Gesellschaft zur Stärkung der Verben

Öffentliche Bretter => Sprache => Thema gestartet von: Kilian in 2006-01-06, 02:09:04

Titel: Kaskadenpassiv
Beitrag von: Kilian in 2006-01-06, 02:09:04
Das Comicduo Katz+Goldt geht sehr kreativ mit Sprache um. In ihrem Buch Wenn Adoptierte den Tod ins Haus bringen (Carlsen 2001) kommt in zwei völlig verschiedenen Comics zweimal ein ähnliches Konstrukt vor, das die Autoren wahrscheinlich ganz intuitiv verwandt haben, u.a. um Sprachpuristen zu ärgern, das jedoch aus linguistischer Sicht neue Fragen in das brodelnde Fass der Diskussion um das deutsche Passiv zu Beginn des 21. Jahrhunderts wirft.

Wie setzt man diese Sätze ins Passiv?

(1a) Man versucht jetzt erst, diese Fehler in Österreich nachzumachen.
(1b) Adorno muss die Nase in alles reinstecken.

So?

(2a) Es wird jetzt erst versucht, diese Fehler in Österreich nachzumachen.
(2b) passe - als Modalverb hat müssen kein Passiv

Nein, viel zu langweilig! Wozu ein unpersönliches Subjekt Es in (2a)? Bieten sich nicht die Fehler als Subjekt an - und in (b) die Nase?

Naja, eigentlich geht das nicht, weil die Sätze in (1) keine direkten Objekte haben. versucht und muss sind jeweils als Zwischenstufe eingeschaltet. Von ihnen hängen die Verbalphrasen diese Fehler in Österreich nachzumachen bzw. die Nase in alles reinstecken ab. Die Objekte sind Teile dieser untergeordneten Verbalphrasen. Standardmäßig können sie sie nicht verlassen.

Da die Verben versuchen oder müssen aber praktisch nur modale Funktion haben, kommt es einem blöd vor, sich von ihnen an einem anständigen Passiv hindern zu lassen. Daher heißt es bei Katz+Goldt:*

(3a) Diese Fehler werden jetzt erst in Österreich nachzumachen versucht.
(3b) Die Nase wird in alles reinstecken gemusst.

So könnte man folgende Regel formulieren: Bei der Umwandlung eines Aktivsatzes in einen Passivsatz wird das Objekt der Verbalphrase zum Subjekt des Satzes. Das Objekt einer Verbalphrase ist, falls sie nicht wirklich ein eigenes hat, das Objekt der jeweils untergeordneten Verbalphrase. Das Verb der obersten Verbalphrase wird passivoren, auch, wenn es modal ist. Dieses Prinzip könnte man auf absurd viele Schritte erweitern und daran angelehnt Kaskadenpassiv nennen:

(1c) Der Prinz will versuchen zu erreichen die Prinzessin küssen zu dürfen.
(3c) Die Prinzessin wird küssen zu dürfen zu erreichen versuchen gewollt.

Das hat was, oder?

*im Original als Relativsatz bzw. Erikativ (http://de.wikipedia.org/wiki/Erikativ), aber das hätte oben nur verworren:
(4a) Bausenator Nagel kann Fehler aufzeigen, die jetzt erst in Österreich nachzumachen versucht werden.
(4b) in alles reinstecken gemusst werd
Titel: Re:Kaskadenpassiv
Beitrag von: amarillo in 2006-01-06, 11:15:57
Wie läuft das bei reflexiven Verben?

Darüber wird man sich Gedanken machen müssen.

1. Darüber werden sich Gedanken machen gemußt?
2. Darüber werden Gedanlen sich machen gemußt?
3. Gedanken werden sich darüber machen gemußt?
4. Gedanken werden sich darüber gemacht werden müssen?

Ich bin komplett verworren :D
Titel: Re:Kaskadenpassiv
Beitrag von: caru in 2006-01-06, 11:31:04
seitens herrn adornos wird die nase in alles reinstecken gemußt  :D


indische sprachen lieben bekanntlich die ergativkonstruktion (logisches subjekt im instrumental + verb in einer form, die die person nicht erkennen läßt). und so formulieren sanskritsprachige logiker ein klassisches beispiel für einen logischen schluß im alltag ausnahmslos so:

sthânunâ bhavyam
sthânu- "pfosten, baumstrunk" im instr. - gerundivum von bhû "sein, werden"
"seitens eines baumstrunks muß gewesen werden" ;D

(der schluß geht etwa so: man geht in der dämmerung am waldrand spazieren. da sieht man einen aufrechten dunklen schatten. ist das wohl der herr soundso, der hier auch gelegentlich spazierengeht? hm, da läßt sich grade eine krähe auf ihm nieder, und er bleibt ruhig stehen und reagiert nicht. das muß wohl doch ein baumstamm sein.)
Titel: Re:Kaskadenpassiv
Beitrag von: Kilian in 2006-01-07, 12:16:15
Zitat von: amarillo in 2006-01-06, 11:15:57
Wie läuft das bei reflexiven Verben?

Darüber wird man sich Gedanken machen müssen.

Darüber werden sich Gedanken machen gemusst werden.

Oder, wenn man ganz krass drauf ist und sogar das Futur-werden dem Kaskadenpassiv unterwerfen will:

Darüber werden sich Gedanken machen müssen geworden.
Titel: Re:Kaskadenpassiv
Beitrag von: Kilian in 2006-01-31, 19:48:35
Ein neulich mündlich aufgeschnoppenes Internum aus der Linux-Welt lautet:

(5) xmodmap is trying to be removed from KDE.

