verderben, verdirbt, verdarb, verdorben
werben, wirbt, warb, geworben
und würde dann darauf hinweisen, dass die Germanisten der Ansicht sind, dass die meisten starken Verben nach gewissen Regeln gebeugt werden, obwohl man als Laie nicht leicht erkennt (und ich als Laie jedenfalls nicht weiß), warum zum Beispiel vergessen, vergisst, vergaß genauso beginnt, aber nicht mit vergossen endet. Man muss nicht alle Regeln bis zum Letzten durchschauen, um denjenigen, die sehr viel tiefer geblickt haben, Glauben zu schenken.
Zitat
Mich haben Sie jedenfalls nicht für Ablaute interessieren können. Und da ich kein Interesse daran habe, werden Sie sich VIELLEICHT um mich nicht mehr kümmern.
Wenn Sie zu lange immer wieder behaupten, dass es Sie nicht interessiert, was ich hier hinschreibe, könnte Ihnen das in der Tat passieren. Allerdings komme ich mit dem Widerspruch noch nicht ganz zurecht, dass Sie sich auf all dies einlassen, obwohl Sie sich doch nicht dafür interessieren. Vielleicht ist das Desinteresse nur vorgeschoben? Jemand, der darauf beharrt, dass man aus Ablauten keine Regel ableiten kann, ist ja offensichtlich an der Frage interessiert, ob es derartige Regeln gibt.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: VerbOrg in 2006-10-08, 13:32:23
Zitat von: Agricola in 2006-10-08, 13:07:23Vielleicht ist das Desinteresse nur vorgeschoben? Jemand, der darauf beharrt, dass man aus Ablauten keine Regel ableiten kann, ist ja offensichtlich an der Frage interessiert, ob es derartige Regeln gibt.
Bist Du Dir da ganz sicher, Agricola?
Ich kann mir gut vorstellen, dass es mehr Leute gibt, die wie Anne keine Regel sehen, dies auch zugeben und sich dann trotzdem nicht für diese Regel interessieren. Eine Regel ist nun mal nur für denjenigen eine Regel, der eine gewisse Regelmäßigkeit erkennen kann. Und gerade das Beispiel, das Anne da gebracht hatte, zeigt doch, wie schwierig es ist, hier Regeln zu erkennen.
Nicht jeder ist daran interessiert, dafür eine Regel präsentiert zu bekommen, die - so wie's aussieht - bei dem einen Verb zutrifft, im nächsten Fall aber wiederum völlig versagt. Eine Regel, die nur auf Einzelfälle anwendbar ist, ist auch für mich keine Regel. Denn für mich ist eine Regel etwas, das bei ähnlich gelagerten Sachverhalten (fast) immer anwendbar ist. Die Zahl der Ausnahmen sollte dabei auf ein überschaubares Minimum begrenzt sein.

Im Spanischen habe ich Verben, die einen Wechsel des betonten Stammvokals, z.B. von o zu ue, aufweisen, als unregelmäßige Verben kennengelernt, obwohl dieser Wechsel mit schönster Regelmäßigkeit auftaucht.
Andernorts werden diese Verben zwar gesondert aufgeführt, allerdings nicht als unregelmäßige Verben sondern als Klasseverben bezeichnet.

Und ich bin mir ziemlich sicher, dass Ausländer, die die deutsche Sprache lernen, starke Verben ebenfalls als unregelmäßige Verben auswendig lernen dürfen.

