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Beiträge - Homer

#91
Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:34:25
Zitat von: Homer in 2015-06-12, 17:41:32
Der Plural ist im Deutschen im Prinzip morphologisch genuslos. Das merkt man immer dann, wenn kein Singular da ist, wie bei "Leute". (Das ist auch der entscheidende Grund für die geringere männliche Markiertheit von generischen Maskulina im Plural gegenüber dem Singular.) Man muss also, wenn man ein Genus im Plural ermitteln will, immer äußere Kriterien hinzuziehen aus anderen Teilen des Paradigmas (das ist im Normalfall der Singular), durch Rekurs auf sprachgeschichtliche Daten oder – wie in Deinem Fall – durch noch andere Versuche.

Es ist aber überlegenswert, ob man nicht, statt Pluralformen auf künstlichen Umwegen eine Kategorie "Genus" zuzuweisen, die morphologisch gar nicht nachweisbar ist, sagen sollte, dass der Plural im Deutschen grundsätzlich genusindifferent ist und diese Kategorie nur im Singular existiert. Das klingt kühner, als es wahrscheinlich ist. Ich meine mich zu erinnern, dass mein Sprachwissenschaftsprofessor in Göttingen diese Ansicht vertrat.

Ich sympathisiere auch damit, rein morphologisch bezeichnen manche den Plural als das ,,vierte Genus" des Deutschen. Semantisch sind die Anwälte oder die Fußpfleger m.E. freilich immer noch sexusmarkiert, wenn auch wahrscheinlich schwächer.

Ja. Was mich zögern lässt, voll und ganz auf diese Linie einzuschwenken, ist die offensichtlich stets lauernde Intuition, dass doch auch Wörter im Plural ein Genus haben müssen. Das bricht sich dann Bahn, wenn die Grammatik eine Entscheidung tatsächlich einfordert, wie in Partitivkonstruktionen. Einer der Anwälte geht, eine der Anwälte nicht (angenommen, es handelt sich im Kontext um eine bekanntermaßen gemischte Gruppe). Da strahlt der Singular ab, selbst wenn der Sexus der Anwaltsgruppe gemischt und das semantische Genus des Wortes neutral oder unermittelbar ist.

Ich würde mich, glaube ich, nur etwas anders ausdrücken als Du: Ich würde nicht sagen, dass die Anwälte und die Fußpfleger (in welchem Grade auch immer) sexusmarkiert sind, weil das nach einer konstanten Zuschreibung eines Grades von Markiertheit klingt. Ich glaube eher, dass kontextabhängig kognitive Abstufungen von Sexusmarkiertheit (da es sich um die Wörter, die signifiants, und nicht um die Personen, die signifiés, handelt, wäre übrigens "semantisches Genus" statt "Sexus" genauer) vorkommen, von tatsächlich unmarkiert – es stellt sich überhaupt kein "männlicher" Nebengedanke ein – bis zu stärkerer Markiertheit. Diese dynamische Vorstellung entspricht m.E. der Sprachwirklichkeit eher als das sehr holzschnittartige "Männer sind immer mitgemeint" der feministischen Linguistik. In dem Satz "Die Römer sprachen Latein" ist die Markierung offenbar in unverfänglichem, alltäglichem Zusammenhang komplett auf Null gestellt und wird erst durch sekundäre Sprachreflexion, also auf der Metaebene, aktiviert. In diesem Satz sind semantisch nicht Männer und Frauen mitgedacht, sondern weder Männer noch Frauen, auch wenn die Römer in der realen Welt Männer und Frauen waren. Spätestens seit Saussure, aber eigentlich schon seit Aristoteles weiß man, dass sprachliche Zeichen nicht Laute mit Gegenständen verknüpfen, sondern Lautvorstellungen mit psychischen Begriffsinhalten. Diese Begriffsinhalte unterliegen aber dem Prinzip der abstraktiven Relevanz (Ausdruck von Karl Bühler): Aus der nahezu unendlichen Fülle der möglichen realen Eigenschaften eines Gegenstands werden psychisch bei der Begriffsbildung nur diejenigen aktiviert, kraft deren das auszusprechende Wort in seine Funktion als "Zeichen für etwas" eintreten soll. (Niemand soll mir weismachen, dass er bei Römer immer das Merkmal Geschlecht mitdenkt; vielleicht seltener, aber oft genug gibt es sicher Kontexte, in denen bei Anwälte auch niemand Männer mitdenkt.) Das Verhältnis Gegenstand – Begriffsinhalt – Lautbild ist ständigen situativen Schwankungen unterworfen. Es ist vielleicht der entscheidende Grundfehler der feministischen Sprachwissenschaft (jedenfalls in der radikalen Form von Pusch usw.) überhaupt, hier lexikalisch stereotype Konstanz anzunehmen (ich würde eher sagen: zu postulieren), weil die sprachlichen Zeichen nicht zu Begriffsinhalten, sondern durch Kurzschluss direkt zu den Gegenständen/Personen der realen Welt mit der Fülle ihrer realen Eigenschaften in Beziehung gesetzt werden. Das hat noch Platon (ein hochgradig idealisierender und fundamentalistischer Kopf, mit dem sich Frau Pusch bestimmt bestens verstanden hätte*) im Kratylos so gemacht, aber schon sein Schüler Aristoteles, der große, geerdete Empiriker, hat ihm dafür eins übergebraten und das Saussuresche Modell einfach mal um mehr als 2000 Jahre vorweggenommen.

