Dialekte

Begonnen von Ly, 2005-03-11, 16:21:51

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Ly

Kann mir bitte mal jemand mehr oder weniger verständlich machen, wo Dialekte herkommen? Ich meine, welchen Grund haben Menschen, anders zu sprechen als in der Standardsprache? Beim Plattdeutschen ist das ja noch durch die Lautverschiebungen zu erklären, aber sonst?
It isn't always how you look. Look at me. I'm handsome like anything, and I haven't got anybody to marry me yet.

amarillo

Zitat von: Ly in 2005-03-11, 16:21:51
Ich meine, welchen Grund haben Menschen, anders zu sprechen als in der Standardsprache?

Das hat m.E. keinen "Grund", das bringen die Umstände mit sich.
In diesem Fall wage ich zu behaupten, daß das Mysterium von Henne und Ei keines ist. Die Dialekte waren einfach schon vor der Standardsprache da.

Es ist - MrMagoo wird mich nötigenfalls korrigieren - eher die Frage zu stellen, warum die Menschen Standardsprache anstatt der Dialekte von sich zu geben bemohen sind (wahrscheinlich, damit man sich in größeren geographischen Einheiten und in größerem sozialen Umfeld mißverständnisfrei austauschen kann).

Das Leben strebt mit Urgewalt nach Entstehung und Musik.

MrMagoo

#2
Hallo Ly,

wie kann man das erklären...
Erstmal mit der Umkehrung Deiner Frage, Ly, es müßte heißen:
"Woher kommt die Standardsprache?!"

Die Dialekte sind eigentlich das "wahre" (wenn ich's hier mal so nennen darf) Sprachgut; die (deutsche) Standardsprache gibt's erst seit dem 16. Jahrhundert.

Gründe für eine Standardsprache liegen auf der Hand, einheitliche Sprache führt zu weniger Mißverständnissen v.a. bei Handel etc., doch davon ab:
Auch die Dialekte kommen von 'irgendwo' her, doch sind deren Unterschiede zueinander jeweils von bestimmten, auch regionalen Faktoren abhängig - die Dialekte sind entstanden wie die Sprachen, sie SIND die Sprachen!
(Über den Entstehungsgrund der Sprachen dürft ihr euch auslassen, wenn ihr wollt, führt zu viel Diskussionsstoff und wirft mehr Fragen auf, als Antworten gegeben werden können.)

Die Dialekte haben sich natürlich 'weiterentwickelt', was die Ursachen dieser ganzen Lautwandel sind, ist schwammig bis zum Gehtnichtmehr. Über die Gründe der 2. Lautverschiebung, die das Hochdeutsche, oder besser: die hochdeutschen Dialekte, aus allen anderen germanischen Dialekten ausgliedert, weiß man bis heute nichts - es gibt massig Theorien hierzu, doch keinerlei Beweise. Das einzige, was man weiß, ist, daß sie stattgefunden hat und zwar vor dem 7. Jahrhundert.

Die Standardsprache ist ein Konstrukt des 15./16. Jahrhunderts, hauptsächlich auf mitteldeutschen Dialekten aufbauend (--> Grund ist hier hauptsächlich die Kanzleisprache und die Bibelübersetzung Martin Luthers).
Man hätte auch einen plattdeutschen Dialekt zur Standardsprache machen können, dann würden wir heute niederdeutsche Dialekte und "(Standard-)Niederdeutsch" sprechen, aber vor allem schreiben.
Daß es das Hochdeutsche und nicht das Niederdeutsche geworden ist, hat u.a. machtpolitische Gründe: In Süddeutschland befanden sich die mächtigen und einflußreichen Königshäuser; in Norddeutschland ist mit dem Untergang der Hanse im 16. Jahrhundert auch der wirtschaftlichen Einfluß auf die Politik verschwunden. Das bedeutete vor allem erstmal das Ende der niederdeutschen Schiftsprache:
Seit dem 16. Jahrhundert wird auch in Norddeutschland (in offiziellen Schreiben, Briefen, Urkunden, etc.) Hochdeutsch geschrieben.

Noch etwas: Daß die süddeutschen Dialekte in sich noch viel unterschiedlicher sind als die norddeutschen hat den Grund, daß die süddeutschen Dialekte Dialekte des Hochdeutschen sind - und somit (vom Grundsatz her) näher an der Standardsprache stehen, als die im Norden (auf plattdeutschen Dialekten aufbauenden) Mundarten.

