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Begonnen von amarillo, 2006-09-07, 09:23:21

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Kilian

John Robert Ross hat in seiner berühmten Dissertation (1967) zuerst beschrieben, dass Koordinationsphrasen (hier zum Beispiel die aus zwei Verbalphrasen und der Konjunktion und zusammengesetzte Phrase den seit Wochen ignoriert und dem Vorstand somit die Planung erschwert) neben einigen anderen Typen von Phrasen Bewegungsinseln sind (siehe http://www.ling.upenn.edu/~beatrice/syntax-textbook/, Kapitel 11 und 12). Das heißt, dass es bei ihnen nicht möglich ist, eine Argumentstelle innerhalb der Phrase durch ein Relativpronomen zu füllen (z.B. den) und dieses dann, wie es einem Relativpronomen gebührt, einem Nebensatz, der die Bewegungsinsel enthält, voranzustellen (zu "bewegen" oder zu "extrahieren": in chomskyanischer Tradition stellt man sich Syntax als eine Abfolge von Bewegungen von Phrasen an andere Stellen vor; als Theorie ist das hochumstritten, aber als Metapher zuweilen sehr nützlich). Er beschrieb das fürs Englische, aber auch fürs Deutsche gilt das im Allgemeinen. Deswegen klingen die Beispiele komisch. Aber es scheint, dass der Inselstatus von Koordinationsphrasen in der deutschen Wirklichkeit hier und heute durchaus angefochten ist. Deswegen gibt es die Beispiele.

Inwieweit das schon näher untersucht ist, weiß ich nicht. Wenn man nach bewegungsinsel und koordination googelt, kriegt man was ganz anderes. Das Phänomen wäre auch im Zusammenhang mit verwandten Phänomenen wie Across-the-board-Extraktion zu sehen, eine Ausnahme von der Inselbeschränkung der Koordination, die auch bereits Ross für Beispiele wie das folgende formuliert hat, in denen – im Gegensatz zu Homers Beispielen – das Relativpronomen im zweiten koordinierten Satz dieselbe (semantische) Rolle spielt wie im ersten: Das ist der Mann, den [du liebst] und [ich hasse]. Eine weitere erwähnenswerte (scheinbare) Ausnahme von der Inselbeschränkung ist Pseudo-Koordination, die wir im Deutschen (eher) nicht haben. Ich verweise da mal auf die Wikipädie.

Homer

Vielen Dank! Immerhin ist das mal eine funktionierende Beschreibung, die ich erstaunlicherweise sogar verstehe und mir das Modell gefällt. ;) Die Gründe, warum solche Inseln überhaupt existieren bzw. in manchen Sprachen restriktiver behandelt werden als in anderen (Griechisch läßt das eine oder andere zu, was Ross als im Englischen verboten beschreibt), bleiben dabei freilich im dunkeln.
Im Deutschen wird der Inselstatus von Koordinationsphrasen wohl auch nicht allgemein angefochten, sondern nur in besonderen Fällen. Denn aus dem Satz
Ich bestelle Tiramisu und Espresso
könnte man wohl Tiramisu auf keinen Fall extrahieren:
*Das Tiramisu, das und Espresso ich bestelle.
Hingegen würde
Ich esse Tiramisu und trinke Espresso,
umgeformt in
?Das Tiramisu, das ich esse und Espresso trinke,
im Sinne meiner anderen Beispiele wohl mittlerweile von vielen Sprechern als grammatisch empfunden. Es scheint darauf anzukommen, was koordiniert wird: Zwei Prädikate sind offenbar besser als zwei Objekte. Nur: warum?

Wortklauber

Zitat von: Homer in 2012-02-01, 20:57:58
Die Verbendstellung auch des zweiten Teils zeigt, daß wir dort immer noch im Relativsatz sind.

Anders gesagt: Durch die Satzstellung werden die Satzteile verbonden (verbenden, verbond, verbönde, verbonden), daher heißt es "Verbendstellung".

Im übrigen ginge doch:
Das Tiramisu, das ich bestelle und Espresso.
Oder nicht? Kommt mir jedenfalls ebenso (un)logisch vor wie
Das Tiramisu, das ich esse und Espresso trinke.

Auch hier kommt es nur auf die richtige Verbendung der Sätze an.