*Platons autoritärer, philosophisch als perfekt "gerecht" begründeter Idealstaat sieht übrigens exakt aus wie eine politische Vorlage für das, was die feministische Linguistik heute in der Sprache vorhat. Platons praktischer Versuch, seinen Modellstaat umzusetzen, ist bekanntlich krachend an der Wirklichkeit gescheitert. Gott sei Dank.
#92
Habe auch noch mal meine Frau gefragt, von der ich vermutet hätte, dass ihr Sprachgefühl "aktueller" ist. Aber femininer Anschluss an jemand und niemand klingt für sie auch schief, und sie hat die Konstruktion auch sofort richtig zugeordnet ("das liest man immer in feministischen Blogs"). Ich glaube immer mehr, der Duden hat sich nur bei den feministischen Sprachschrauberinnen angebiedert, als er das für gleichwertig erklärte. Mit "mit der Zeit gehen" oder nicht hat das nichts zu tun.
#93
Mir geht es hier genau umgekehrt: dem klingt völlig in Ordnung, der würde ich nie sagen. Das grammatische Genus setzt sich, glaube ich, ganz regelmäßig gegen das semantische durch, wie in Mein Vater ist eine Person, der ich vertraue und nicht dem ich vertraue.

Nachtrag: Aber sieh an, die Duden-Grammatik nennt bei jemand und niemand auch den Bezug auf das natürliche Geschlecht an zweiter Stelle als akzeptabel. Wie gesagt, das wäre überhaupt nicht meine Wahl (und ich habe das Gefühl, wenigstens in ambitionierterem Schriftdeutsch sollte man es meiden), ist aber offenbar möglich. In einer älteren Auflage (1998) wird noch ausdrücklich betont, dass das nicht standardsprachlich ist, aber im Zuge feministischer Sprachänderungsbemühungen propagiert wird. Das ist also etwas ziemlich Neues; insofern kein Wunder, dass mir das nicht eingängig ist.

Bei Substantiven wie Person bleibt es aber bei der konsequenten Kongruenz mit dem grammatischen Genus.
#94
Sieht so aus. Das stärker als "jemand" männlich markierte "einer" verträgt sich vielleicht gerade noch mit dem genuslosen "Leute", aber nicht mehr mit eindeutigen Feminina oder Neutra (die zwar in Deinen Beispielen im Plural vorkommen, aber durch die Partitivverbindung mit "ein-" ihr singularisches Genus in den Satz einbringen).
#95
Übrigens klingt in meinen Ohren nur Dein Satz a) einigermaßen in Ordnung, aber nicht deshalb, weil "Leute" vielleicht Maskulinum ist, sondern eher über die Gleichung "jemand von den Leuten" ("der Jemand", also maskulin) = "einer von den Leuten". Ich vermute, da "Leute" genusindifferent ist, verträgt es die Kombination mit dem generischen (schwach männlich markierten) Maskulinum Singular "jemand" oder (schon deutlich stärker männlich markiert) "einer", aber – zumindest nach meinem Gefühl – nicht die mit einem spezifischen Femininum oder Neutrum. Aber vielleicht hat jemand anders eine bessere Erklärung.
#96
Der Plural ist im Deutschen im Prinzip morphologisch genuslos. Das merkt man immer dann, wenn kein Singular da ist, wie bei "Leute". (Das ist auch der entscheidende Grund für die geringere männliche Markiertheit von generischen Maskulina im Plural gegenüber dem Singular.) Man muss also, wenn man ein Genus im Plural ermitteln will, immer äußere Kriterien hinzuziehen aus anderen Teilen des Paradigmas (das ist im Normalfall der Singular), durch Rekurs auf sprachgeschichtliche Daten oder – wie in Deinem Fall – durch noch andere Versuche.