Süß. Ein Tastaturbelegungswerkzeug, das sich in einer grafischen Benutzeroberfläche nicht wohlfühlt und sie verzweifelt verlassen will. Oder ist, korrekt kaskadenpassivisch ausgedrocken, vielleicht doch eher dies gemienen:

(6) xmodmap is being tried to remove from KDE.
Titel: Re:Kaskadenpassiv
Beitrag von: amarillo in 2006-01-31, 20:03:42
Zitat von: Kilian in 2006-01-31, 19:48:35

(6) xmodmap is being tried to remove from KDE.

Hier würde ich mich sogar der Doppelpassivvariante bedienen:

xmodmap in being tried to be removed from KDE.

Denn eigentlich kann xmodmap (waß auch immer das ist) ja nix selbst entfernen, sehe ich das richtig?
Titel: Re:Kaskadenpassiv
Beitrag von: Kilian in 2006-01-31, 20:15:58
Nö, (6) ist Kaskadenpassiv für:

(7) Sb. is trying to remove xmodmap from KDE.

Den Entfarn übernimmt also durchaus das unbekannte Agens.

Dein Doppelpassiv liet den Bollerwagen meiner Fantasie auf einen schlammigen Pfad:

(8) Sb. is trying (tempting) xmodmap (in order) to be removed.

Versuchter Selbstmord durch Versuch eines Programms? Klingt nicht sehr effektiv... ;)
Titel: Re:Kaskadenpassiv
Beitrag von: Berthold in 2006-10-05, 13:42:01
Zitat von: caru in 2006-01-06, 11:31:04
seitens herrn adornos wird die nase in alles reinstecken gemußt  :D


indische sprachen lieben bekanntlich die ergativkonstruktion (logisches subjekt im instrumental + verb in einer form, die die person nicht erkennen läßt). und so formulieren sanskritsprachige logiker ein klassisches beispiel für einen logischen schluß im alltag ausnahmslos so:

sthânunâ bhavyam
sthânu- "pfosten, baumstrunk" im instr. - gerundivum von bhû "sein, werden"
"seitens eines baumstrunks muß gewesen werden" ;D

Ergativkonstrükze gar in indoeuropäischen Sprachen? - Wie? - Da hab ich was dazugelornen.
Ich hatte vom Ergativ eine sehr simple, locker angelesene Vorstall ('Cafébudel-G'scheiterl-Niwóo'), die ich alsogleich aufs Thoytsche übertragen will:

Der Vater gekommen ist. - Ich schreibe den Absolutiv als Nominativ an. Ein bisserl verdrehen tu ich's auch, auf daß man denke, daß da ein Alzerl was dran sei.

Dum Vatrum getalden hat der Sohn. - Hier ist 'Dum Vatrum' Ergativ und 'der Sohn' Absolutiv. (= Der Vater hat den Sohn getalden.)

Wenn wir, auf Deutsch, schreiben, 'Der Vater hat den Sohn getalden und ist weggegangen', dann ist der Vater weggegangen.

In einer Ergativsprache ist bei 'Dum Vatrum getalden der Sohn hat und weggegangen ist' der Sohn weggegangen.

Wie's bei 'Der Sohn dum Vatrum - wurde geschlagen' oder nur 'Der Sohn - wurde geschlagen' mit dem Verb ausschauen kekünne, weiß ich nicht, schreibe aber, etwas kryptisch, her, daß sich da Ergativsprachen ('wie, z.B., das Baskische, das Georgische, das Hopensische...') wohl unterscheiden kekünnen. Für's Wiener Kaffeehaus hätte es schon vorher bei weitem geriechen, zumal einem da niemand mit depperten Fernsehsendungen - wie in der Zoologie - vorgegriffen hätte.

Was das nun mit einem Pfosten im Instrumental zu tun hat, verstehe ich zwar nicht, aber irgendwas wird's damit schon zu tun haben.
Die anderinnen & anderen haben's ja auch, fraglos, verstanden; und der caru weiß es sowieso. Der knöcke wohl auch ohne Teamhülfe beim allmitchwolchten Quiz des Beisels 'U.S.W.'* (Wien 8, Laudongasse 10, Beginn 20 : 30) den Dscheckpot. Mir (und damit uns) kam man da gestern, nachdem ich einen guten Start erwuschen hatte, mit Bildern von Rocksängern!

*Eine Art - hey, Karsten! - Schwesternlokal des 'Pentagon' zu Opladen und des 'Omikron' zu Sougia/Kreta.




Titel: Re: Kaskadenpassiv
Beitrag von: Agricola in 2006-10-05, 15:08:31
Ehe die höhere Kunst des Kaskadenpassivs von mir bestiegen zu werden versucht wird*, wird ein einfacherer Aspekt der Sache vom mir entwolcken werden gewollt. Ich habe mich schon immer gewurnden, dass Schüler, die nichts können, dafür von einem Lehrer (selbst von einem Lehrer für Logik) getalden werden können, da das getadelt werden *können* ja im Widerspruch zum *nichts können* steht. "Die Aufgaben konnten von niemandem gelosen werden" ist ebenso unlogisch, da es ja selbstverständlich ist, dass eine Aufgabe nichts kann. Andererseits sind hier eindeutig andere gewesen, die etwas nicht gekonnt haben. Also muss es jedenfalls "gekonnt werden" heißen.

