von wegen präterito-präsentien

Begonnen von caru, 2005-05-14, 17:16:00

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caru

manche dieser formen, wie "kinnen" und "sell", sind in österreichischen dialekten zu finden.

kärntnerisch:

"mir kinnan nohh ned onfongan, da schef is nohh ned do!"

oder tirolerisch:

"was se(ö)ll dann des sein?"


allerdings dann auch mit falschen ableitungen, wie PPP "gekinnt" und "sell" für die 3. person singular.
(\___/)
(>´x´<)
('.')__('.')

Nijntje - de echte nederlandse konijn

MrMagoo

#1
In diesem Fall sind das mundartliche Nebenformen.

Wie sieht's mit der 1. und 3. Person Singular aus - heißt es
"ich kinne" und "er kinnt" oder "ich/er kinn"?

Wenn die Personalendungen -e und -t fehlen, sind's auf jeden Fall immer noch Präterito-Präsentien.

Wâ mag ich mich nu vinden? wâ mac ich mich nu suochen, wâ? nu bin ich hie und bin ouch dâ und enbin doch weder dâ noch hie. wer wart ouch sus verirret ie? wer wart ie sus zerteilet mê?
(Gottfried von Straßburg)

caru

Zitat von: MrMagoo in 2005-05-15, 19:09:11

Wie sieht's mit der 1. und 3. Person Singular aus - heißt es
"ich kinne" und "er kinnt" oder "ich/er kinn"?



ich fürchte, es gibt die formen mit -i- nicht für alle personen. ich kenne (sic!) jedenfalls nur "i/er konn/kunn".
(\___/)
(>´x´<)
('.')__('.')

Nijntje - de echte nederlandse konijn

MrMagoo

Zitat von: caru in 2005-05-15, 21:10:28
Zitat von: MrMagoo in 2005-05-15, 19:09:11

Wie sieht's mit der 1. und 3. Person Singular aus - heißt es
"ich kinne" und "er kinnt" oder "ich/er kinn"?



ich fürchte, es gibt die formen mit -i- nicht für alle personen. ich kenne (sic!) jedenfalls nur "i/er konn/kunn".

Aber die Personalendungen -e und -t, die eigentlich typisch für das Präsens sind, fehlen - demnach sind es also noch immer Präterito-Präsentien.

Vokale sind im allgemeinen wandlungsfreudiger als Konsonanten, daher kann es eine Masse an Nebenformen geben, ohne daß sich grundsätzlich etwas an der Ursprungsform ändert.

Der Wechsel von ö und e ist zum Beispiel sehr häufig in bestimmten Mundarten:
zwölf - zwelf, Löffel - Leffel, usw.

Ein anderer sehr häufiger Wechsel ist der von i und ü, z.B. in:
Hilfe - Hülfe, Stift - Stüft, es wird - es würd, usf.

Das sind alles mundartliche Erscheinungen, die neben den Standardformen stehen. Außer durch den Vokalwechsel (normalerweise zwei sehr ähnlich klingende Vokale) unterscheiden sich diese Formen strukturmäßig nicht voneinander.
Wâ mag ich mich nu vinden? wâ mac ich mich nu suochen, wâ? nu bin ich hie und bin ouch dâ und enbin doch weder dâ noch hie. wer wart ouch sus verirret ie? wer wart ie sus zerteilet mê?
(Gottfried von Straßburg)

Kilian

Auch die 3. Person Singular Indikativ Präsens brauch (z.B. "Er brauch das...", also ohne das standardsprachlich erforderliche Dentalsuffix) scheint mir recht häufig zu sein. Macht brauchen womöglich begünstigt durch seine zweite Karriere als Modalverb (besonders deutlich, wenn es mit reinem Infinitiv, ohne zu gebraucht wird), eine "partielle Präteritopräsentierung" durch? Das können wir besser, also weniger partiell. Exzerpieren wir das einmal durch:

Infinitiv: bräuchen
Indikativ Präsens: ich brauch, du brauchst, er/sie/es brauch, wir bräuchen, ihr bräucht, sie bräuchen
Präteritum: ich brauchte, du brauchtest, er/sie/es brauchte, wir brauchten, ihr brauchtet, sie brauchten
Imperativ: bräuche!
Partizip II bei Verwendung als Vollverb: gebraucht, z.B. ich habe Wasser gebraucht
Partizip II bei Verwendung als Modalverb: bräuchen, z.B. ich hab das nicht lesen bräuchen

Auf die Idee kam ich durch den Vortrag Syntaktische Variation in neuen Medien von Georg Albert.