Es ist aber überlegenswert, ob man nicht, statt Pluralformen auf künstlichen Umwegen eine Kategorie "Genus" zuzuweisen, die morphologisch gar nicht nachweisbar ist, sagen sollte, dass der Plural im Deutschen grundsätzlich genusindifferent ist und diese Kategorie nur im Singular existiert. Das klingt kühner, als es wahrscheinlich ist. Ich meine mich zu erinnern, dass mein Sprachwissenschaftsprofessor in Göttingen diese Ansicht vertrat.

Nachtrag: Die Duden-Grammatik vermerkt hier nur: "Bei Wörtern, die nur im Plural vorkommen ..., kann ... kein Genus festgestellt werden." Es wäre wahrscheinlich eine philosophische Frage, ob der Satz bedeutet, dass diese Wörter ein Genus haben, das nur nicht feststellbar ist (sozusagen ein Schrödinger-Genus), oder ob sie keins haben.
#97
Noch ein kleines Gedankenexperiment. Nehmen wir den folgenden Abschnitt aus der Wikipedia ("Feministische Linguistik") [meine Kursivierungen]:

"Die Feministische Linguistik richtet sich gegen den Gebrauch des generischen Maskulinums in der deutschen Sprache. Die Formen der Nomina und der zugehörigen Personal- und Possessivpronomina seien im Deutschen beim generischen Maskulinum mit denen des spezifischen Maskulinums (der Bezeichnung für einzelne Jungen oder Männer bzw. für Gruppen, die ausschließlich aus Jungen oder Männern bestehen) identisch. Dies führe zu der Notwendigkeit, komplizierte Paraphrasierungen vorzunehmen, wenn man verdeutlichen wolle, dass eine bestimmte Personenbezeichnung sich nur auf männliche Personen bezieht. Diese Umformungen würden – so die Analyse um 1980 – jedoch im realen Sprachgebrauch nur selten gemacht; dadurch bleibe unklar, ob eine grammatisch maskuline Personenbezeichnung als generisches oder als spezifisches Maskulinum gemeint sei. Diese Vermischung von generischem und spezifischem Maskulinum in der Sprachverwendung wurde anhand vieler empirischer Untersuchungen belegt. [Für diesen trivialen Nachweis braucht man also Probanden? Sehr lustig – aber das nur nebenbei. H.] ...

Durch die Doppelfunktion grammatisch maskuliner Personenbezeichnungen würden Frauen, so die Autorinnen dieser Studien, systematisch ,,unsichtbar gemacht". Während Männer bei Verwendung maskuliner Personenbezeichnungen immer gemeint seien, sei es bei solchen Bezeichnungen unklar, ob Frauen mitgemeint seien oder nicht."

Aus dem bloßen Befund könnte man ebenso gut, wären die gesellschaftlichen Vorzeichen umgekehrt, das Programm einer maskulistischen Linguistik herleiten: Frauen genießen offenbar das Privileg, über eigene, eindeutig weiblich denotierte Formen zu verfügen. Demgegenüber weiß man, wenn man mit Maskulina spezifisch über Männer sprechen will, nie, ob die Form nicht generisch verstanden werden könnte. Die Männer werden also in der gemeinsamen Masse von Männern und Frauen "unsichtbar gemacht". Frauen dürfen sich so in beiden Genera breit machen, während Männer auf ein Genus beschränkt bleiben, das sie nicht einmal ganz für sich haben. Wer das vermeiden will, muss "komplizierte Paraphrasierungen vornehmen".