Jedenfalls wird beim ins-Passiv-setzen mehrstufiger Sätze also rückbesichtagogen werden gemusst, ob von den gegebenfalls im Aktiv stehenden Wörtern auch tatsächlich eine Handlung des zugehörigen Subjekts ausgedrocken wird. In Bertholds Beispiel:

(1c) Der Prinz will versuchen zu erreichen die Prinzessin küssen zu dürfen.
(3c) Die Prinzessin wird küssen zu dürfen zu erreichen versuchen gewollt.

frage ich mich, ob die Prinzessin tatsächlich küsst? ob sie darf? ob sie erreichen will? ob sie versucht? Nein, es muss heißen (unter Nennung aller Uhreber)

Die Prinzessin vom Prinzen geküsst werden vom Prinzen gedorfen zu werden wird vom Prinzen vom Prinzen erriechen zu werden vom Prinzen versucht werden gewollt.

*die Passivform von "ich versuche in XXX einzusteigen" müsste strenggenommen heißen "XXX wird von mir von mir bestiegen zu werden versucht", da ja das "von mir bestiegen werden" "von mir versucht wird". Aber wird ist wohl zur Redundanzvermeidung das eine "von mir" ausgelassen werden gekonnt.
Titel: Re: Kaskadenpassiv
Beitrag von: Kilian in 2006-10-05, 17:11:26
Zitat von: Agricola in 2006-10-05, 15:08:31Ehe die höhere Kunst des Kaskadenpassivs von mir bestiegen zu werden versucht wird*, wird ein einfacherer Aspekt der Sache vom mir entwolcken werden gewollt. Ich habe mich schon immer gewurnden, dass Schüler, die nichts können, dafür von einem Lehrer (selbst von einem Lehrer für Logik) getalden werden können, da das getadelt werden *können* ja im Widerspruch zum *nichts können* steht. "Die Aufgaben konnten von niemandem gelosen werden" ist ebenso unlogisch, da es ja selbstverständlich ist, dass eine Aufgabe nichts kann. Andererseits sind hier eindeutig andere gewesen, die etwas nicht gekonnt haben. Also muss es jedenfalls "gekonnt werden" heißen.

Interessanterweise ist das normale Passiv von der Lehrer kann den Schüler tadeln     der Schüler kann vom Lehrer getadelt werden. Das Modalverb können bleibt unberührt. Wiewohl es syntaktisch das zum jeweiligen grammatischen Subjekt gehörende Verb ist, steht es anscheinend semantisch eine Ebene drüber und sagt etwas über den gesamten Sachverhalt aus, unabhänig, ob der aktiv oder passiv formuloren ist. Anschaulich: KANN(der Lehrer tadelt den Schüler) = KANN(der Schüler wird vom Lehrer getadelt).

So verhalten sich auch die Modalverben müssen, brauchen, sollen und dürfen: Wenn ein Raum nicht betreten werden darf, und jemand betritt ihn trotzdem, dann wird nicht der Raum bestraft, sondern dieser jemand, denn die Weisung ergeht nicht an das grammatische Subjekt, sondern an den semantischen Aktanten.

Die Modalverben lassen, wollen und mögen verhalten sich anders, sie treffen eine Aussage über das grammatische Subjekt: Wenn der Arzt Lisa nicht impfen will, ist das etwas ganz anderes, als wenn Lisa vom Arzt nicht geumpfen werden will. Will man daher den ersten Satz ins Passiv setzen, braucht man das Kaskadenpassiv oder so ne Scherze: Lisa wird vom Arzt nicht impfen gewollt.

ZitatIn Bertholds Beispiel:

Es schmeichelt mir, dass meine Ausführungen schon für bertlsche Gedanken gehalten werden. :D
Titel: Re: Kaskadenpassiv
Beitrag von: Agricola in 2006-10-05, 17:53:15
Zitat von: Kilian in 2006-10-05, 17:11:26
Zitat von: Agricola in 2006-10-05, 15:08:31Ehe die höhere Kunst des Kaskadenpassivs von mir bestiegen zu werden versucht wird*, wird ein einfacherer Aspekt der Sache vom mir entwolcken werden gewollt. Ich habe mich schon immer gewurnden, dass Schüler, die nichts können, dafür von einem Lehrer (selbst von einem Lehrer für Logik) getalden werden können, da das getadelt werden *können* ja im Widerspruch zum *nichts können* steht. "Die Aufgaben konnten von niemandem gelosen werden" ist ebenso unlogisch, da es ja selbstverständlich ist, dass eine Aufgabe nichts kann. Andererseits sind hier eindeutig andere gewesen, die etwas nicht gekonnt haben. Also muss es jedenfalls "gekonnt werden" heißen.

