Blöde Redewendungen

Begonnen von katakura, 2006-11-16, 13:20:16

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katakura

Zitat von: Kilian in 2006-11-16, 16:21:29
Aus Katakura-Kilian-Korrespondenz:

Zitat> "zwischen den jahren" (was für ein blöder ausdruck!!! :-)

ich habe es neulich so formuliert: "Weihnachten hat in unserer
Gesellschaft einen so hohen Alles-darauf-zulauf-Faktor, dass das Jahr
danach praktisch zuende erscheint." :-)

*lach* du warst tatsalch der stichwortgeber dafür, kilian, aber das war freichl nicht böse gemienen ...

@ agricola: naaa, mir ist schon auch klar, was du damit meinst :D ... es ging mir doch einfach nur um die begrifflichkeit an sich, die eigelnt unsinnig ist, wenn man sie genau nimmt (eben wie "ein kind seiner zeit sein", was naturl schon auch etwas gar nicht so blödsinniges meint - nur eben, wenn man es in bester eulenspiegelscher tradition worlt nimmt) ...
Toleranz ist vor allem die Erkenntnis, dass es keinen Sinn hat, sich aufzuregen. (Helmut Qualtinger)

amarillo

Also in einem Punkt muß ich katakuran beipflichten, der Spruch 'er war ein Kind seiner Zeit' klingt auf's erste Hören reichlich dämlich. Andererseits steht er ja für weiterführende Inhalte, nämlich daß da jemand ein sehr typischer Vertreter seiner Epoche war, daß er viele Klischees der Zeit auf sich verienog etc. Vor diesem Hintergrund kann ich die Wendung ganz gut ertragen.
Wenn wir nun die Syphilisarbeit unternähmen, die ganze deutsche Idiomatik auf Zeitgemaß, Verstalnd, Plätte usw. abzuklopfen, bliebe garantoren nix mehr übrig. 'Zwischen den Jahren' steht m.E. für nichts anderes als für die Woche zwischen Weihnachten und Silvester/Neujahr, ist als Bild doch ganz schön. Weiß doch ohnehin jeder Bananenbieger, daß es keinen Leerraum zwischen zwei Jahren gibt.
Ein Schäfchen ins trockene bringen; eine Gelegenheit beim Schopfe packen; das Kind mit dem Bade ausschütten.... alles im Grunde abgegriffen, aber als Bilder nur schwer zu ersetzen.

amarillo seine Meinung :D
Das Leben strebt mit Urgewalt nach Entstehung und Musik.

Agricola

Mir macht es ja auch manchmal Spaß, Sachen übergenau zu nehmen (und ich bringe damit insbesondere öfter mal Leute zur Weißglut, die nichts dafür können, dass sie in meiner Nähe leben), aber oft entspricht diese Übergenauigkeit einer primitiven Weltsicht.

"Bitte notieren Sie sich den Zeitpunkt, zu dem Sie die den Glockenton hören!" "Unmöglich. Ein Ton kann sich nur in einem Zeitraum entfalten, also kann er nicht zu einem Zeitpunkt gehört werden."

Mathematisch richtig, psychologisch ganz falsch. Natürlich sehe ich auch den Punkt am Schluss des Satzes, obwohl man einen Punkt (ohne jede Ausdehnung, sonst wäre es kein Punkt) gar nicht sehen können darf. Ein psychologischer Punkt ist eben etwas anderes als ein mathematischer Punkt, und wenn wir von Punkten reden, meinen wir eben in den seltensten Fällen mathematische Punkte. Es ist äußerst interessant, darüber nachzudenken, was ein Punkt eigentlich wirklich ist, also nicht der mathematische, sondern der, den wir meinen, wenn wir von einem Punkt sprechen. Warum können wir zwischen kleinen und großen Punkten unterscheiden und empfinden dennoch den Punkt nicht als eine Fläche? Warum hören wir den Glockenton zu einem bestimmten Zeitpunkt, aber das Lied "Hänschen klein" eher in einer Zeitspanne?