Homer

Zitat von: Wortklauber in 2012-02-02, 18:30:41

Im übrigen ginge doch:
Das Tiramisu, das ich bestelle und Espresso.
Oder nicht? Kommt mir jedenfalls ebenso (un)logisch vor wie
Das Tiramisu, das ich esse und Espresso trinke.

Das ist wohl nicht im Sinne des Rossschen Modells, bei dem es auf den Erhalt der Stellung der nichtextrahierten Teile ankommt. Vor allem aber ist es gemogelt, denn es klingt nach:
Das Tiramisu, das ich bestelle, und Espresso (mit Komma!),
und dann ist die Koordination eine andere. Das wird klar, wenn man Artikel setzt, um den Objektcharakter von Espresso als abhängig von bestelle zu wahren:
Dies ist das Tiramisu, das ich bestelle und den Espresso.
Das scheint mir weiterhin (noch) ungrammatischer als die Sätze mit Prädikatskoordination.

Kilian

(1) dass ich [Tiramisu und Espresso] bestelle
Ein nicht relativer Verbletztsatz als Vergleich. Die koordinierte Nominalphrase ist Tiramisu und Espresso.

(2) *das Tiramisu, das ich [_ und Espresso] bestelle
Hier wurde das erste Konjunkt im Rahmen der Umformung zu einem Relativsatz extrahiert, d.h. an seiner normalen syntaktischen Position ist nichts mehr bzw. eine durch den Unterstrich markierte Lücke. Die Extraktion eines Konjunkts aus einer koordinierten Nominalphrase ist deutlich ungrammatisch (Verletzung einer Inselbeschränkung).

(3) *das Tiramisu, [das und Espresso] ich _ bestelle
Auch klar ungrammatisch, aber liegt auch das an der Verletzung einer Inselbeschränkung? Es wurde hier nichts aus einer koordinierten Phrase extrahiert, sondern die koordinierte Phrase selbst wurde extrahiert. Auch das scheint im Deutschen klar ungrammatisch zu sein. Von einer Inselbeschränkung könnte man dann sprechen, wenn man Inselbeschränkungen so streng fasst, dass nicht nur nichts aus der Insel, sondern auch die ganze Insel nicht extrahiert werden darf. Dagegen spricht aber, dass im Deutschen Präpositionalphrasen Inseln im schwächeren Sinne sind, also z.B. dieser Satz ungrammatisch ist:
(4) *das Tier, das ich mich [über _] gewundert habe
Während ganze Präpositionalphrasen durchaus extrahierbar sind:
(5) das Tier, [über das] ich mich _ gewundert habe
Im Englischen hinwiederum ist beides möglich:
(6) the animal that I was wondering [at _]
(7) the animal [at which] I was wondering _

(8) ?dass Tiramisu und Espresso ich bestelle
Ein Nebensatz mit einer merkwürdigen, aber durchaus möglichen Wortstellung, die insbesondere dann Sinn macht, wenn ich betont ist. Bilden wir daraus durch Extraktion des ersten Konjunkts den Relativsatz, erhalten wir eine andere Analyse von Homers Beispiel:
(9) *das Tiramisu, das [_ und Espresso] ich bestelle
Hier kann man wiederum klar von einer verletzten Inselbeschränkung sprechen.

(10) ?das Tiramisu, das ich _ bestelle und Espresso
Wortklaubers Beispiel: Kann man zweifelsohne grammatisch analysieren, wenn man das ganze zu einer koordinierten Nominalphrase erklärt, deren Konjunkte das Tiramisu, das ich bestelle und Espresso sind. Die Orthografie verlienge dann den Einfug eines Kommas hinter bestelle, und die Semantik vermielde, dass die Präsupposition oder Implikatur, dass die sprechende Person sowohl das Tiramisu als auch den Espresso bestellt, nicht, wie wahrscheinlich intendiert, gegeben ist. Gibt es eine Analyse, die diese Nachteile nicht hat? Ich denke, ja. Ich püke und Espresso in das Nachfeld des Verbletztsatzes (welche Bezeichnung dadurch konterkariert wird), eine syntaktische Position im Deutschen, in die man alles Mögliche packen kann, das man vorher vergessen hat oder mit gutem Grund verzögert, weil man die Hörer auf das Verb nicht zu lange wollte warten lassen. Am etabliertesten und auch im Schriftgebrauch gängig ist diese Extraposition ins Nachfeld bei Nebensätzen, zu-Infinitivgruppen, als/wie-Phrasen, Präpositionalphrasen und Appositionen. Aber es geht offensichtlich auch mit und gefolgt vom zweiten Konjunkt, hier ja auch:
(11) Ich hab den Hund gesehen und die Katze.
(10) klingt trotzdem etwas merkwürdiger, wenn so verstanden. Vielleicht ist dafür die klare Ungrammatikalität der Variante ohne Nachfeldextraposition (2) verantwortlich zu machen.