Das Standarddeutsche wurde und wird ja immer noch in den Schulen gelehrt - d.h. v.a. in den vorigen Jahrhunderten lernten die Menschen in Norddeutschland in der Schule eine neue Sprache: das Hochdeutsche.
Sprachen sie zu Hause auch ihre Muttersprache, die plattdeutschen Dialekte, in der Schule mußte Hochdeutsch geschrieben und gesprochen werden! Da dieses Hochdeutsch wie auch heute Fremdsprachen in der Schule aus Büchern gelehrt wurde, gab es weniger Dialektfärbungen in der Sprechweise der Norddeutschen als in Süddeutschland, wo man Hochdeutsch nicht extra lernen mußte, da man einen jeweiligen Dialekt desselben sowieso schon sprach.

Daher ist noch heute "das" (Standard-)Deutsch im Norden Deutschlands wesentlich einheitlicher als "das" (Standard-)Deutsch im Süden des Landes.
Wâ mag ich mich nu vinden? wâ mac ich mich nu suochen, wâ? nu bin ich hie und bin ouch dâ und enbin doch weder dâ noch hie. wer wart ouch sus verirret ie? wer wart ie sus zerteilet mê?
(Gottfried von Straßburg)

MrMagoo

Zitat von: amarillo in 2005-03-11, 16:31:37
Zitat von: Ly in 2005-03-11, 16:21:51
Ich meine, welchen Grund haben Menschen, anders zu sprechen als in der Standardsprache?

Das hat m.E. keinen "Grund", das bringen die Umstände mit sich.
In diesem Fall wage ich zu behaupten, daß das Mysterium von Henne und Ei keines ist. Die Dialekte waren einfach schon vor der Standardsprache da.

Es ist - MrMagoo wird mich nötigenfalls korrigieren - eher die Frage zu stellen, warum die Menschen Standardsprache anstatt der Dialekte von sich zu geben bemohen sind (wahrscheinlich, damit man sich in größeren geographischen Einheiten und in größerem sozialen Umfeld mißverständnisfrei austauschen kann).

So tät ich's auch sagen :)
War nur nicht so schnell mit Tippen wie Du ;)
Wâ mag ich mich nu vinden? wâ mac ich mich nu suochen, wâ? nu bin ich hie und bin ouch dâ und enbin doch weder dâ noch hie. wer wart ouch sus verirret ie? wer wart ie sus zerteilet mê?
(Gottfried von Straßburg)

gehabt gehabt

Ich wiederhole noch etwas, was ich in einem anderen FAden behaupet hatte: Warum sind die Dialekte dann noch nicht ausgestorben, wenns ene Standardsprache gibt? Nach meiner Hypothese diente der Dialekt zu einer Zeit, da es keinen Biometrischen Ausweis noch Fotos gab und die  meisten nicht schreiben konnten als Herkunftsmerkmal. Einen Dialekt kann man schwerer faelschen als eine Unterschrift und ein bayrischer Spion, der sich in Baden einnistet wird sofort erkannt.

amarillo

Andererseits muß gesugen werden, daß die Dialekte in der Tat - dem Himmel sei's geklogen - den Weg ins Aussterben bereits beschritten haben. Vielerorts ist man bemohen, die Pflege der heimischen Mundart zum Schulfach zu erheben.

Eine Schwester meiner Oma sprach ausschließlich Platt (Mölmsch), kein "Hochdeutsch"; bei Familientreffen war sie recht einsam. Die Generation meiner Eltern konnte sie zumindest noch verstehen. Heute spricht so gut wie niemand mehr diesen Dialekt, aber die Stadtväter Mülheims sind rührend bemüht, das Mölmsch wieder zum Programmpunkt der örtlichen VHS zu machen - recht erfolglos.

Nostalgie schein kein ausreichender Beweggrund für die Lebendighaltung einer Mundart zu sein.  
Das Leben strebt mit Urgewalt nach Entstehung und Musik.

Kilian

Zitat von: gehabt gehabt in 2005-03-12, 08:44:46Nach meiner Hypothese diente der Dialekt zu einer Zeit, da es keinen Biometrischen Ausweis noch Fotos gab und die  meisten nicht schreiben konnten als Herkunftsmerkmal. Einen Dialekt kann man schwerer faelschen als eine Unterschrift und ein bayrischer Spion, der sich in Baden einnistet wird sofort erkannt.

Eine originelle und gewagte Hypothese... wahrscheinlich spielte die Nichtexistenz von Autos, Flugzeugen, Eisenbahn und Fernsehen doch eine wichtigere Rolle als die von Ausweisen und Fotos.

gehabt gehabt

Zu Zeit der Voelkerwanderung war das Auslaenderproblem glaube ich wirklich eins und die Existenz eines Volkes konnte davon abhaengen ob es seine Identitaet bewahren oder aufgeben wollte. Eine Kommilitonin, die aus Siebenbuergen stammte, sagte mir, die Luxemburger spraechen fast den gleichen Dialekt wie bei ihr zuhause und das obwohl die Siebenbuerger wohl vor vielen Jahrhunderten ausgewandert sind. Dort hiess die Devise wohl : um jeden Preis die Identitaet bewahren auch im fremden Land. Bei kreolischen Sprachen ists gerade anders.