Tiefer gehende Regeln kann man meiner Meinung nach getrost den Sprachwissenschaftlern überlassen. Wer sich sonst noch ganz intensiv damit beschäftigen will, darf meinetwegen auch von Regelmäßigkeit sprechen.
Für normale Leute, die sich auf Sprachtheorie nicht so tief einlassen wollen (und es ja auch nicht müssen) sollten die starken Verben weiterhin getrost als unregelmäßig gelten dürfen.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: Agricola in 2006-10-08, 14:18:23
Zitat von: VerbOrg in 2006-10-08, 13:32:23
Zitat von: Agricola in 2006-10-08, 13:07:23Vielleicht ist das Desinteresse nur vorgeschoben? Jemand, der darauf beharrt, dass man aus Ablauten keine Regel ableiten kann, ist ja offensichtlich an der Frage interessiert, ob es derartige Regeln gibt.
Bist Du Dir da ganz sicher, Agricola?
Vielleicht nicht ganz, aber ziemlich. Das Leben lehrt, dass man auch Offensichtliches nie für ganz sicher halten sollte. Ein Desinteresse drückt sich aber sicher nicht darin aus, dass jemand lange Beiträge in einem Forum schreibt.
Zitat
Ich kann mir gut vorstellen, dass es mehr Leute gibt, die wie Anne keine Regel sehen, dies auch zugeben und sich dann trotzdem nicht für diese Regel interessieren.
Wenn man keine Regel sieht, kann man sich natürlich auch nicht für sie (für welche denn?) interessieren. Aber wie ich bereits schrieb, geht es mir ja zunächst um das Interesse dafür, ob es Regeln gibt oder nicht. Jemand, der sich partout nicht dafür interessiert, ob es eine Regel gibt, muss mir mal erklären können, warum ihm daran liegt, Verben als unregelmäßig zu betrachten.
ZitatEine Regel ist nun mal nur für denjenigen eine Regel, der eine gewisse Regelmäßigkeit erkennen kann.
Und das nehme ich nicht nur für mich in Anspruch, sondern ich nehme auch an, dass ich sogar unser Lieschen, wenn ich es denn träfe und es bereit wäre, mir einige Minuten zuzuhören, davon überzeugen könnte, dass es eine gewisse Regelmäßigkeit gibt. Damit ist ja noch nicht gesagt, dass alles aus Regeln erklärbar wäre.
ZitatUnd gerade das Beispiel, das Anne da gebracht hatte, zeigt doch, wie schwierig es ist, hier Regeln zu erkennen.
Ja, es ist ein sehr schönes Beispiel. Vielleicht sind ja auch nicht alle der dort genannten Verben vollständig regelmäßig. Eine Regel schließt ja Ausnahmen nicht aus.
ZitatNicht jeder ist daran interessiert, dafür eine Regel präsentiert zu bekommen, die - so wie's aussieht - bei dem einen Verb zutrifft, im nächsten Fall aber wiederum völlig versagt. Eine Regel, die nur auf Einzelfälle anwendbar ist, ist auch für mich keine Regel. Denn für mich ist eine Regel etwas, das bei ähnlich gelagerten Sachverhalten (fast) immer anwendbar ist.
Dann gibt es im Deutschen gar keine regelmäßigen Verben. Denn Du wirst doch nicht behaupten, dass fast alle Verben im Deutschen schwach und ohne Besonderheiten der Konjugation seien.
ZitatDie Zahl der Ausnahmen sollte dabei auf ein überschaubares Minimum begrenzt sein.
Ich jedenfalls habe es bisher noch nicht geschafft, das ganze Gestrüpp von nichtschwachen Verben im Deutschen zu überschauen, sofern man unter überschauen nicht das das diagonale Lesen einer Tabelle versteht.
ZitatUnd ich bin mir ziemlich sicher, dass Ausländer, die die deutsche Sprache lernen, starke Verben ebenfalls als unregelmäßige Verben auswendig lernen dürfen.
Das trifft ab heute für meine Studenten nicht mehr zu.  :D
ZitatTiefer gehende Regeln kann man meiner Meinung nach getrost den Sprachwissenschaftlern überlassen. Wer sich sonst noch ganz intensiv damit beschäftigen will, darf meinetwegen auch von Regelmäßigkeit sprechen.
Für normale Leute, die sich auf Sprachtheorie nicht so tief einlassen wollen (und es ja auch nicht müssen) sollten die starken Verben weiterhin getrost als unregelmäßig gelten dürfen.
Da bin ich ja auch dafür! Und das habe ich ja auch gemacht, sogar in der umgekehrter Richtung! Und dafür hast Du mich getadelt! Und ich finde, zu Recht! Und jetzt freue ich mich darüber, etwas Neues kapiert zu haben! Und jetzt werden meine Studenten jedenfalls nicht mehr fälschlich lernen, dass alle nichtschwachen Verben stark seien! Und dafür bin ich Dir auch dankbar! Und trotzdem versuchst Du mich die ganze Zeit von dem Pfad der Tugend wieder abzubringen ...
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: VerbOrg in 2006-10-08, 14:47:21
Zitat von: Agricola in 2006-10-08, 14:18:23Und jetzt werden meine Studenten jedenfalls nicht mehr fälschlich lernen, dass alle nichtschwachen Verben stark seien! Und dafür bin ich Dir auch dankbar!
Kannst Du mir das jetzt mal genauer erklären?
Bei mir sind nichtschwache Verben starke Verben.