F. Rage

Zitat von: Kilian in 2011-02-05, 18:37:09
Auch die 3. Person Singular Indikativ Präsens brauch (z.B. "Er brauch das...", also ohne das standardsprachlich erforderliche Dentalsuffix) scheint mir recht häufig zu sein.

Handelt es sich hier nicht nur schlichtweg um eine Form der Assimilierung, d.h. wird das "t" nicht bloß um der Sprachflüssigkeit willen dem "d" des Artikels angeglichen? Und: Wie verbritten ist dieses Phänomen denn? Molgerweise ist es sehr stark regional begrenzt. Das gleich zu allvergemeinern, hmmmppp ...

J. Argon

Das "t" brauch nich unbeding nur vor "d" wegßufallen, finnich.

R. Echtgeber


Kilian

Zitat von: F. Rage in 2011-02-07, 11:09:25
Zitat von: Kilian in 2011-02-05, 18:37:09
Auch die 3. Person Singular Indikativ Präsens brauch (z.B. "Er brauch das...", also ohne das standardsprachlich erforderliche Dentalsuffix) scheint mir recht häufig zu sein.

Handelt es sich hier nicht nur schlichtweg um eine Form der Assimilierung, d.h. wird das "t" nicht bloß um der Sprachflüssigkeit willen dem "d" des Artikels angeglichen?

Das dachte ich auch. Aber dann ist mir aufgefallen, dass brauch auch in anderen phonologischen Kontexten für mich viel geläufiger klingt als z.B. mach: Klingt Er brauch also nich da zu sein nicht viel besser als Er mach also keine Anstalten?

ZitatUnd: Wie verbritten ist dieses Phänomen denn? Molgerweise ist es sehr stark regional begrenzt. Das gleich zu allvergemeinern, hmmmppp ...

Ich habe mich mein Leben lang zumeist in Rhein- und Schwabenland aufgehalten, daher klingt's mir im Ohr. Was sagen Bewohner dieser und anderer Dialekträume?

amarillo

Bei uns anne Ruhr
kommt bei 'brauch' kein 't' vur!

Aber wir haben ja auch keinen Dia- sondern einen Regio- oder meinzwegen auch Soziolekt.
Das Leben strebt mit Urgewalt nach Entstehung und Musik.

Kilian

#10
Ja, ich habe Dialekte geschrieben, mien aber einxlich Regiolekte.

Homer

Auch einen alten Niedersachsen brauch man nich lange von brauch überzeugen. Und die Präterito-Präsens-Theorie dazu leuchtet mir völlig ein. Dr. Google bietet zudem sagenhafte 165.000 Treffer für "er brauch", und dann gippes noch das hier (unten auf der Seite im Haupttext).

Kilian

Zitat von: Homer in 2011-02-07, 22:26:16Dr. Google bietet zudem sagenhafte 165.000 Treffer für "er brauch"

Vor allem ist das im Verhältnis zu den 2.630.000 er braucht bedeutend mehr als z.B. die 57.900 er mach im Verhältnis zu den 6.450.000 er macht.

Zitatund dann gippes noch das hier (unten auf der Seite im Haupttext).

Herrlich! Heißen Dank für diesen Fund! Ich find auch den ganzen restlichen Absatz äußerst spannend.

Starck, V. & Erben

Zitat von: Kilian in 2011-02-05, 18:37:09
Auch die 3. Person Singular Indikativ Präsens brauch (z.B. "Er brauch das...", also ohne das standardsprachlich erforderliche Dentalsuffix) scheint mir recht häufig zu sein. Macht brauchen womöglich begünstigt durch seine zweite Karriere als Modalverb (besonders deutlich, wenn es mit reinem Infinitiv, ohne zu gebraucht wird), eine "partielle Präteritopräsentierung" durch? Das können wir besser, also weniger partiell. Exzerpieren wir das einmal durch:

Infinitiv: bräuchen
Indikativ Präsens: ich brauch, du brauchst, er/sie/es brauch, wir bräuchen, ihr bräucht, sie bräuchen
Präteritum: ich brauchte, du brauchtest, er/sie/es brauchte, wir brauchten, ihr brauchtet, sie brauchten
Imperativ: bräuche!
Partizip II bei Verwendung als Vollverb: gebraucht, z.B. ich habe Wasser gebraucht
Partizip II bei Verwendung als Modalverb: bräuchen, z.B. ich hab das nicht lesen bräuchen

Auf die Idee kam ich durch den Vortrag Syntaktische Variation in neuen Medien von Georg Albert.
Ich schlüge für das Präteritum dann aber eine reduplik georene Form vor:
bebroch, bebrochst ...