Gerade logisch schwer auflösbare Metaphern beschreiben oft mehr von der Realität als unsere genau definierten Fachwörter. Die "Zeit zwischen den Jahren" ist ein guten Beispiel. Wir lernen mehr, glaube ich, wenn wir versuchen, nicht nur die Widersprüchlichkeit, sondern auch den Gehalt einer solchen Metapher zu erfassen und uns nicht voreilig lustig darüber machen.
The future lies in front of me,
but "lies" is all that I can see.

katakura

#18
Zitat von: amarillo in 2006-11-16, 16:46:13
Wenn wir nun die Syphilisarbeit unternähmen, die ganze deutsche Idiomatik auf Zeitgemaß, Verstalnd, Plätte usw. abzuklopfen, bliebe garantoren nix mehr übrig.

... naaaa, so habe ich das ja auch gar nicht beabsichtogen mit diesem faden :( ... ich möchte weder o.g. syphilisarbeit unternehmen, noch mich "voreilig über metaphern lustig machen", wie agricola unterstellt ... es geht einzig und allein darum, sich - eben in bester eulenspiegelscher tradition und zum puren vergnügen - diese und ähln wendungen genauer anzuschauen, die schon e weng seltsam sind ...

Zitat von: Agricola in 2006-11-16, 16:49:21
Wir lernen mehr, glaube ich, wenn wir versuchen, nicht nur die Widersprüchlichkeit, sondern auch den Gehalt einer solchen Metapher zu erfassen und uns nicht voreilig lustig darüber machen.

... das ganze aber gleich so biererst zu nehmen und mit dem erhobenen zeigefinger zu wedeln, finde ich echt bissle seltsam ::) ... und dies vor allem aus dem munde desjenigen, der gestern noch so vehement eine lanze fürs reine blödeln und unsinnverzapfen brach! ...

... der wahre sinngehalt dieser wendungen ist sichelr jedem klar und bedarf ausgerechnet hier keiner erklur ... und wem es nicht klar ist, der isset selber schuld ...
Toleranz ist vor allem die Erkenntnis, dass es keinen Sinn hat, sich aufzuregen. (Helmut Qualtinger)

Agricola

Im Ernst: Wenn es mir absolut klar wäre, schriebe ich wahrscheinlich nicht darüber.
The future lies in front of me,
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katakura

#20
Zitat von: Agricola in 2006-11-16, 17:27:10
Im Ernst: Wenn es mir absolut klar wäre, schriebe ich wahrscheinlich nicht darüber.

... uh-oh, ich hab's beforchten :o ... (nicht bös' gemienen ;))
Toleranz ist vor allem die Erkenntnis, dass es keinen Sinn hat, sich aufzuregen. (Helmut Qualtinger)

VerbOrg

Bevor ich die Ergebnisse meiner Nachfürsche beim Antiquar meines Vertrauens bezülg des guten Rutsches hier einstelle, will ich Euch erst mal Hals- und Beinbruch bei Eurer Syphilisarbeit wünschen.

Zurückverfolgen lässt sich diese Redensart auf

Hebräisch (nach Transkription des Altbuchhändlers): ha-tslaha u-bracha
Jiddisch (laut Antiquarsschreibung): hasloche u broche

Also nicht, dass Ihr Euch die Knochen zerbrecht, sonden "Glück und Segen".


So, und jetzt zum "Guten Rutsch".

Den hat der gute Antiquar nicht bis ins Hebräische, sondern nur bis ins Jiddische zurückverfulgen. Dort heißt "Rosh ha-shanah" so viel wie Neujahr (wörtl: "Kopf des Jahres") Mit den Wunsch "Giten Rosh" wünscht man also keineswegs ein Schlittern, sondern ein frohes neues Jahr (allerdings im September und nicht zum 1. Januar).

caru

da hat er recht, der herr antiquar...

verhunztes jiddisch via rotwelsch ins umgangsdeutsch.
(\___/)
(>´x´<)
('.')__('.')