Ob es so gut ist, Deinen Studenten zu erklären, dass die starken Verben regelmäßig sind, weiß ich nicht. Wenn man von einer Regelmäßigkeit spricht, sollte man Sie auch erklären können, und zwar so, dass derjenige, dem man die Sache mit der Regelmäßigkeit erzählt, es auch versteht.
Ob es zum Lernen der Sprache (zwecks praktischer Beherrschung, schließlich unterrichtest Du nicht Germanistik) notwendig ist? Ich glaube es nicht.
Alles, was der Student nicht wie ein regelmäßiges schwaches Verb ohne Rückumlaut konjugieren kann, wird wohl für ihn immer eine Unregelmäßigkeit sein, die er gesondert lernen muss.
Ich denke mal, wenn Du den Studenten diese sprachwissenschaftlichen Unterschiede beibringen willst, verwirrst Du sie nur. Die deutsche Sprache ist schließlich schwierig genug zu erlernen, wenn man sie nicht schon mit der Muttermilch in sich aufgesogen hat.

ZitatDann gibt es im Deutschen gar keine regelmäßigen Verben. Denn Du wirst doch nicht behaupten, dass fast alle Verben im Deutschen schwach und ohne Besonderheiten der Konjugation seien.
Nein, regelmäßige Verben gibt es in der deutschen Sprache schon; die Überschaubarkeit der Ausnahmen heißt ja nicht gleichzeitig, dass man sie mit einer Hand abzählen muss.
Wenn Du aber mal die Liste der von uns gestorkenen Verben der Liste der unregelmäßigen Verben gegenüberstellst, die Deine Studenten lernen dürfen, dann bin ich fest davon überzeugt, dass die Starkverbliste der GSV (also eine Liste, in die ausschließlich schwache regelmäßige Verben zwecks Stärkung aufgenommen werden) um ein Vielfaches länger ist.
Daran allein kannst Du schon sehen, dass die Mehrzahl der deutschen Verben schwach ist.
Dass bei einer so großen Anzahl von Verben dann auch eine etwas längere Liste mit unregelmäßigen/starken Verben herauskommt, ist doch nur natürlich. Prozentual gesehen dürften diese allerdings (auch wenn's GSVler betrüben dürfte) nicht so stark ins Gewicht fallen.

Vielleicht fallen Dir die vielen starken Verben vor allem deshalb so ins Auge, weil es sich - übrigens nicht nur im Deutschen - hauptsächlich um die am häufigsten gebrauchten grundlegenden Verben handelt, man denke da an

- liegen, sitzen, stehen
- gehen, laufen, rennen, fahren, fliegen, schwimmen
- sprechen, verstehen
- sehen, riechen

Komischerweise hören oder fühlen nicht.

Verben, die später in die Sprache eingedrungen sind, und die ähnliche Bedeutungen haben wie die oben genannten, aber eventuell noch genauer sind oder auf einer anderen Stilebene angesiedelt sind, sind dagegen meist schwach, z.B.

- rumlümmeln, hocken
- spazieren, flitzen, flattern
- reden, labern
- schauen, erblicken, schnüffeln
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: Kilian in 2006-10-08, 15:01:00
Hoch interessante Diskussion! Zuerst zu einem Detail:

Zitat von: Agricola in 2006-10-08, 12:01:51wobei die Frage, welche Ablautklasse angewandt wird und wie sich die Stammendkonsonanten gegebenfalls verändern (z.B. gehen ging, stehen stand) unter anderem (?) von den Anlautkonsonanten abhängt.

Echt? Woher? Ich kenne das mit den Anlautkonsonanten nur aus der KKkK (http://verben.texttheater.net/v3/kkkk.htm), die ja eine Erfindung von uns ist, elegant, aber künstlich herumgebaut um den dürren Tatsachenbestand gehen und stehen.

Nun, kein Grund zu streiten, jedenfalls nicht um die Grenze zwischen regelmäßig und unregelmäßig, die ist in der Tat nicht so scharf und hängt von der Blickrichtung ab. So tief MrMagoo geblickt hat, so entspringt seine Unterteilung auch nur einer bestimmten, nämlich sprachhistorischen Sichtweise. Lieschen Müllers Sichtweise hat ebenso gute wissenschaftliche Absicherung.