Interessanterweise ist das normale Passiv von der Lehrer kann den Schüler tadeln     der Schüler kann vom Lehrer getadelt werden. Das Modalverb können bleibt unberührt. Wiewohl es syntaktisch das zum jeweiligen grammatischen Subjekt gehörende Verb ist, steht es anscheinend semantisch eine Ebene drüber und sagt etwas über den gesamten Sachverhalt aus, unabhänig, ob der aktiv oder passiv formuloren ist. Anschaulich: KANN(der Lehrer tadelt den Schüler) = KANN(der Schüler wird vom Lehrer getadelt).
Ich habe ja selbst nie daran gezwilfen, dass es so ist. Die Frage ist, ob es gut ist, wenn es so bleibt. Es gibt sicher Fälle, wo das "kann" die Möglichkeit des gesamten Sachverhalts ausdrückt, etwa
In der Schule sind die Plätze so angeordnet, dass die Schüler den Lehrer sehen können.
Ganz klar, dass hier nicht nur von den Schülern die Fähigkeit des sehen Könnens, sondern auch vom Lehrer die Fähigkeit des gesehen werden Könnens gefordert ist. Denn wenn der Lehrer sich an der falschen Stelle aufhält oder eine Tarnkappe aufhat, kann er auch von sehen könnenden Schülern nicht gesehen werden, und wenn die Schüler blind sind, können sie auch einen gesehen werden könnenden Lehrer nicht sehen. Die Fähigkeit liegt also auf beiden Seiten, und somit ist die Ausdrucksweise "Der Lehrer muss von den Schülern gesehen werden können (und gekonnt werden)" richtig.

In anderen Fällen ist es ganz anders. "Die Aufgabe konnte von dir gelöst werden, aber nicht von mir." ist Quatsch, weil die Aufgabe erstens gar nichts kann und zweitens erst recht nicht im Hinblick auf dich oder mich. Das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein der Fähigkeit liegt eindeutig nur auf der Seite derjenigen, die versucht haben, die Aufgabe zu lösen.

Die Übung bestand darin, die Aufgabe zu lösen.
Die Übung bestand im gelöst Werden der Aufgabe.
Die Übung wurde gekonnt.
Der Aufgabe gelöst Werden wurde gekonnt.

Das ist jetzt die richtigere Form. Ich sehe, dass die Verbindung des Nominativ mit dem Infinitiv Passiv Unsinn war. Also ein nächster Versuch:

Das des des des der Prinzessin vom Prinzen geküsst Werdens vom Prinzen gedorfen Werdens vom Prinzen erreicht Werdens vom Prinzen versucht Werden wird vom Prinzen gewollt.

Jetzt ist's aber eben so klar und verständlich wie die aktive Formulierung, und jedenfalls der spachlichen Logik voll, oder?  ;D

Zitat von: Kilian in 2006-10-05, 17:11:26

So verhalten sich auch die Modalverben müssen, brauchen, sollen und dürfen: Wenn ein Raum nicht betreten werden darf, und jemand betritt ihn trotzdem, dann wird nicht der Raum bestraft, sondern dieser jemand, denn die Weisung ergeht nicht an das grammatische Subjekt, sondern an den semantischen Aktanten.
Wie gesagt, es ist höchste Zeit, diesen Missstand zu ändern und entweder künftig den Raum zu bestrafen oder sprachlich korrekte Formulierungen zu verwenden.
Zitat von: Kilian in 2006-10-05, 17:11:26

Die Modalverben lassen, wollen und mögen verhalten sich anders, sie treffen eine Aussage über das grammatische Subjekt: Wenn der Arzt Lisa nicht impfen will, ist das etwas ganz anderes, als wenn Lisa vom Arzt nicht geumpfen werden will. Will man daher den ersten Satz ins Passiv setzen, braucht man das Kaskadenpassiv oder so ne Scherze: Lisa wird vom Arzt nicht impfen gewollt.
Oder eben: Lisas geimpft Werden wird vom Arzt nicht gewollt.
Zitat von: Kilian in 2006-10-05, 17:11:26

ZitatIn Bertholds Beispiel:

Es schmeichelt mir, dass meine Ausführungen schon für bertlsche Gedanken gehalten werden. :D
Den Irrtum machte die Umkehr der Anordnung, sobald man auf "Antworten" geht. Ich hatte den Faden gelesen und in Erinnerung, dass der letzte Beitrag von Berthold war, und dann drückte ich auf Antworten und or etwas aus dem letzten Beitrag kop ...
Titel: Re: Kaskadenpassiv
Beitrag von: Agricola in 2006-10-05, 18:00:21
Übrigens: "Bei diesem Wetter dürfen wir nicht zu lange von der direkten Sonne beschienen werden." Welche Strafe blüht der Sonne im Vergehensfall?
Titel: Re: Kaskadenpassiv
Beitrag von: Berthold in 2006-10-05, 18:08:06
Zitat von: Kilian in 2006-10-05, 17:11:26
Interessanterweise ist das normale Passiv von der Lehrer kann den Schüler tadeln     der Schüler kann vom Lehrer getadelt werden. Das Modalverb können bleibt unberührt.
Sehe ich das rachgt, daß beide Sätze in einer Ergativsprache wohl zusammenfielen, daß es ein Passiv wie im Deutschen gar nicht gäbe?
Dum Lehrerum der Schüler tadeln kann.
Mochlg soll manchmal sein, daß ein transitives Verb zum intransitiven Antipassiv wird:
Irgenwie so: Der Schüler wird getalden. > Der Schüler tadlium. (Oder wie sich das halt wandelt, wenn's intransitiv wird.)
Manche Verben des Baskischen verlangen auch einfach den Ergativ, andere den Absolutiv:
'Jon etorri da' heißt 'Jon kam'. Jon: Absolutiv; etorri: P. Perf. von 'kommen'; da: 3. Sg. intrans. von 'sein'.
'Jonek saltatu du' heißt 'Jon sprang'. Jonek: Ergativ; saltatu: P. Perf. von 'springen'; du: 3. Sg. trans. von 'haben'.  


