Kein Pardon dem Beton

Begonnen von Ku, 2005-05-06, 20:21:01

Vorheriges Thema - Nächstes Thema

Agricola

Ich verstehe nicht, was diese Beispiele jetzt hier sollen. Paul Gerhard reimt doch absolut perfekt (abgesehen höchstens von "Tod" und "Spott", was ich aber gerne durchgehen lasse) und hat beim Betonwerk jedenfalls keine Schuld zu begleichen. Desgleichen Zwingli, dessen Verse (die ich noch nicht kannte) mir wegen der Reimverteilung (halt - bald, Ehr - wehr, Bitterkeit - scheid) zwar sehr originell erscheinen, aber ebenfalls keine Betonungsregeln verletzen. Bei Luther finden sich hingegen öfter Verse, die rein silbenzählend sind auf die Betonung keine Rücksicht nehmen, obwohl er es offensichtlich selbst auch besser konnte, wenn er nur wollte (siehe z.B. "Vom Himmel hoch da komm ich her", das in allen 15 Stophen keinen einzigen Betonungsverstoß in den Reimen und nur ganz vereinzelt innerhalb der Zeilen enthält).
The future lies in front of me,
but "lies" is all that I can see.

AmelieZapf

Hallo Agricola,

Zitat von: Agricola in 2006-07-04, 03:49:39
Ich verstehe nicht, was diese Beispiele jetzt hier sollen.

Das Lutherbeispiel ist das einzige falsch betongeorene, ja. Wie Du auch richtig erkannt hast, besticht Zwingli durch die Form und Paul Gerhardt durch seine schiere Sprachästhetik. Sozusagen ein Überblick über die Blüten, die das Gesangbuch treibt.

Konkret vielleicht eine Themaverfuhl, aber ein Faden, in den das alles paßt, fiel mir nicht ein.

Grüße,

Amy
Religion heute:
Ex oriente deus,
ex machina lux.

AmelieZapf

#92
Hallo zusammen,

nochmal Luther: EG 215:

Jesus Christus, unser Heiland,
der von uns den Gotteszorn wandt
durch das bitter Leiden sein
half er uns aus der Höllen Pein.

Die nette Betonschieflage wurde bereits angesprochen. Auch wenn man läse: "Jésus Chrístus, únser Héiland, / dér von úns den Gótteszórn wandt" wäre es schief, da sich nur die letzte unbetonene Silbe rieme, also kein wilber Kud entstände. Es ist aber auch ein eindrulckes Beispiel für Silben im Deutschen, die positione lang sind: durch die Vielzahl der Konsonanten nach dem "o" von "Zorn", wird die Silbe so verlurngen, daß nicht einmal der lange Diphthong in "Hei-(land)" es mit ihr aufnehmen kekünne.

Über den Satzbau breiten wir besser auch das Tuch des Vergessens: die dritte Zeile hat quasi Doppelfunktion und ist des ersten sowie zweiten Satzes Präpositionalobjekt -- deswegen sparte Luther resp. die Gesangbuch-Redaktion die Satzzeichen ganz ein.

Noch eine Strophe:

Die Frucht soll auch nicht ausbleiben:
deinen Nächsten sollst du lieben,
daß er dein genießen kann,
wie dein Gott hat an dir getan.

Grüße,

Amy

N.B., Kilian: verlängern - verlirngt - verlarng - verlärnge - verlirng! - verlurngen.
Religion heute:
Ex oriente deus,
ex machina lux.

amarillo

Hut, Mütze, Helm, Toupet und Turban
findest Du bei 'Fields' in Durban.
Das Leben strebt mit Urgewalt nach Entstehung und Musik.

amarillo

Im Gegensatz zu Herbert Wehner
war Gustav Heinemann Essener.
Das Leben strebt mit Urgewalt nach Entstehung und Musik.

amarillo

Erst laar Herr B. sein Becherchen
und womd sich dann den Recherchen.
Das Leben strebt mit Urgewalt nach Entstehung und Musik.

Agricola

#96
Zitat von: AmelieZapf in 2006-08-07, 09:56:06
Hallo zusammen,

nochmal Luther: EG 215:

Jesus Christus, unser Heiland,
der von uns den Gotteszorn wandt
durch das bitter Leiden sein
half er uns aus der Höllen Pein.

Die nette Betonschieflage wurde bereits angesprochen. Auch wenn man läse: "Jésus Chrístus, únser Héiland, / dér von úns den Gótteszórn wandt" wäre es schief, da sich nur die letzte unbetonene Silbe rieme, also kein wilber Kud entstände. Es ist aber auch ein eindrulckes Beispiel für Silben im Deutschen, die positione lang sind: durch die Vielzahl der Konsonanten nach dem "o" von "Zorn", wird die Silbe so verlurngen, daß nicht einmal der lange Diphthong in "Hei-(land)" es mit ihr aufnehmen kekünne.