Ich finde die Unterscheidung zwischen Kopfgrammatik und Bauchgrammatik gut. Regeln zu erlernen und bewusst anzuwenden, würde ich als Kopfgrammatik bezeichnen. Aber wer eine Sprache wirklich zu sprechen lernt, dem gehen die Regeln allmählich in Fleisch und Blut über, er bekommt eine Bauchgrammatik für diese Sprache und kann die Regeln anwenden, ohne über sie nachzudenken. Kleine Kinder erwerben eine Bauchgrammatik durch Zuhören und Nachplappern, ältere Menschen müssen i.d.R. den Umweg über die Kopfgrammatik nehmen.

Kopfgrammatisch kann man vielleicht mit viel Mühe ein System konstruieren, das alle Verbformen des Deutschen korrekt vorhersagt. Es würde aber vor "Ausnahmeregeln" strotzen, die sich teilweise nicht viel anders läsen als eine schlichte Aufzählung der "unregelmäßigen" Formen.

Die Frage ist, ob ein Sprecher des Deutschen so ein System im Bauch hat? Ob es Regeln sind, die uns auch bei Verben wie werden, gehen oder tun zu den korrekten Formen führen? Wie Steven Pinker in seinem populärwissenschaftlichen Buch Wörter und Regeln bin ich der Meinung, dass es plausibler ist, anzunehmen, wir hätten die "unregelmäßigen" Formen solcher Verben einfach in Form von "Lexikoneinträgen" gespeichert, schlicht auswendig gelernt. Dann wäre es aus psycholinguistischer Sicht sinnvoll, diese Verben als unregelmäßig zu bezeichnen, weil in unserem Bauch (in Wahrheit natürlich in unserem Kopf) nicht Regeln arbeiten, sondern Wörter (Wortformen) abgerufen werden.

(Ganz kurz gefasst und im Kern lautet Steven Pinkers "Wort-und-Regel-Theorie": Wir schlagen in einem mentalen Lexikon nach, ob die Form, die wir brauchen, gespeichert ist - wenn nicht, dann wenden wir die uns bekannte Regel an, z.B. Präteritum bilden durch Anhängen von -te an den Stamm.)

Die sogar von MrMagoo als unregelmäßig bezinchenen Verben sind ja nicht so strittig. Was aber ist zum Beispiel mit starken Verben und ihren verschiedenen, aus den Grundformen nicht wirklich vorhersagbaren Ablautreihen? Aus didaktischer Sicht sind auch sie ganz klar unregelmäßig, da es für Benutzer und Erlerner des heutigen Deutsch offensichtlich sinnvoller ist, eine schlichte Auflistung zu bekommen und zu erlernen als ein Studium der Ablautreihen. Aus sprachhistorischer Sicht sind sie ganz klar regelmäßig, da die Formen sich nicht x-beliebig, sondern nach bestimmten Mustern entwickelt haben.

Nun eine psycholinguistische Einschätzung der starken Verben: Was geht bei ihrem Gebrauch in unserem Bauch (eigentlich Kopf) vor? Haben unsere alt- und mittelhochdeutsche Dialekte sprechenden Vorfahren uns die bei ihnen noch produktiven Ablautreihen in Form eines tiefen Urwissens vererbt, das wir als kleine Kinder der Sprache ablauschen, sodass wir die Formen starker Verben nach bauchgrammatischen Regeln bilden? Oder ist die Schwächung des Neuhochdeutschen so fortgeschritten, dass junge Bäuche (eigentlich Gehirne) keine Zusammenhänge erkennen und alle Formen sturheil auswendig lernen?