Titel: Re: Kaskadenpassiv
Beitrag von: Agricola in 2006-10-05, 18:13:08
Und noch eins:
Du kannst mich mal ...

heißt im Passiv nach der Standardgrammatik:

Ich kann von dir mal ... (werden)

Korrekter hieße es meines Erachtens:

Von dir gekonnt wird mal mein ... (Werden)
Titel: Re: Kaskadenpassiv
Beitrag von: Kilian in 2006-10-05, 19:25:20
Zitat von: Berthold in 2006-10-05, 18:08:06
Mochlg soll manchmal sein, daß ein transitives Verb zum intransitiven Antipassiv wird:
Irgenwie so: Der Schüler wird getalden. > Der Schüler tadlium. (Oder wie sich das halt wandelt, wenn's intransitiv wird.)

Das Antipassiv sagt doch, wer tadelt, und nicht, wer getadelt wird. Also:

Der Lehrer tadelt. > Der Lehrer tadlium.

Das ist die Möglichkeit, in einer Ergativsprache ein transitives Verb mit Agens, aber ohne Patiens zu verwenden.

ZitatManche Verben des Baskischen verlangen auch einfach den Ergativ, andere den Absolutiv:

Sieh an! Und im Georgischen, diese Kuriosität gehört hier auch angebracht, hängt es vom Tempus ab, ob ergativ oder akkusativ gesprochen wird.
Titel: Re: Kaskadenpassiv
Beitrag von: Berthold in 2006-10-06, 13:08:36
Zitat von: Kilian in 2006-10-05, 19:25:20
Das Antipassiv sagt doch, wer tadelt, und nicht, wer getadelt wird. Also:
Der Lehrer tadelt. > Der Lehrer tadlium.

Da hast Du froychl recht, lieber Kilian - und ich war gestern wohl in Gedanken schon in einer meiner Stammbuchhülnden - oder stak in einer leicht postdepressiven Phantasie (von einem Kloster eines strengen Ordens in einem Satelliten oder so). Das mit dem Antipassiv ist mir aber eh durch den Kopf gegangen. Jetzt grillb ich nur noch über eines: Ja hieße das dann nicht 'Dum Lehrerum tadlium'?
Die Chinesinnen & Chinesen - aber das weißt Du ja sicher eh - verwenden transitive Verben allein gar nicht, sondern hängen dann ein gewissermaßen leeres Objekt dazu. Ich schreibe die folgenden, sehr bekannten Beispiele galchnz ohne Diakritika: Wo kan shu - Ich les Buch - heißt nicht das, sondern einfach 'ich lese'. Ni chi fan - du ess Reis - heißt 'du ißt' (der warlchke Reis wäre wägnstens mifan). Ta chang ge - Er sing Lied - 'er singt'...

Ich nun arbeit Zuckmuck.
   
Titel: Re: Kaskadenpassiv
Beitrag von: Agricola in 2006-10-06, 13:49:48
Zitat von: Berthold in 2006-10-06, 13:08:36
Ich nun arbeit Zuckmuck.   
Da - wie jeder Musiker weiß - eine "Mucke" eine Arbeit ist, rieche doch "Ich nun zuckmuck".

Stress bei Deiner Arbeit wäre dann Ruckzuckzuckmuckdruck.
Titel: Re: Kaskadenpassiv
Beitrag von: Kilian in 2006-10-06, 14:53:26
Zitat von: Berthold in 2006-10-06, 13:08:36Jetzt grillb ich nur noch über eines: Ja hieße das dann nicht 'Dum Lehrerum tadlium'?

Hm, in der Wikipädie (http://de.wikipedia.org/wiki/Ergativsprache) steht, dass das Subjekt im Antipassiv vom Ergativ in den Absolutiv wechselt, aber ich kann mir vorstellen, dass das von Ergativsprache zu Ergativsprache verschieden ist. Fürs Neutsche bliebe es festzulegen. :D

Das mit dem Chinesischen wusste ich nicht, danke für diesen interessanten Einblick!
Titel: Re: Kaskadenpassiv
Beitrag von: caru in 2006-10-06, 20:31:35
Zitat von: Berthold in 2006-10-06, 13:08:36
Wo kan shu - Ich les Buch - heißt nicht das, sondern einfach 'ich lese'.

noch strikter wörtlich heißt das "ich schau buch" - kàn heißt ganz allgemein anschauen. uuuuuuuund wenns ein magazin oder ne zeitung ist, die der betreffende liest, sagt er natürlich wo kan bao "ich les zeitung". so gaaaaaaaaaaaaaaanz leer ist also das objekt auch dort nicht, nur weitgehend.
Titel: Re: Kaskadenpassiv
Beitrag von: Agricola in 2006-10-06, 21:06:44
Aber shu ist doch wahrscheinlich 書, und das bedeutet nicht primär Buch, sondern schreiben und eben das Geschriebene, und von daher abgeleitet manchmal auch ein Buch. Also "ich betrachte das Geschriebene" - keineswegs fremdartig für uns.
Im Japanischen als Einzelwort 書物 shomotsu: Das Buch. Sonst als Einzelwort 書 sho die Kalligraphie (ist aber ein sehr moderner Ausdruck), in Zusammensetzungen kann 書 ein Buch sein (教科書 kyôkasho Lehrbuch), ein Schriftstück (履歴書 rirekisho Lebenslauf), ein Schreibstil (行書 gyôsho Schreibschrift) oder eine schreibende Person (秘書 hisho der Sekretär). Und wahrscheinlich noch vieles anderes, was mir gerade nicht einfällt.
Titel: Re: Kaskadenpassiv
Beitrag von: caru in 2006-10-06, 21:31:06
jo, im klassischen chinesisch heißt 書 schriftstück, urkunde... gottweißwasnoch, hauptsache geschreibsel, und ein verb ist es noch dazu. aber die erwähnten phrasen sind zeitgenössisches gesprochenes chinesisch, und da ist es weitgehend auf "buch" festgelegt.
Titel: Re: Kaskadenpassiv
Beitrag von: Berthold in 2006-10-09, 14:21:36
Zitat von: caru in 2006-10-06, 20:31:35