Man sieht, der asymmetrische Befund ließe sich gegebenenfalls auch genau umgekehrt interpretieren. Je nachdem, welches gesellschaftliche Programm man verfolgen will, kann man die an sich völlig harmlose Deskription in der gewünschten Weise ideologisch "pushen".

In gewisser Weise analog ist die Interpretation der Beobachtung, dass im Laufe der Sprachgeschichte Ausdrücke für "Frau" offenbar zur Pejorisierung neigen: Früher war "Weib" das normale Wort, jetzt klingt es negativ, "Frau" genügte in bestimmten Zusammenhängen irgendwann auch nicht mehr und musste durch "Dame", "Gattin" usw. ersetzt werden. Ist das Ausdruck männlicher Frauenverachtung? Könnte man denken, und wenn man eine geschickt zugeschnittene Studie mit Probanden durchführt, kann man bestimmt "empirisch" durch Statistiken "beweisen", dass eine Mehrheit solche Pejorisierung als Diskriminierung  von männlicher Seite empfindet (diese Ansicht gibt es übrigens wirklich). Nun hat aber Rudi Keller in seinem Buch "Sprachwandel" – durch bloßes Nachdenken! – völlig überzeugend dargelegt, dass das Gegenteil der Fall ist: Durch das beständig von Männern gegenüber Frauen gespielte "Galanteriespiel" nutzen sich Ausdrücke für "Frau" mit der Zeit ab und es müssen oben in der Skala immer neue galante Wörter angefügt werden, wodurch die alten nach unten rutschen. Die scheinbare "Pejorisierung" ist also eine Folge des männlichen Bemühens um möglichst positive Ausdrucksweise.

Das nur, um davor zu warnen, bei Oberflächenbefunden hängen zu bleiben und einseitige Schlüsse zu ziehen.
#98
Zitat von: Kilian in 2015-06-11, 20:18:58
Deine These ist, wenn ich dich richtig verstehe, dass es daneben auch Situationen gibt, in denen bestimmte Maskulina völlig unproblematisch sind. Meinst du damit, 1) dass sie spontan genau so leicht generisch interpretiert werden wie unzweideutig generische Ausdrücke, bzw. dass sie nachweislich keine diskriminierende Auswirkungen haben? Dann fordere ich dich heraus, einen Vorschlag für eine Studie zu machen, die das empirisch nachweisen könnte. Denn durch bloßes Nachdenken wirst du über die tatsächlichen Auswirkungen schlicht nichts erfahren. Oder meinst du damit 2), dass Maskulina zwar immer etwas andere Auswirkungen haben mögen als andere Ausdrücke, dass das aber nicht schlimm ist und dass ,,Ökonomie" und ,,Schönheit" der Sprache manchmal wichtiger sind? Dann verstehe ich nicht, warum du dich hier über Veröffentlichungen aus Wissenschaft und Wissenschaftskommunikation beschwerst. Die präsentieren dir nur die Ergebnisse, was du daraus machst, ist doch sowieso deine Sache und davon, wie du das alles moralisch bewertest.