Ich glaube, dass die Wahrheit hier in der Mitte liegt. Ganz scharf abgrenzen lassen sich die "Wörter" von den "Regeln" dann doch nicht. Ein Beleg dafür wäre, wenn kleine Kinder starke Formen benötzen, die sie nie gehört haben, also starke Formen "übergenerieren" würden. Den Beleg habe ich leider nicht zur Hand (Memo an mich selbst: noch Pinkers Buch ausleihen und nachgucken). Das wiese darauf hin, dass sie die starke Konjugation "bäuchlings" durchschaut hätten und auch aktiv anwändten.  Beleg zwei: Wir geübten Verbenstärker stärken doch auch gerne aus dem Bauch heraus, da wird oft nicht lange nachgedacht. Hab ich Recht? Und die Ergebnisse sind sehr oft mit den Inhalten unserer Listen, oft sogar mit tatsächlich existenten Ablautreihen in Einklang zu bringen. Beleg drei: Man hört immer wieder, dass auch in relativ junger Zeit schwache Verbformen erstorken sind, wie z.B. gewunken oder - humoristisch - gekrischen. Ganz überzeugend ist das nicht, da sich doch meistens herausstellt, dass alles in Dialekten schon mal da war und sich wahrscheinlich "nur" ausgebreitet hat, aber dieses Ausbreiten zeugt ja ebenso dafür, dass die starken Formen irgendwie einleuchten, wie die Existenz unserer Gesellschaft. 8) Wir scheinen da schon ein gewisses "Regelsystem" im Bauch zu haben.

Umgekehrt kann ich mir nicht vorstellen, dass eine schwache Form wie gelacht keinen mentalen Lexikoneintrag zeitigen sollte, wenn sie sehr häufig gebraucht wird. Oder wendet man jedes Mal eine "Bauchregel" an, wenn man gelacht sagt, die aus dem Stamm lach- das regelmäßige Partizip II bildet? Jedoch wird gesungen immer per Abruf aus dem Speicher gesagt? So scharf formuloren würde die "Wort-und-Regel-Theorie" vielleicht unser Sprechen zufriedenstellend erklären, jedoch - so vermute ich ganz subjektiv - die psychische Realität außer Acht lassen, also davon abweichen, was wirklich in unseren Bäuchen (eigentlich Köpfen) vor sich geht.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: Agricola in 2006-10-08, 15:22:51
Zitat von: VerbOrg in 2006-10-08, 14:47:21
Zitat von: Agricola in 2006-10-08, 14:18:23Und jetzt werden meine Studenten jedenfalls nicht mehr fälschlich lernen, dass alle nichtschwachen Verben stark seien! Und dafür bin ich Dir auch dankbar!
Kannst Du mir das jetzt mal genauer erklären?
Bei mir sind nichtschwache Verben starke Verben.
Lassen wir doch den Berufeneren sprechen:
Zitat von: MrMagoo in 2005-02-16, 21:37:32
..., die Bezeichnungen schwach, stark und unregelmäßig werden nur immer gern wieder durcheinandergeworfen - also:

Es gibt im Deutschen folgende Verbgruppen:

1) Die SCHWACHEN VERBEN
...
1a) Untergruppe der schwachen Verben: Verben mit sogenanntem Rückumlaut
...
2) Die STARKEN VERBEN
...
3) Die sog. Präterito-Präsentia
...
4) Die unregelmäßigen Verben
Demnach sind die Präterito-Präsentia und diejenigen Verben, die MrMagoo als unregelmäßig durchgehen lässt, weder schwach noch stark. Nimmt man die Gruppe 1a) aus, sind die schwachen Verben eben die, die Du als regelmäßig bezeichnest, und alle anderen unregelmäßigen Verben sind unschwach, auch diejenigen, die (wie Du selbst angemahnt hast) nicht stark sind.
Zitat