noch strikter wörtlich heißt das "ich schau buch" -
Und noch strikter ist es etwas, was wir eigentlich gar nicht leicht sagen können. Das Buch hat nämlich hier weder Ein- noch Mehrzahl. Ich lese dieses (eine) Buch hieße schon: Wo3 kan4 zhe(i)4 ben3 shu1. Und auch das können mehrere Bücher sein. Dann würde aber wohl deren Zahl genannt - oder die Zahl geht - wie's immer über das Chinesische so schön heißt - aus dem Zusammenhang hervor.
Wo3 kan4 bao4 heißt, daß ich irgendetwas Zeitschriftenartiges lese, durchblättere oder anschaue. 
Titel: Re: Kaskadenpassiv
Beitrag von: Grinsekater in 2006-11-11, 13:34:54
Gerade war im SWR2 zur Privatisierung der Eisenbahn zu hören:

,,Es ist ein ziemlich kompliziertes Konstrukt, was sich da ausgedacht geworden ist."

Kein eigentliches Kaskadenpassiv, zugegeben, aber daß das ,,sich" in der passiven Form erhalten blieb, fand ich bemerkenswert. (Beinahe ebenso übrigens das ,,ge-" von ,,geworden".) Als hätten die Ausdenker nicht sich, sondern dem Ausgedachten etwas (nämlich das Ausgedachte) ausgedacht, diese Dachdenker.

Titel: Re: Kaskadenpassiv
Beitrag von: Kilian in 2010-04-06, 23:49:30
*gibt zu Protokoll, dass das Kaskadenpassiv erster Stufe der germanistischen Sprachwissenschaft bereits als langes Passiv (http://www.google.com/search?hl=de&q=langes%20passiv&ie=utf-8) oder Fernpassiv (http://www.google.com/search?hl=de&q=fernpassiv&lr=&aq=f&aqi=g10&aql=&oq=&gs_rfai=) bekannt ist, allerdings nur für ganz bestimmte Verben (versuchen, vergessen...) und vermutlich nicht mit mehrstufigen Kaskaden*
Titel: Re: Kaskadenpassiv
Beitrag von: Kilian in 2011-06-01, 10:55:39
Zitat von: Kilian in 2006-10-05, 19:25:20
ZitatManche Verben des Baskischen verlangen auch einfach den Ergativ, andere den Absolutiv:

Sieh an! Und im Georgischen, diese Kuriosität gehört hier auch angebracht, hängt es vom Tempus ab, ob ergativ oder akkusativ gesprochen wird.

*gibt ferner zu Protokoll, dass das gar keine Kuriosität, sondern eben gespaltene Ergativität ist, was unter den Sprachen der Welt sogar häufiger ist als die ,,reine" Ergativität*
Titel: Re: Kaskadenpassiv
Beitrag von: Kilian in 2015-04-20, 15:42:31
Noch ein schönes Beispiel fürs lange Passiv von Sascha Lobo in diesem Tweet: (https://twitter.com/saschalobo/status/590144104039866368) "Die Bundesregierung ist schon jetzt bestürzt über die mehr als 500 Menschen, die nächste Woche zur Abschreckung ertrinken gelassen werden."
Titel: Re: Kaskadenpassiv
Beitrag von: Kilian in 2015-04-30, 13:26:51
Natürlich hat auch dieses Passiv ein Partizip:

ZitatSchon bald aber wurden die Kleiderschränke der Kunden voller und voller, und irgendwann wollten nicht einmal die Altkleidersammler die vielen einmal habengemussten Klamotten noch annehmen.
– Marcus Rohwetter, Essentials und Must-haves (http://www.zeit.de/2015/16/quengelzone-modewoerter-must-have)

Die Kolumne ist sehr vergnüglich, besonders beim letzten Absatz krolng ich mich.
Titel: Re: Kaskadenpassiv
Beitrag von: Homer in 2015-07-04, 18:49:05
Zitat von: Kilian in 2006-10-05, 17:11:26
Die Modalverben lassen, wollen und mögen verhalten sich anders, sie treffen eine Aussage über das grammatische Subjekt: Wenn der Arzt Lisa nicht impfen will, ist das etwas ganz anderes, als wenn Lisa vom Arzt nicht geumpfen werden will. Will man daher den ersten Satz ins Passiv setzen, braucht man das Kaskadenpassiv oder so ne Scherze: Lisa wird vom Arzt nicht impfen gewollt.

Brandaktuelles Beispiel:

Kleinlaut schließt Lucke seine Begrüßung der knapp 3.000 Mitglieder: "Das war mein erster Versuch, eine Hand zu reichen, die augenscheinlich nicht von jedem genommen werden möchte." (ZEIT-online)

Der Widerwille seiner Hand gegen allzu beliebiges Genommenwerden wurde dann bei der Vorsitzenden-Wahl von den Delegorenen prompt erworden.