1. Ja, es gibt völlig unproblematische Fälle: "Die Römer sprachen Latein" (s.o.).
2. Wofür ist es überhaupt wichtig, ob eine sprachliche Äußerung oder Teile davon etwas mehr oder etwas weniger spontan richtig verstanden werden? Ich halte meine Gesprächspartner in der Regel bis zum Beweis des Gegenteils für geistig flexibel und habe keine Lust, ihnen durch einen Eindeutigkeits-Overkill etwas anderes zu signalisieren. In der Literatur, z.B. in Romanen, würden überexplizite Sprachmittel wie z.B. die "geschlechtergerechten" Formen die Poetizität abtöten und bürokratisch wirken – wo ist das Fehlen solcher Formen für die Leser ein Problem?
3. Was (eventuell) erschwertes Verständnis mit Diskriminierung zu tun haben könnte, ist mir unerfindlich. Und warum wäre unter dem Blickwinkel der Verständlichkeit ein Satz wie "Linguisten sind alle Idioten" eher für rezipierende Frauen ein Problem als für Männer?
4. Warum soll ich Nicht-Diskriminierung durch generische Maskulina nachweisen? Im allgemeinen muss aus prinzipiell-methodischen Gründen in der Forschung die Existenz von etwas nachgewiesen werden und nicht die Nicht-Existenz. Die Beweislast liegt bei denen, die daran glauben, dass Teile der langue per se diskriminieren können. Dieser Beweis dürfte unmöglich sein.
5. Durch Beobachten und Nachdenken über Sprache werde ich nichts erfahren? Dann habe ich bisher alles falsch gemacht. Beobachtungen an gesprochenen und geschriebenen Texten sind nicht empirisch zu nennen? Muss man immer Produzenten und Rezipienten zusammentrommeln und sie befragen, was Sprache und Texte mit ihnen tun, um etwas über deren "Auswirkungen" zu erfahren? Müsste ich dementsprechend nicht über Platon, Euripides, Cicero und Vergil schweigen, weil ich sie ja über ihre Texte nicht mehr befragen kann? Müsste ich in Zukunft Umfragen unter Lesern machen, um Texte sprachlich oder literarisch zu deuten? Wäre es so, dann wäre die ganze Literaturwissenschaft und weite Teile der Sprachwissenschaft ein hohles Geschäft.
6. Zu deinem Punkt 2): Das denke ich in der Tat (wenn man "immer" durch "manchmal" ersetzt).
7. Warum ich mich dennoch beschwere? Unzureichend differenzierende Forschung, pauschalisierende Berichterstattung und politische Instrumentalisierung im Bereich eines sprachwissenschaftlichen Themas, das mich interessiert, darf ich doch wohl kritisieren.
8. Moral ist hier völlig uninteressant. Ich interessiere mich für den Umgang mit Sprache. Meine Einstellung zu den "geschlechtergerechten" Formen hat übrigens rein gar nichts mit meiner Einstellung zu dem (völlig berechtigten) allgemeinen sozialpolitischen Projekt der Gleichstellung zu tun, in dessen Dienst diese gelenkte Sprachveränderung unnötigerweise glaubt sich stellen zu sollen. Oder anders: Wäre ich der Meinung, dass die kontextunabhängig flächendeckende Verwendung dieser Formen (wie in der neugefassten StVO) auch nur das Geringste mit Gleichstellung zu tun hat, würde ich mich gegen alle ästhetischen Bedenken zwingen, dafür zu sein.

Zitat von: Kilian in 2015-06-11, 20:18:58
aber da es in dieser Studie nicht um generische Maskulina geht, muss sie hier m.E. auch nicht unbedingt differenzieren.

Doch, es geht eindeutig um generische Maskulina vs. "geschlechtergerechte" Formen.

Zitat von: Kilian in 2015-06-11, 20:18:58
Verveckens Personenbezeichnungen sind, so weit ich das sehe, alle im Plural, was die generische Interpretation eher begünstigen als erschweren dürfte. Da gibt es doch nichts zu klagen, oder?

Leider habe ich die Studie selbst noch nicht sehen können, da der entsprechende Faszikel in unserer UB noch nicht online verfügbar ist. Aber der Sprachlog-Bericht zitiert ja die vier Fragen, die den Kindern gestellt wurden. Bei den ersten drei ist sicherlich in die Platzhalter-Lücke ein Singular einzusetzen, bei der vierten ein Plural.

Zitat von: Kilian in 2015-06-11, 20:18:58
Was man sicher sagen kann, ist, dass nur ,,geschlechtergerechte" Formen zuverlässig, unabhängig vom jeweiligen Beruf, vor einer Interpretation als rein männlich ,,schützen".

Wie Du weißt, bezweifle ich das stark. Mir fallen nach wie vor keine realitätsnahen Sätze mit generischen Maskulina ein, die in einem klar definierten Kontext in einem Gespräch unter sprachlich sensiblen, kooperativen Gesprächspartnern zu Missverständnissen führen könnten. Solange mir niemand überzeugende Beispiele präsentiert, halte ich das Eindeutigkeitsargument für einen Mythos. Ich selbst würde, gäbe es einmal Zweifel an der Eindeutigkeit, durchaus versuchen, das Gelingen der Kommunikation durch geschlechterexplizite Formen zu gewährleisten. Ich kann mich aber an keinen Fall erinnern, in dem das jemals nötig gewesen wäre. Interessantere Gründe für die Verwendung der "geschlechtergerechten" Formen hatten wir ja schon diskutiert ("seht her, ich mache mit bei diesem Spiel, und ich bin nett zu euch Frauen").