Ob es so gut ist, Deinen Studenten zu erklären, dass die starken Verben regelmäßig sind, weiß ich nicht. Wenn man von einer Regelmäßigkeit spricht, sollte man Sie auch erklären können, und zwar so, dass derjenige, dem man die Sache mit der Regelmäßigkeit erzählt, es auch versteht.
Ob es zum Lernen der Sprache (zwecks praktischer Beherrschung, schließlich unterrichtest Du nicht Germanistik) notwendig ist? Ich glaube es nicht.
Alles, was der Student nicht wie ein regelmäßiges schwaches Verb ohne Rückumlaut konjugieren kann, wird wohl für ihn immer eine Unregelmäßigkeit sein, die er gesondert lernen muss.
Ich denke mal, wenn Du den Studenten diese sprachwissenschaftlichen Unterschiede beibringen willst, verwirrst Du sie nur. Die deutsche Sprache ist schließlich schwierig genug zu erlernen, wenn man sie nicht schon mit der Muttermilch in sich aufgesogen hat.
Es ist sicherlich ein schwieriges Problem, was man Studenten beibringen soll und was nicht. Sicher werden sie die starken Verben alle gesondert lernen, zumal ich ja nicht einmal kompetent bin, ihnen zu erklären, wie die Regeln wirklich alle gehen. Aber ich habe immer einige sprachwissenschaftlich interessierte Leute unter den Studenten, auch solche, die gleichzeitig mehrere andere indogermanische Sprachen einschließlich Latein, Altgriechisch und Sanskrit lernen, und die sollte man nicht mit leichter Kost abspeisen.
Zitat
ZitatDann gibt es im Deutschen gar keine regelmäßigen Verben. Denn Du wirst doch nicht behaupten, dass fast alle Verben im Deutschen schwach und ohne Besonderheiten der Konjugation seien.
Nein, regelmäßige Verben gibt es in der deutschen Sprache schon; die Überschaubarkeit der Ausnahmen heißt ja nicht gleichzeitig, dass man sie mit einer Hand abzählen muss.
Wenn Du aber mal die Liste der von uns gestorkenen Verben der Liste der unregelmäßigen Verben gegenüberstellst, die Deine Studenten lernen dürfen, dann bin ich fest davon überzeugt, dass die Starkverbliste der GSV (also eine Liste, in die ausschließlich schwache regelmäßige Verben zwecks Stärkung aufgenommen werden) um ein Vielfaches länger ist.
Dass eine Liste total unüberschaubar ist bedeutet ja nicht, dass eine kürzere Liste überschaubar ist.
ZitatDaran allein kannst Du schon sehen, dass die Mehrzahl der deutschen Verben schwach ist.
Ich dachte, es ginge um (fast) alle, nicht nur um die Mehrzahl. Dann müsste man jetzt ersteinmal nachweisen, dass man nicht mit einigen schönen und leicht verständlichen Regeln für starke Verben die Mehrzahl dieser Verben erfassen kann, ehe man behauptet, die starken Verben seinen unregelmäßig.
ZitatVielleicht fallen Dir die vielen starken Verben vor allem deshalb so ins Auge, weil es sich - übrigens nicht nur im Deutschen - hauptsächlich um die am häufigsten gebrauchten grundlegenden Verben handelt, man denke da an

- liegen, sitzen, stehen
- gehen, laufen, rennen, fahren, fliegen, schwimmen
- sprechen, verstehen
- sehen, riechen

Komischerweise hören oder fühlen nicht.
und lieben und küssen auch nicht. :-[
Dafür aber schlafen und essen. :D
Und jetzt hatte ich gerade gedacht, ich hätte das kapiert mit den starken Verben, und jetzt möchtest Du mir erklären, dass rennen stark ist? Rennen, rann, geronnen? Und wo bleibt dann rinnen?
ZitatVerben, die später in die Sprache eingedrungen sind, und die ähnliche Bedeutungen haben wie die oben genannten, aber eventuell noch genauer sind oder auf einer anderen Stilebene angesiedelt sind, sind dagegen meist schwach, z.B.

- rumlümmeln, hocken
- spazieren, flitzen, flattern
- reden, labern
- schauen, erblicken, schnüffeln
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: VerbOrg in 2006-10-08, 15:36:25
Ich schätze, die Bauchgrammatik erwerben wir uns aus beiden Quellen: dem Nachplappern und dem bewussten Lernen von Regeln.

Mit einem gewissen Maß an Sprachpraxis geht das Gelernte dann - wie Du schon schriebst - in Fleisch und Blut über. Und das ist es, was ich als Bauchgrammatik bezeichne.

Wäre ich nicht Mitglied der GSV, könnte ich die Grammatik zwar problemlos anwenden, Regeln könnte ich allerdings kaum formulieren, weil ich diese nicht mehr benötige, um mir zu überlegen, wie denn nun ein bestimmter Satz grammatikalisch aufgebaut sein muss oder wie ein Wort flektiert wird. Erst durch die GSV ist auch die Kopfgrammatik wieder aktiviert worden, weil ich seit meinem Einstieg hier wieder überlege, warum ich etwas so und nicht anders sage/schreibe.