MrMagoo

Dialekt als Paßersatz?
Das hieße ja, daß die Dialekte mit der Einführung von Urkunden und Pässen ihre "Aufgabe" verloren hätten, diejenige nämlich, als Erkennungsmerkmal herzuhalten... Wie kommt man auf sowas? :)

Hmm... ein Seniorstudent meinte mal zu mir, daß er der Überzeugung sei, daß die Menschen damals (also vor ca. 1000 Jahren) bedeutend klüger gewesen sein müßten als heute, da sie ja beispielsweise noch viel komplexere Substantiv- und Verbalformen benutzten und somit mit einem viel komplexeren Sprachsystem zurechtkommen mußten... herrlich :)


Die Dialekte SIND im Sterben, die von amarillo und Kilian angegebenen Gründe tragen natürlich dazu bei.
Weiterhin gilt die Standardsprache als die der priviligierten - derjenige, der Dialekt spricht, gehört nicht zur 'Oberschicht', daher wird vornehmlich Standarddeutsch gesprochen. Tut man das nicht, ist man der "Trottel", denn durch die Etablierung der Standardsprache, die sich auf von der Gesellschaft abhängige Normen stützt und dadurch richtig und falsch unterscheidet, ist alles das, was nicht standardsprachlich ist, falsch! Und wer 'falsch' spricht, ist dumm, ein Trottel!
Das ist auch der Grund, warum Mundartliteratur oder Literatur über eine Mundart hauptsächlich (!) komische Literatur ist - das, was im Dialekt steht, klingt 'falsch' und damit dumm, denn wer nicht 'vernünftig' sprechen kann, ist dumm ... und über Dumme kann man noch immer am besten Lachen... .
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(Gottfried von Straßburg)

Arnymenos

Meine Familie stammt nicht aus dem Rheinland, wo wir leben. Teilweise aus den Ostgebieten vertrieben, teilweise aus nahezu dialektlosen Gegenden zusammengesetzt, wird bei uns seit jeher Hochdeutsch gesprochen. Meine Mutter versteht Rheinisches Platt, aber spricht es nie. Die Sprache gilt hier als rückständig, unangemessen für alles, was über Landwirtschaft, Kneipe, Karneval und Fußballverein hinausgeht. Aber dort ist die quicklebendig, leidet nur unter Wortschwund: Viele junge Sprecher kennen das spezifische Vokabular nicht mehr und entlehnen alles aus dem Hochdeutschen. Damit verkümmert der Dialekt zu einem sehr starken Akzent. Wäre das Rheinland unabhängig, mit Kölsch als Amtssprache, dann entwickelte es sich wohlmöglich vom Deutschen weg.

MrMagoo

Zitat von: Arnymenos in 2005-03-12, 18:06:38
Wäre das Rheinland unabhängig, mit Kölsch als Amtssprache, dann entwickelte es sich wohlmöglich vom Deutschen weg.


Das ist, was ich oben ansprach:
Wäre ein plattdeutscher Dialekt zur Standardsprache gemacht worden, dann würden wir heute niederdeutsche Dialekte und "(Standard-)Niederdeutsch" sprechen, aber vor allem: schreiben.

Passiert ist dies übrigens im Niederländischen, das von vielen Sprachwissenschaftlern als niederdeutscher Dialekt aufgefaßt wird; dieser hat sich von den westniederdeutschen Dialekten getrennt und wurde deswegen Standardsprache, weil die Niederlande ein unabhängiges Gebiet gewesen ist (noch immer ist).
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(Gottfried von Straßburg)

Ly

Zitat von: MrMagoo in 2005-03-12, 18:33:59
Zitat von: Arnymenos in 2005-03-12, 18:06:38
Wäre das Rheinland unabhängig, mit Kölsch als Amtssprache, dann entwickelte es sich wohlmöglich vom Deutschen weg.


Das ist, was ich oben ansprach:
Wäre ein plattdeutscher Dialekt zur Standardsprache gemacht worden, dann würden wir heute niederdeutsche Dialekte und "(Standard-)Niederdeutsch" sprechen, aber vor allem: schreiben.

Passiert ist dies übrigens im Niederländischen, das von vielen Sprachwissenschaftlern als niederdeutscher Dialekt aufgefaßt wird; dieser hat sich von den westniederdeutschen Dialekten getrennt und wurde deswegen Standardsprache, weil die Niederlande ein unabhängiges Gebiet gewesen ist (noch immer ist).

So sieht's aus, ich hatle das für nicht weiter vom Hochdeutschen entfernt als Platt...
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gehabt gehabt


Arnymenos

Das ist es schon jetzt.