Zitat von: Kilian in 2015-06-11, 20:18:58
ZitatUnd das erklärte Ziel dieser Linguistik ist nun einmal die flächendeckende, kontextunabhängige Durchsetzung der "geschlechtergerechten" Formen und damit die Abschaffung des generischen Maskulinums selbst dort, wo es völlig unproblematisch ist.

Kannst du diese Behauptung auch belegen?

Wenn Du meinst, dass das nötig ist, gern: Als "feministischer Imperativ" gilt der Satz "Bezeichne nie eine Frau, einschliesslich dir selbst, mit einem grammatischen Maskulinum". Gefunden einfach über den Wikipedia-Artikel "Feministische Linguistik".

Zitat von: Kilian in 2015-06-11, 20:18:58
ZitatIn diesem Projekt ist Sprache nur ein Instrument und kein wissenschaftlicher Gegenstand: "Wir wollten untersuchen, ob man durch eine geschlechtergerechte Sprache die Wirkung des Geschlechtsstereotyps aushebeln kann" (Autor); "gesellschaftliche Wirklichkeit ändert sich eben (auch) über den Sprachgebrauch" (Sprachlog).

Wie kommst du auf ,,nur"? Auch Instrumente kann man wissenschaftlich untersuchen.

Zweifellos. Aber es ist ein Unterschied, ob man etwas im Hinblick auf einen möglichen Einsatz als Instrument in einem gesellschaftlichen Projekt untersucht oder um seiner Beschaffenheit selbst willen. Der Satz bezog sich auf die "feministische Linguistik", die weniger eine Wissenschaft im eigentlichen Sinne als ein sich mit einem wissenschaftlichen Deckmäntelchen behängender Teil des politisch-sozialen Projekts Feminismus ist. Ihr primäres Ziel ist es nicht, Sprache zu untersuchen, sondern sie zu ändern. Sprachdeskription dient damit lediglich der Vorbereitung der Erfüllung des feministischen Arbeitsauftrags. Sprache kann unter solchen Imperativen natürlich niemals Gegenstand vorurteilsfreier echt wissenschaftlicher Forschung sein. Dass eine solche sich als "intervenierend" verstehende "sozialwissenschaftliche Disziplin" (beides Wikipedia-Artikel) weder Bedarf noch Interesse an einer Differenzierung der ihr zugrundeliegenden Sprachdeskription hat, sondern lieber die immer gleichen Mythen hundertfach "empirisch" reproduziert und darauf hofft, dass die Sprache tatsächlich von immer mehr Menschen als "männlich dominiert" empfunden wird, wenn man es nur oft und laut genug behauptet, mag verständlich sein. Aber der in vielerlei Hinsicht gute Zweck heiligt m.E. nicht die wissenschaftlich unzulänglichen Mittel.

Zitat von: Kilian in 2015-06-11, 20:18:58
ZitatIch glaube nicht, dass eine Studie mit 6-12jährigen Kindern über dieses Wortmaterial wirklich ein Beleg für eine solche Kausalitätsumkehr sein kann.

Was für eine ,,Kausalitätsumkehr"?

Unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit prägt unser Vokabular, nicht umgekehrt.

Zitat von: Kilian in 2015-06-11, 20:18:58
??? Generisches Maskulinum ist unproblematisch, aber man sollte es erst ab 12? 16? 18? freigeben? 6-12-jährige Kinder sind doch Teil unserer Gesellschaft und Sprachgemeinschaft, du kannst doch das, was sie mit Sprache machen und was Sprache mit ihnen macht, nicht für irrelevant erklären?

Das  ??? gebe ich zurück. Was ist an meinem Satz unklar? Es ist nur einfach kein Wunder, dass Kinder noch nicht über genug sprachliche Erfahrung verfügen, um echtes von generischem Maskulinum sicher zu unterscheiden, und deshalb im Zweifel zum häufigeren, dem echten, tendieren. Wo hätte ich Kinder für irrelevant erklärt? Ich glaube nur nicht, dass man aus dieser an Kindern durchgeführten Studie verallgemeinernd folgern kann, dass die Welt mit Vokabeln zu ändern ist. Für die Durchsetzung einer solchen Theorie müsste auch erst einmal die m.E. sehr ernst zu nehmende Hypothese der Euphemismus-Tretmühle außer Kraft gesetzt werden.