Zitat von: Homer in 2012-02-02, 02:05:48Es scheint darauf anzukommen, was koordiniert wird: Zwei Prädikate sind offenbar besser als zwei Objekte.

In der Tat.

ZitatNur: warum?

Vielleicht, weil Prädikate (der Begriff hat keine klare syntaktische Definition, so weit ich weiß – aber Verbalphrase weist das Problem auf, dass dieser Begriff fürs Deutsche möglicherweise ein bisschen zu starr ist) die "größeren" Einheiten bilden, die lockerer zusammenhängen und daher schmerzfreier zerrissen werden können? Ähnlich wie Summen in der gängigen mathematischen Schreibweise lockerer zusammenhängen als Produkte (Punkt vor Strich, 7 + 5 * 3 )...

Empirisch festzustellen und aufzulisten, welche Arten von Phrasen Inseln sind und welche nicht, hat natürlich auch Ross und seinen Nachfolgerinnen und Nachfolgern nicht genogen. Es wurde versucht, das mit allgemeineren Prinzipien zu begründen, indem man Inseln und Nichtinseln anhand irgendwelcher gemeinsamen Merkmale zu natürlichen Klassen zusammenzufassen suchte, siehe etwa Kapitel 12 des zuvor verlunkenen Lehrbuchs. Ein schwieriges Unterfangen anhand der fließenden und sehr kontextabhänigen Übergänge zwischen Grammatikalität und Ungrammatikalität, die wir hier bewundern können.

Wortklauber

Ich hatte eher so herum gedacht:

Ich esse Tiramisu und trinke Espresso.
das Tiramisu, das ich esse und Espresso trinke.

Ich bestelle Tiramisu und [bestelle] Espresso.
das Tiramisu, das ich bestelle und Espresso [bestelle].

Also ganz analog, einfach.

Berthold

#186
Zitat von: Kilian in 2012-02-02, 21:33:16
(...)
Ein nicht relativer Verbletztsatz als Vergleich.
(...)

Die grammatikalistische Analiese preise ich wegen ihrer tiefen Schörfe (von schürfen mit Anklang an Schärfe).
Das Verb verbletzen (Reim auf wetzen, aber durchaus auch auf schwätzen) aber hebe ich hervor. Hier ist es allerdings (noch) schwach.

Kleiner Abschwiff:
Da memüsse es doch auch (zumindest schprulch) ein Gegenteil des Prangers* (<-> anprangern) geben, wo jemand oder etwas, (statt (z.B.) "F. dich, du Dorfsau!") des lauten offchalnten Lobes wegen, hingnästoll wird. So wie das "Treppchen" bei sportlichen Siegern (etwa mit der - Formel 1 -, für unsere Ohren, allzu heruntergehustenen, von und nicht durch uns jedenfalls gestohlenen alten Pepi-Haydn-Hymne).
Der Lob(es)schwanger, Ruhm(es)schwanger etwa. Mein alter Freund Peregrinus Syntax bietet mit -schwanger 16 Komposita (etwa blitzschwanger).
Abprangern kekünne es, nachtlur, auch geben.

*Siehe den Schandkäfig zu Levoča/Leutschau:
http://www.weitwanderungen.de/Reisebericht-Slowak_Paradies.htm

amarillo

Warum nicht gleich: treppen (trippst) - trapp - träppe - tripp! - getroppen ?

Der 'Kicker' frord in aller Knäppe,
daß endlich man den Messi träppe.
Für große Kunst beim Elverstoppen
wurd' auch der Neuer noch getroppen.