Als unsere Russischlehrerin anfing, uns anhand der englischen Zeitformen zu erklären, wann man welche Verbformen in der russischen Sprache benutzt, konnte ich damit nichts anfangen. Die Regeln, nach denen ich den Gebrauch der englischen Zeitformen gelernt hatte, waren zwar in den praktischen Sprachgebrauch eingeflossen, aber in der Theorie hätte ich sie nur noch mit größter Mühe erklären können.
Ich hätte also einen Satz, den ich auf Russisch sagen/schreiben wollte, zunächst einmal ins Englische übertragen müssen, um ihn dann irgendwann auf Russisch zusammenzukriegen. Ganz schön umständlich, kann ich Euch sagen.
Kein Wunder, dass ich irgendwann grammatisch nicht mehr viel hinbekommen habe...

Ich bin übrigens sehr gespannt auf das Büchlein, Kilian. Es ist schon vorgemerkt.

@Agricola

Sorry, das mit dem Rennen war mein Fehler, da hab ich mich wohl verronnen. Natürlich ist's NICHT stark. Gehört wohl eher in die zweite Liste.
Ich sehe es übrigens - auch wenn Du mir da jetzt wieder widersprechen wirst - als unregelmäßiges Verb an, schließlich heißt's nicht

rennen - rennte - gerennt, wie es
flennen - flennte - geflennt oder
trennen - trennte - getrennt heißt.

Rückumlaute sind für mich extra zu lernenden Besonderheiten, es gibt also eine - wenn auch nur geringfügige - Abweichung von der Regel.

"Fast alle" heißt für mich "die überwältigende Mehrheit", nicht unbedingt "alle bis auf zwei, drei Hanseln".
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: Agricola in 2006-10-08, 15:46:09
Zitat von: Kilian in 2006-10-08, 15:01:00
Hoch interessante Diskussion! Zuerst zu einem Detail:

Zitat von: Agricola in 2006-10-08, 12:01:51wobei die Frage, welche Ablautklasse angewandt wird und wie sich die Stammendkonsonanten gegebenfalls verändern (z.B. gehen ging, stehen stand) unter anderem (?) von den Anlautkonsonanten abhängt.

Echt? Woher? Ich kenne das mit den Anlautkonsonanten nur aus der KKkK (http://verben.texttheater.net/v3/kkkk.htm), die ja eine Erfindung von uns ist, elegant, aber künstlich herumgebaut um den dürren Tatsachenbestand gehen und stehen.

Vielleicht habe ich da etwas durcheinandergebracht ... Ich hatte das irgendwie so aufgefasst, dass die Frage, zu welcher Ablautreihe ein Verb gehört, auch von den Konsonanten des Verbstamms abhängt. Aber da habe ich vielleicht wirklich etwas zusammengebracht, was nicht zusammengehört.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: Agricola in 2006-10-08, 15:58:00
Zitat von: VerbOrg in 2006-10-08, 15:36:25
"Fast alle" heißt für mich "die überwältigende Mehrheit", nicht unbedingt "alle bis auf zwei, drei Hanseln".
Sofern wir uns nicht auf die Seite der Mathematiker schlagen (bei denen bedeutet "fast alle" meistens "alle mit endlich vielen Ausnahmen", und damit wären fast alle Verben im Deutschen stark), stimme ich ja durchaus zu. Nur nicht in der Hinsicht, dass die starken Verben die schwachen mit ihrer Mehrheit überwältigen - jedenfalls haben sie das bisher noch nicht geschafft.