Über den Satzbau breiten wir besser auch das Tuch des Vergessens: die dritte Zeile hat quasi Doppelfunktion und ist des ersten sowie zweiten Satzes Präpositionalobjekt -- deswegen sparte Luther resp. die Gesangbuch-Redaktion die Satzzeichen ganz ein.

Noch eine Strophe:

Die Frucht soll auch nicht ausbleiben:
deinen Nächsten sollst du lieben,
daß er dein genießen kann,
wie dein Gott hat an dir getan.

Grüße,

Amy

N.B., Kilian: verlängern - verlirngt - verlarng - verlärnge - verlirng! - verlurngen.
Das Lied ist allerdings auch ein gutes Beispiel dafür, wie sich Gedichtmetrik und Liedmetrik voneinander unterscheiden können. Wenn man die Verse liest, gerät man laufend ins Stocken, wenn man sie hingegen singt, sitzen die Betonungen mit ganz wenigen Ausnahmen in allen Strophen wie angegossen. Was vor allem beim Lesen Schwierigkeiten macht, ist die Betonungsverteilung in der letzten Zeile. Während nämlich die ersten drei Zeilen trochäisch verlaufen (der männliche Reim in den ersten beiden ersten Zeilen ist eine Ausnahme der ersten Strophe, die meisten anderen Strophen reimen weiblich), besteht die letzte Zeile aus zwei Anapästen und einem Iambus, wie die Aufstellung aller letzten Zeilen eindeutig zeigt:

half er úns aus der Höllenpéin
und zu trínken sein Blút im Wéin
für das Lében den Tód empfäht
in den Tód sein Sohn gében hát (?)
und vor Ángst ist betrübet séhr
dass du nícht kriegest bösen Lóhn (?)
sein Kunst wírd an ihm gár ein Spótt (?)
so du sélber dir hélfen wíllt
und die Spéise dein Séel erquíckt
wie dein Gótt hat an dír getán

Na gut, in den mit Fragezeichen gekennzeichneten Zeilen etwas weniger ...

Es handelt es sich hierbei eben nicht um eine freie Dichtung, sondern um die Neutextierung eines lateinischen Hymnus ("Jesus Christus nostra salus", hat jemand den Originaltext greifbar?). Luther hat nicht an die Logik der Dichtung als solcher gedacht, sondern daran, dass die Sprache beim Singen auf eben diese Melodie ausdrucksvoll zur Geltung kommt. Das ist ihm ausgesprochen gut gelungen, man denke nur an das Melisma auf "zorn" in der ersten Strophe.
The future lies in front of me,
but "lies" is all that I can see.

Agricola

Betonkunst ist gefährlich
leicht wirkt sie nälm lächerlich.
The future lies in front of me,
but "lies" is all that I can see.

katakura

... wohl wahr, agricola, jedoch:

auch mancher sänger kennt kein pardon
und verfehlt stets den richt'gen ton.

... huhaha, schön falsch geriemen und blöd zu betonen :D
Toleranz ist vor allem die Erkenntnis, dass es keinen Sinn hat, sich aufzuregen. (Helmut Qualtinger)

Agricola

Zitat von: katakura in 2006-08-07, 15:14:06
... wohl wahr, agricola, jedoch:

auch mancher sänger kennt kein pardon
und verfehlt stets den richt'gen ton.

... huhaha, schön falsch geriemen und blöd zu betonen :D
Ein sächsischer Sänger drifft schon ein bardöne
in Mozardens Arien aus Idomene
The future lies in front of me,
but "lies" is all that I can see.

katakura

#100
Zitat von: Agricola in 2006-08-07, 15:23:04
Ein sächsischer Sänger drifft schon ein bar Döne
in Mozardens Arien aus Idomene

und säng' statt bass er bariton,
kläng' besser, ach, so mancher ton!
Toleranz ist vor allem die Erkenntnis, dass es keinen Sinn hat, sich aufzuregen. (Helmut Qualtinger)

Agricola

Mozart, betreffend die Töne,
(besonders auch im Idomene)
wünschte nicht nur getroffene
sondern vor allem auch schöne.
The future lies in front of me,
but "lies" is all that I can see.

katakura

#102
... ein happy end im betonstil:

zum glück verschonet poseidon
idamante, des herrschers sohn.

die kron' gibt ab gar heilefroh
der alte könig idomeneo.

ilia wird nun königin,
der vorhang fällt - aus, ende, fin!
Toleranz ist vor allem die Erkenntnis, dass es keinen Sinn hat, sich aufzuregen. (Helmut Qualtinger)

Agricola

Und Idamante begrüßt (fast krepierend)
das für die Hörer gewohnte Happy End.
The future lies in front of me,
but "lies" is all that I can see.

katakura

#104
Zitat von: Agricola in 2006-08-07, 16:09:18
Und Idamante begrüßt (fast krepierend)
das für die Hörer gewohnte Happy End.

片倉 --> öre krep beinahe an diesem reim ;)
Toleranz ist vor allem die Erkenntnis, dass es keinen Sinn hat, sich aufzuregen. (Helmut Qualtinger)