Das Leben strebt mit Urgewalt nach Entstehung und Musik.

Kilian

Zitat von: Wortklauber in 2012-02-03, 04:30:28Ich bestelle Tiramisu und [bestelle] Espresso.

Also koordinorene Prädikate statt koordinorener Objekte. Stimmt, das wäre natchurl auch eine Erklur.

Kilian

Zitat von: Berthold in 2012-02-03, 14:13:35Das Verb verbletzen (Reim auf wetzen, aber durchaus auch auf schwätzen) aber hebe ich hervor. Hier ist es allerdings (noch) schwach.

Künftig also: ein Verblotzensatz.

Kilian

Zitat von: amarillo in 2012-02-03, 16:15:35Warum nicht gleich: treppen (trippst) - trapp - träppe - tripp! - getroppen ?

Klingt gut! Oder kennt jemand ein schön altmodisches Wort für so etwas wie "abstinken, unansehnlich sein"? Dann könnte man den gleichen Twist einbauen wie beim Pranger, denn prangen als Art des Auffälligseins, Hervorstechens und Glänzens ist ja eher positiv konnotoren.

Wortklauber

Ich möchte mal vorschlagen: fritzen
fritzen – fratz – gefrutzen, davon abgelitten die Fratze (das niert wie schlingen, schlang, geschlungen, die Schlange fungtio)
davon: der Fritzel (analog der Schlingel)
Also an den Fritzel stellen
anfritzeln, fraltz an, angefrultzen

Wortklauber

Derzeit wird wohl gerade die englische Königin angefrultzen, ob ihres 60-jährigen Thronjubiläums. Dazu las ich gerade:

Außer Queen Victoria ist Elizabeth II. erst die zweite Monarchin, die diese Jubiläumsmarke erreicht.

Versteht jemand die Logik dieses Satzes? Verstehen würde ich z.B.

Nach Queen Victoria ist Elizabeth II. die zweite Monarchin [in England, versteht sich], die diese Jubiläumsmarke erreicht.

oder

Außer Queen Victoria ist Elizabeth II. bisher die einzige Monarchin, die diese Jubiläumsmarke erreicht hat.

oder

Elizabeth II. ist erst die zweite Monarchin, die diese Jubiläumsmarke erreicht.

oder

Queen Victoria und Elizabeth II. sind die einzigen Monarchinnen, die diese Jubiläumsmarke erreicht haben.

Im übrigen bleibt bei der Formulierung wohl offen, ob es möglicherweise auch Männer gegeben hat, die ebenso lange auf dem englischen Thron waren.

Berthold

Zitat von: Wortklauber in 2012-02-03, 22:17:40
Ich möchte mal vorschlagen: fritzen
fritzen – fratz – gefrutzen, davon abgelitten die Fratze (das niert wie schlingen, schlang, geschlungen, die Schlange fungtio)
davon: der Fritzel (analog der Schlingel)
Also an den Fritzel stellen
anfritzeln, fraltz an, angefrultzen

Das ist bei denen Österreichers - als Gegensatz des Anprangerns - froychl unchmolg - stäke doch der "Olle Fritz" drinnen. Da kann der noch so aufgnäklor gowen(t)s sein. Was ich indes vom Franzseppen halten sesülle, wüßte ich nicht.

Wortklauber

Zitat von: Berthold in 2012-02-06, 11:06:14
Zitat von: Wortklauber in 2012-02-03, 22:17:40
Ich möchte mal vorschlagen: fritzen
fritzen – fratz – gefrutzen, davon abgelitten die Fratze (das niert wie schlingen, schlang, geschlungen, die Schlange fungtio)
davon: der Fritzel (analog der Schlingel)
Also an den Fritzel stellen
anfritzeln, fraltz an, angefrultzen

Das ist bei denen Österreichers - als Gegensatz des Anprangerns - froychl unchmolg - stäke doch der "Olle Fritz" drinnen. Da kann der noch so aufgnäklor gowen(t)s sein. Was ich indes vom Franzseppen halten sesülle, wüßte ich nicht.
Es ging doch Kilian gerade darum, einen Ausdruck für "abstinken, unansehnlich sein" zu verwursten — kann es da für einen Österreicher etwas Passenderes geben, als wenn der Alte Fritz seine Fratze zeigt?