Zitat von: Kilian in 2015-06-11, 20:18:58
ZitatIch bin völlig sicher, dass ein ähnlicher Test mit meinen Studenten keinen messbaren Effekt ergäbe – es sei denn, die Kenntnis des Diskurses selbst und der Wille, entsprechend zu antworten, um das Ergebnis in eine bestimmte Richtung zu steuern, ergäbe einen unerwünschten Rückkopplungseffekt.

Steile These.

Ach was, Erfahrung. Die Studenten sind intellektuell hinreichend regsam, die verstehen die Nuancen. Jahrzehntelanges komplett unfallfreies Sprechen mit dieser Personengruppe unter sehr fleißiger Verwendung des generischen Maskulinums macht mich da zuversichtlich.
#99
Zitat von: Kilian in 2015-06-10, 13:22:26
Inwiefern immer wieder gleich aufgebaut?

Irgendwelche Gruppen von Leuten werden mit isolierten Sätzen mit generischen Maskulina konfrontiert, die sicherheitshalber so gewählt werden, dass sie ohne neutralisierenden Kontext als leicht bis mindestens mittelschwer männlich markiert interpretiert werden können (deshalb gern Berufsbezeichnungen, wobei wohl nicht alle Studien so plump vorgehen wie diese, die gleich "Geschäftsmänner" und "Feuerwehrmänner" einbaut), sollen Fragen dazu beantworten, dann wird der unausweichlich eintretende statistische Effekt gemessen und festgestellt, dass die generischen Formen natürlich wahlweise geschlechterungerecht oder gar diskriminierend oder mindestens schlechter verständlich oder alles zusammen sind. Wie wäre es statt solcher erbsenzählerischer Trockenübungen mit sensibler Sprachbeobachtung in freier Wildbahn und kategorial präzisem Nachdenken darüber?

Zitat von: Kilian in 2015-06-10, 13:22:26Welche für das Thema der Studie relevanten Differenzierungen fehlen hier? Fehlen sie in der Studie oder in dem Bericht darüber?

Markierung, Kontextabhängigkeit, Numerus ... (s.o. unsere Diskussion). Die Gegenfrage genügt eigentlich schon: Was von all dem ist denn da?

Zitat von: Kilian in 2015-06-10, 13:22:26Welche Schlüsse genau meinst du, und inwiefern sind sie sträflich pauschalisierend?

Aus dem Bericht: "Soweit bestätigt das Experiment aus linguistischer Perspektive auf eine sehr interessante Weise den semantischen Effekt des generischen Maskulinums – dies wird offensichtlich als ,,männlich" interpretiert." Das muss ich nicht erläutern, warum das sträflich pauschalisierend ist, oder?

Zitat von: Kilian in 2015-06-10, 13:22:26Ich habe weder in der DGPS-Pressemitteilung noch in dem Sprachlog-Artikel eine allgemeine Verdammung des generischen Maskulinums gesehen. Worauf beziehst du dich?