Ich stimme zu, dass Formen häufig verwendeter Verben lexikalisch abgerufen werden und nicht jedesmal nach Regeln gebildet werden, und dass dies für regelmäßige wie unregelmäßige Verben gilt. Vor allem ist es aber auch so, dass aus den lexikalisch gespeicherten Formen Regeln abgeleitet werden, so dass viele Verben, die demselben Flexionsschema gehorchen, eben auch zu einer neuen Regel führen. Solche Regeln haben wir zum Beispiel nötig, wenn wir seltene Formen starker Verben bilden. Heißt der Konjunktiv II von fechten föchte oder füchte? Natürlich "föchte", aber nicht weil wir es lexikalisch gespeichert hätten oder nachschlügen, sondern weil wir es aus der uns bekannten Form "focht" ableiten, analog zu anderen starken Verben, die ihr Imperfekt mit kurzem o bilden. Mindestens in dieser Hinsicht ist fechten also ein regelmäßiges Verb.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: VerbOrg in 2006-10-08, 16:04:20
Zitat von: Agricola in 2006-10-08, 15:58:00
Zitat von: VerbOrg in 2006-10-08, 15:36:25
"Fast alle" heißt für mich "die überwältigende Mehrheit", nicht unbedingt "alle bis auf zwei, drei Hanseln".
Sofern wir uns nicht auf die Seite der Mathematiker schlagen (bei denen bedeutet "fast alle" meistens "alle mit endlich vielen Ausnahmen", und damit wären fast alle Verben im Deutschen stark), stimme ich ja durchaus zu. Nur nicht in der Hinsicht, dass die starken Verben die schwachen mit ihrer Mehrheit überwältigen - jedenfalls haben sie das bisher noch nicht geschafft.
Aber genau das habe ich doch geschrieben, dass unsere Starkverbliste, in der nur eigentlich schwache Verben stehen, bedeutend umfangreicher ist als die Liste unregelmäßiger Verben, die Deine Studenten zu lernen haben.
Damit sind die wirklich starken Verben in der Minderheit.
Ich darf sie also getrost - ob der überwältigenden Mehrheit schwacher Verben - als unregelmäßige Verben bezeichnen.


So, ich hab keine Zeit mehr - Filmfest, Du weißt.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: Agricola in 2006-10-08, 16:08:52
Zitat von: VerbOrg in 2006-10-08, 16:04:20
Zitat von: Agricola in 2006-10-08, 15:58:00
Zitat von: VerbOrg in 2006-10-08, 15:36:25
"Fast alle" heißt für mich "die überwältigende Mehrheit", nicht unbedingt "alle bis auf zwei, drei Hanseln".
Sofern wir uns nicht auf die Seite der Mathematiker schlagen (bei denen bedeutet "fast alle" meistens "alle mit endlich vielen Ausnahmen", und damit wären fast alle Verben im Deutschen stark), stimme ich ja durchaus zu. Nur nicht in der Hinsicht, dass die starken Verben die schwachen mit ihrer Mehrheit überwältigen - jedenfalls haben sie das bisher noch nicht geschafft.
Aber genau das habe ich doch geschrieben, dass unsere Starkverbliste, in der nur eigentlich schwache Verben stehen, bedeutend umfangreicher ist als die Liste unregelmäßiger Verben, die Deine Studenten zu lernen haben.
Damit sind die wirklich starken Verben in der Minderheit.
Ich darf sie also getrost - ob der überwältigenden Mehrheit schwacher Verben - als unregelmäßige Verben bezeichnen.
Ich dachte immer, dass es Unterschiede zwischen einer Mehrheit, einer großen Mehrheit und einer überwältigenden Mehrheit gäbe. Damit, dass die einen in der Minderheit sind (es sei denn in der überwältigten Minderheit), sind die anderen noch nicht in der überwältigenden Mehrheit.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: VerbOrg in 2006-10-08, 20:35:05
"Überwältigende Minderheit", das hört sich gut an.

Zum Streiten fehlt mir allerdings ansonsten die Lust.
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: Agricola in 2006-10-08, 21:26:45
überwältigte Minderheit
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: Agricola in 2006-10-08, 22:31:42
Zitat von: Kilian in 2006-10-08, 15:01:00
Ich glaube, dass die Wahrheit hier in der Mitte liegt. Ganz scharf abgrenzen lassen sich die "Wörter" von den "Regeln" dann doch nicht. Ein Beleg dafür wäre, wenn kleine Kinder starke Formen benötzen, die sie nie gehört haben, also starke Formen "übergenerieren" würden.
Gerade höre ich von meiner kleinen Nichte ein Beispiel, wie Kinder kreativ ableiten: Sie steht vorm Gewürzregal und sagt, sie möchte das - hatschi, oder wie heißt das noch mal? - essen. Was sie gemeint hat? Es war Anis. Ist mal wieder ganz am Thema vorbei? Na ja, immerhin geht es in diesem Faden nicht nur um Stärke, sondern auch um Vorsilben. Und in diesem Fall war A- eindeutig eine Vorsilbe!
Titel: Re: Stärke und Vorsilben
Beitrag von: Agricola in 2008-03-02, 05:34:46
Gerade begang mir: vorabverurteilen
Für die Tmesis ergeben sich fast unzählbare Mölgke:
ich vorverteile urab
ich abteile vorverur
ich aburteile vorver
usw.