Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:34:25Zitat von: Homer in 2015-06-12, 17:41:32
Der Plural ist im Deutschen im Prinzip morphologisch genuslos. Das merkt man immer dann, wenn kein Singular da ist, wie bei "Leute". (Das ist auch der entscheidende Grund für die geringere männliche Markiertheit von generischen Maskulina im Plural gegenüber dem Singular.) Man muss also, wenn man ein Genus im Plural ermitteln will, immer äußere Kriterien hinzuziehen aus anderen Teilen des Paradigmas (das ist im Normalfall der Singular), durch Rekurs auf sprachgeschichtliche Daten oder – wie in Deinem Fall – durch noch andere Versuche.
Es ist aber überlegenswert, ob man nicht, statt Pluralformen auf künstlichen Umwegen eine Kategorie "Genus" zuzuweisen, die morphologisch gar nicht nachweisbar ist, sagen sollte, dass der Plural im Deutschen grundsätzlich genusindifferent ist und diese Kategorie nur im Singular existiert. Das klingt kühner, als es wahrscheinlich ist. Ich meine mich zu erinnern, dass mein Sprachwissenschaftsprofessor in Göttingen diese Ansicht vertrat.
Ich sympathisiere auch damit, rein morphologisch bezeichnen manche den Plural als das ,,vierte Genus" des Deutschen. Semantisch sind die Anwälte oder die Fußpfleger m.E. freilich immer noch sexusmarkiert, wenn auch wahrscheinlich schwächer.
Ja. Was mich zögern lässt, voll und ganz auf diese Linie einzuschwenken, ist die offensichtlich stets lauernde Intuition, dass doch auch Wörter im Plural ein Genus haben müssen. Das bricht sich dann Bahn, wenn die Grammatik eine Entscheidung tatsächlich einfordert, wie in Partitivkonstruktionen. Einer der Anwälte geht, eine der Anwälte nicht (angenommen, es handelt sich im Kontext um eine bekanntermaßen gemischte Gruppe). Da strahlt der Singular ab, selbst wenn der Sexus der Anwaltsgruppe gemischt und das semantische Genus des Wortes neutral oder unermittelbar ist.
Ich würde mich, glaube ich, nur etwas anders ausdrücken als Du: Ich würde nicht sagen, dass die Anwälte und die Fußpfleger (in welchem Grade auch immer) sexusmarkiert sind, weil das nach einer konstanten Zuschreibung eines Grades von Markiertheit klingt. Ich glaube eher, dass kontextabhängig kognitive Abstufungen von Sexusmarkiertheit (da es sich um die Wörter, die signifiants, und nicht um die Personen, die signifiés, handelt, wäre übrigens "semantisches Genus" statt "Sexus" genauer) vorkommen, von tatsächlich unmarkiert – es stellt sich überhaupt kein "männlicher" Nebengedanke ein – bis zu stärkerer Markiertheit. Diese dynamische Vorstellung entspricht m.E. der Sprachwirklichkeit eher als das sehr holzschnittartige "Männer sind immer mitgemeint" der feministischen Linguistik. In dem Satz "Die Römer sprachen Latein" ist die Markierung offenbar in unverfänglichem, alltäglichem Zusammenhang komplett auf Null gestellt und wird erst durch sekundäre Sprachreflexion, also auf der Metaebene, aktiviert. In diesem Satz sind semantisch nicht Männer und Frauen mitgedacht, sondern weder Männer noch Frauen, auch wenn die Römer in der realen Welt Männer und Frauen waren. Spätestens seit Saussure, aber eigentlich schon seit Aristoteles weiß man, dass sprachliche Zeichen nicht Laute mit Gegenständen verknüpfen, sondern Lautvorstellungen mit psychischen Begriffsinhalten. Diese Begriffsinhalte unterliegen aber dem Prinzip der abstraktiven Relevanz (Ausdruck von Karl Bühler): Aus der nahezu unendlichen Fülle der möglichen realen Eigenschaften eines Gegenstands werden psychisch bei der Begriffsbildung nur diejenigen aktiviert, kraft deren das auszusprechende Wort in seine Funktion als "Zeichen für etwas" eintreten soll. (Niemand soll mir weismachen, dass er bei Römer immer das Merkmal Geschlecht mitdenkt; vielleicht seltener, aber oft genug gibt es sicher Kontexte, in denen bei Anwälte auch niemand Männer mitdenkt.) Das Verhältnis Gegenstand – Begriffsinhalt – Lautbild ist ständigen situativen Schwankungen unterworfen. Es ist vielleicht der entscheidende Grundfehler der feministischen Sprachwissenschaft (jedenfalls in der radikalen Form von Pusch usw.) überhaupt, hier lexikalisch stereotype Konstanz anzunehmen (ich würde eher sagen: zu postulieren), weil die sprachlichen Zeichen nicht zu Begriffsinhalten, sondern durch Kurzschluss direkt zu den Gegenständen/Personen der realen Welt mit der Fülle ihrer realen Eigenschaften in Beziehung gesetzt werden. Das hat noch Platon (ein hochgradig idealisierender und fundamentalistischer Kopf, mit dem sich Frau Pusch bestimmt bestens verstanden hätte*) im Kratylos so gemacht, aber schon sein Schüler Aristoteles, der große, geerdete Empiriker, hat ihm dafür eins übergebraten und das Saussuresche Modell einfach mal um mehr als 2000 Jahre vorweggenommen.
*Platons autoritärer, philosophisch als perfekt "gerecht" begründeter Idealstaat sieht übrigens exakt aus wie eine politische Vorlage für das, was die feministische Linguistik heute in der Sprache vorhat. Platons praktischer Versuch, seinen Modellstaat umzusetzen, ist bekanntlich krachend an der Wirklichkeit gescheitert. Gott sei Dank.