Titel: Re: Kaskadenpassiv
Beitrag von: Wortklaux in 2015-07-04, 19:52:27
Nach meinem Sprachempfinden bezieht sich der in Luckes Zitat bezeichnete Wille eindeutig auf die Nehmenden. im Falle eines Angebots, das nicht von jedem angenommen werden will, setzt sich die Semantik in meinem zerebralen Sprachprozessor radikal gegen alle grammatischen Argumente durch, und ich wäre deshalb eher bereit, die Grammatik, als mein Sprachverständnis zu ändern.

Unmissverständlich wäre für mich auch:

Was passiert mit Menschen, die in der Europäischen Gemeinschaft zwar Asyl suchen, aber von keinem Land aufgenommen werden wollen?

Besseres Neutsch wäre aber freilich

Was passiert mit Menschen, die in der Europäischen Gemeinschaft zwar Asyl suchen, aber von keinem Land aufnehmen gewollt werden?

Inwiefern ist aber ,,lassen" ein Modalverb? Vielleicht wenn man es so verwendet:
Ich lasse mir die Haare schneiden.
Ich lasse von Opa den Rasen mähen.
Aber so wie "ich möchte abgeholt werden" lässt sich lassen wohl gar nicht mit einem passiven Verb verbinden. Vielmehr wird das Verb lassen selbst — im Gegensatz zu wollen — ins Passiv gesetzt:
Autos, die von ihren Besitzern hier stehen gelassen werden, werden kostenpflichtig abgeschleppt.
Aber da ist lassen schon wieder kein echtes Modalverb mehr, weil es mit AcI (bzw. NcI in der Passivkonstruktion) gebolden wird.
Titel: Re: Kaskadenpassiv
Beitrag von: Homer in 2015-07-04, 21:20:25
Zitat von: Wortklaux in 2015-07-04, 19:52:27
Nach meinem Sprachempfinden bezieht sich der in Luckes Zitat bezeichnete Wille eindeutig auf die Nehmenden. im Falle eines Angebots, das nicht von jedem angenommen werden will, setzt sich die Semantik in meinem zerebralen Sprachprozessor radikal gegen alle grammatischen Argumente durch, und ich wäre deshalb eher bereit, die Grammatik, als mein Sprachverständnis zu ändern.

Unmissverständlich wäre für mich auch:

Was passiert mit Menschen, die in der Europäischen Gemeinschaft zwar Asyl suchen, aber von keinem Land aufgenommen werden wollen?

Ob dieses Sprachgefühl mehrheitsfähig ist? Ich weiß nicht recht. Für mich persönlich gilt jedenfalls: Logik und Sprachgefühl sagen unisono und mit gleicher Lautstärke "nein, niemals, unmöglich, völlig ausgeschlossen!"
Titel: Re: Kaskadenpassiv
Beitrag von: Kilian in 2015-07-04, 22:14:23
Zitat von: Homer in 2015-07-04, 21:20:25
Zitat von: Wortklaux in 2015-07-04, 19:52:27
Nach meinem Sprachempfinden bezieht sich der in Luckes Zitat bezeichnete Wille eindeutig auf die Nehmenden. im Falle eines Angebots, das nicht von jedem angenommen werden will, setzt sich die Semantik in meinem zerebralen Sprachprozessor radikal gegen alle grammatischen Argumente durch, und ich wäre deshalb eher bereit, die Grammatik, als mein Sprachverständnis zu ändern.

Unmissverständlich wäre für mich auch:

Was passiert mit Menschen, die in der Europäischen Gemeinschaft zwar Asyl suchen, aber von keinem Land aufgenommen werden wollen?

Ob dieses Sprachgefühl mehrheitsfähig ist? Ich weiß nicht recht. Für mich persönlich gilt jedenfalls: Logik und Sprachgefühl sagen unisono und mit gleicher Lautstärke "nein, niemals, unmöglich, völlig ausgeschlossen!"

Wenn man drüber nachdenkt und sprachanalytisch geschult ist (und das sind wir alle hier so sehr, dass wir uns in Durchschnittssprachbenutzende bestimmt nur schwer hineinversetzen können), wird einem das wohl falsch vorkommen. Wenn man es aber andererseits nur so aufschnappt und mit Hilfe des Kontexts versteht, fällt es einem vielleicht gar nicht auf.
Titel: Re: Kaskadenpassiv
Beitrag von: Homer in 2015-07-04, 23:17:04
Mag sein. Ich sollte vielleicht nur noch mal sagen, dass ich den Fehler nicht aktiv gesucht habe. Ich habe den ZEIT-online-Artikel rein auf Inhalt, ohne jeden Fokus auf Sprachbeobachtung gelesen, habe auch sofort gewusst, was Lucke sagen wollte, und trotzdem gleichzeitig und ohne analytisches Nachdenken gemerkt, dass er etwas anderes gesagt hat. Dass einem Sprecher solche Dinge in einer Parteitagsrede unterlaufen können, ist verständlich. Aber ich stelle mir vor, dass es einigermaßen kompetenten Hörern sofort auffällt. Und das Konstrukt des "kompetenten Sprachbenutzers" wird ja immer herangezogen, wenn es darum geht, ob ein Satz als grammatisch durchgeht.
Titel: Re: Kaskadenpassiv
Beitrag von: Kilian in 2015-07-04, 23:21:26
Zitat von: Wortklaux in 2015-07-04, 19:52:27
Inwiefern ist aber ,,lassen" ein Modalverb?