Hier geht es mir um weniger um die (von Psychologen durchgeführte, linguistisch – den Berichten nach zu schließen – extrem holzschnittartige) Studie selbst als um die prompte Vereinnahmung von Seiten einer bestimmten Linguistik, der die das eigene Fach betreffenden Mängel gleichgültig sind, solange das Ergebnis in die richtige Richtung zu weisen scheint. Und das erklärte Ziel dieser Linguistik ist nun einmal die flächendeckende, kontextunabhängige Durchsetzung der "geschlechtergerechten" Formen und damit die Abschaffung des generischen Maskulinums selbst dort, wo es völlig unproblematisch ist. In diesem Projekt ist Sprache nur ein Instrument und kein wissenschaftlicher Gegenstand: "Wir wollten untersuchen, ob man durch eine geschlechtergerechte Sprache die Wirkung des Geschlechtsstereotyps aushebeln kann" (Autor); "gesellschaftliche Wirklichkeit ändert sich eben (auch) über den Sprachgebrauch" (Sprachlog). Ich glaube nicht, dass eine Studie mit 6-12jährigen Kindern über dieses Wortmaterial wirklich ein Beleg für eine solche Kausalitätsumkehr sein kann. Die Anwendung des generischen Maskulinums und das Verständnis für seine Möglichkeiten und Grenzen erfordern eine sprachliche Sensibilität, die in dem Alter einfach noch nicht vorhanden ist. Ich bin völlig sicher, dass ein ähnlicher Test mit meinen Studenten keinen messbaren Effekt ergäbe – es sei denn, die Kenntnis des Diskurses selbst und der Wille, entsprechend zu antworten, um das Ergebnis in eine bestimmte Richtung zu steuern, ergäbe einen unerwünschten Rückkopplungseffekt.
#100
Hier wird wieder – leider völlig unkritisch – über eine der immer wieder gleich aufgebauten Studien mit den immer wieder gleichen Beispielwortgruppen (hier: Berufsbezeichnungen) und den immer wieder von neuem fehlenden entscheidenden Differenzierungen berichtet, und es werden wieder dieselben erwartbaren, sträflich pauschalisierenden Schlüsse daraus gezogen. Das ist offenbar der traurige Stand der "Forschung" zu diesem Thema, die nicht wirklich etwas ermitteln will, sondern es a priori auf eine allgemeine Verdammung des generischen Maskulinums anlegt. Schade, ich glaube, manches von dem, was wir hier andiskutiert haben, könnte den Blick schärfen.
#101
Sprache / Re: Partizip Perfekt Aktiv
2015-06-03, 22:40:20
Zitat von: Wortklaux in 2015-06-03, 22:15:16
Mir fielen gerade noch die berittenen Polizisten ein, die ja eigentlich weder bereiten noch beritten werden. Wie ist dieses Partizip zu verstehen?

Sieht so aus, als sei dem Verb bereiten diejenige seiner Bedeutungen abhanden gekommen, die nun einzig noch im Partizip Perfekt fortlebt: Man findet netzens "mhd. berīten '(auf dem Pferd) reiten'". Wäre demnach richtig in diesem Faden.
#102
Sprache / Re: Partizip Perfekt Aktiv
2015-06-03, 21:53:40
@Wortklaux: Ja, da hast Du wohl Recht, "sich erinnern" ist nicht in einer vergleichbaren Weise reflexiv.

Aber "erklärter Gegner" ist wohl doch noch etwas anders zu analysieren als "mit allen Wassern gewaschen" oder "angezogen". Denn diese Partizipien sind einfach passivisch verwendet, wobei man ohne Kontext nicht wissen kann, ob sie durch Transformation aus einem "Gewaschen-Werden" bzw. "Angezogen-Werden" durch sich selbst oder durch andere entstanden sind [wie Kilian schon bemork, während ich dies schrieb]. Der "erklärte Gegner" ist aber kein "Gegner, der erklärt wurde", sondern bestenfalls "jemand, der zum Gegner erklärt wurde", und dann auf jeden Fall von sich selbst und nicht von anderen. Insofern ist m.E. die beste Erklärung die, dass es jemand ist, "der über sich selbst die Erklärung abgegeben hat, dass er Gegner ist". Das ist kein ganz so klarer Fall von Partizip Perfekt Aktiv wie "studierter Historiker", kommt aber in die Nähe.
#103
Sprache / Re: Partizip Perfekt Aktiv
2015-06-03, 20:40:22
"Reflexives Moment" ist aber keine mögliche Erklärung. Ein Mensch, der sich erinnert hat, ist kein "erinnerter Mensch", einer, der sich geäußert hat, kein "geäußerter Mensch" usw. Ob also einer "sich" als Gegner "erklärt" hat, ist unmaßgeblich. Entscheidend für die Einstufung als Partizip Perfekt Aktiv ist, dass er sich erklärt hat.
#104
Sprache / Re: Partizip Perfekt Aktiv
2015-06-03, 17:05:55
Noch eins:

"Er ist ein erklärter Gegner der Vorratsdatenspeicherung", nämlich weil er das selbst erklärt hat.
#105
Sprache / Re: Partizip Perfekt Aktiv
2015-06-03, 10:01:23
Zitat von: Wortklaux in 2015-06-03, 04:48:01
Aber diese Wörter alle haben weniger mit der ursprünglichen Frage zu tun, wo es doch um die Verwechslung von Dativ- und Akkusativobjekten ging.

Dieser hier ist ja auch ein anderer Faden als der dort.  ;)