Es wird von manchen Lehrwerken und Grammatiken als solches genannt, ich bin aber mittlerweile auch der Überzeugung, dass das keine glückliche Einsortur ist. Zumal, wenn andererseits hören, sehen, fühlen, spüren  und heißen (neutsch auch schmecken, pornografisches Beispiel: ,,Ich schmeckte ihn kommen" und riechen: ,,Ich roch ihn eintreten"), die ebenfalls mit AcI stehen können, deswegen nicht als Modalverben handgehabt werden.

Zitat
Vielleicht wenn man es so verwendet:
Ich lasse mir die Haare schneiden.
Ich lasse von Opa den Rasen mähen.

Stimmt, hier fehlt der A und steht nur ein I, vielleicht daher die merkwürdige Einsortur. Wobei ich denke, dass der A einfach elidoren ward. Denn anders, als es bei einem Modalverb der Fall wäre, reicht lassen das Subjekt ja gerade nicht an den untergeordneten Infinitiv weiter, sondern das sind hier zwei verschiedene semantische Rollen.

EDIT: Noch ein Grund: lassen kennt wie die Modalverben den Ersatzinfinitiv: Ich habe mir die Haare schneiden (*ge)lassen.

Zitat
Aber so wie "ich möchte abgeholt werden" lässt sich lassen wohl gar nicht mit einem passiven Verb verbinden.

Hier verstehe ich nicht, was du meinst.

ZitatVielmehr wird das Verb lassen selbst — im Gegensatz zu wollen — ins Passiv gesetzt:
Autos, die von ihren Besitzern hier stehen gelassen werden, werden kostenpflichtig abgeschleppt.
Aber da ist lassen schon wieder kein echtes Modalverb mehr, weil es mit AcI (bzw. NcI in der Passivkonstruktion) gebolden wird.

Genau, das ist das normale Passiv von lassen. Interessanterweise scheint das im Deutschen nur zu gehen, wenn der I ein sein-Verb ist, haben-Verben sträuben sich:

Der Lehrer lässt die Kinder singen → ??Die Kinder werden vom Lehrer singen gelassen
Der Arzt lässt Lisa die Zunge herausstrecken → ??Lisa wird (vom Arzt) die Zunge herausstrecken gelassen

Auf Neutsch geht das freilich. Und da kann man auch den AcI selbst ins Passiv setzen, wenn er ein Objekt hat:

Der Arzt lässt Lisa die Zunge herausstreckenDer Arzt lässt die Zunge (von Lisa) herausgestreckt werden
(Verwirrenderweise ähnelt dieses Passiv dem Aktiv mit elidorenem A: Der Arzt lässt die Zunge herausstrecken)
Rezipientenpassiv: Die Chefin lässt dem Angestellten helfenDie Chefin lässt den Angestellten geholfen kriegen

Und schließlich kann man ein Kaskadenpassiv bilden:

Der Arzt lässt Lisa die Zunge herausstreckenDie Zunge wird (vom Arzt) (von Lisa) herausstrecken gelassen
Die Chefin lässt dem Angestellten helfenDer Angestellte kriegt (von der Chefin) geholfen gelassen
Titel: Re: Kaskadenpassiv
Beitrag von: Kilian in 2015-07-04, 23:26:03
Zitat von: Homer in 2015-07-04, 23:17:04
Mag sein. Ich sollte vielleicht nur noch mal sagen, dass ich den Fehler nicht aktiv gesucht habe. Ich habe den ZEIT-online-Artikel rein auf Inhalt, ohne jeden Fokus auf Sprachbeobachtung gelesen, habe auch sofort gewusst, was Lucke sagen wollte, und trotzdem gleichzeitig und ohne analytisches Nachdenken gemerkt, dass er etwas anderes gesagt hat. Dass einem Sprecher solche Dinge in einer Parteitagsrede unterlaufen können, ist verständlich. Aber ich stelle mir vor, dass es einigermaßen kompetenten Hörern sofort auffällt. Und das Konstrukt des "kompetenten Sprachbenutzers" wird ja immer herangezogen, wenn es darum geht, ob ein Satz als grammatisch durchgeht.

Ja. Ich meinte das mit dem "fällt es einem vielleicht gar nicht auf" als grundsätzliche Möglichkeit, nicht als die Regel oder irgendsowas. Der Satz ist auf jeden Fall in der Tat ein sehr schönes Beispiel für ein verunglücktes langes Passiv... dadurch verunglückt, dass das Modalverb (und zwar eins, das seinem Subjekt eine semantische Rolle zuweist) nicht mitpassiviert wurde und dadurch die semantische Rolle falsch zugestellt wird. Das Modalverb hier zu passivieren wäre allerdings auch im Standarddeutschen kaum möglich: ??eine Hand, die nicht von jedem nehmen gemöchtet wird? Daher hat diese verquere Konstruktion meiner unmaßgeblichen Einschätzung nach zumindest nicht die allerschlechtesten Chancen, im Laufe der nächsten Jahrzehnte Standard zu werden, zumal sie ja wie oben ausgeführt bei anderen Modalverben, die ihrem Subjekt keine semantische Rolle zuweisen, reibungslos funktioniert.