Nijntje - de echte nederlandse konijn

Agricola

Wenn man das weiß, dann ist "guten Rutsch" ja ein witziger Ausdruck, wie VerbOrg sug, sozusagen ein historisches Wumbaba. Weiß man es nicht (wie ich bis gestern), ist es eben nur eine blöde Redewendung. Im Gegensatz dazu habe ich den Ausdruck "zwischen den Jahren" immer als eine ganz nette Redewendung empfunden, weil sie eben - sobald man über sie anfängt nachzudenken - augenzwinkernd eine Erkenntnis über unsere Lebensweise vermittelt.
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katakura

#24
Zitat von: VerbOrg in 2006-11-16, 19:33:10
So, und jetzt zum "Guten Rutsch".

Den hat der gute Antiquar nicht bis ins Hebräische, sondern nur bis ins Jiddische zurückverfulgen. Dort heißt "Rosh ha-shanah" so viel wie Neujahr (wörtl: "Kopf des Jahres") Mit den Wunsch "Giten Rosh" wünscht man also keineswegs ein Schlittern, sondern ein frohes neues Jahr (allerdings im September und nicht zum 1. Januar).


... hier wird aber auch anderes angefohren, was die obige these nicht erhärtet, sondern eher zweifelhaft erscheinen läßt:

Ob dieser Ausdruck tatsächlich aus dem Jiddischen stammt, ist allerdings umstritten, da es weder im Hebräischen noch im Jiddischen eine Grußformel gibt, die dieses "Rosch" beinhaltet (etwa "Guten Rosch ha-Schana" o.ä.); die gängige Formel lautet: "Schana tova" (=Hebr.) oder "a gut yor" (=Jidd.).

Andere Auffassungen (Lutz Röhrich im Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten; Heinz Küpper im Wörterbuch der Alltagssprache) leiten den Silvesterwunsch vom Gebrauch des Wortes ,,Rutsch" für ,,Reise" ab.


Toleranz ist vor allem die Erkenntnis, dass es keinen Sinn hat, sich aufzuregen. (Helmut Qualtinger)

VerbOrg

Laut Aussage meines Antiquars spart man sich einfach nur das Anhängsel "ha-shanah" (des Jahres). Die Formel heißt also "Guten Kopf", womit eben dieser Kopf des Jahres gemienen ist.

caru

klar, das fest heißt rosh-ha-shana, aber "giten rosch" sagt dennoch kein mensch, sondern auf gut hebräisch shana tová... und auf jiddisch a git jor.


darum fasle ich ja vom rotwelschen. die deutsche gaunersprache hat jiddische bzw. hebräische wörter übernommen und benutzt sie anders als das jiddische. zum teil vollkommen anders.


z. b. hebr. elyón "der höchste" + yo'éz "rat" kontrahiert --> *eljetz, eingedeutscht --> ölgötze,

weil so ein hof- oder sonstiger oberrat eben nix zu tun hat als rumzusitzen wie ein solcher.
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VerbOrg

Ich frug söben noch mal bei meinem Antikvar nach.

Es mien, dass im Jiddischen der Wunsch "giten rosh" im Mittelalter und wohl auch zumindest bis zum 18. Jahrhundert noch gebräuchlich war und wahrscheinlich später verdrongen ward.

Dass er auch den Weg ins Rotwelsche gefunden hat, ist sehr wahrschiln.


@katakura
Die Anführungen des Röhrich (ausführlich sind sie ja nicht gerade zu nennen) sind in diesem Fall wohl eher auf Etymogelei gegronden, da man eine Erklärung dafür sooch, warum man denn ins neue Jahr rutschen solle.

caru

daher auch einer meiner kollegen auf "guten rutsch" alljahrl erwidert "ich rutsch' nicht".

dein antiquar spricht mittelarltes jiddisch? wau. mir ist ja nur das zeitgenössische gelulf, und das der neueren literatur (scholem alejchem etc.)... und das, was man so in alten jiddischen filmen hört.
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katakura

#29
... wo wir uns eh grad am jahreswechsel festgebissen haben:

... komisch ist auch der oft geurßene wunsch "ein gesundes, neues jahr!" ... denn das jahr selbst kann ja schwelr gesund oder krank sein/werden :D

@agricola: jaja, ich weiß - auch hier ist der tiefere sinn naturl ein anderer, aber seltsam ist es beim genauen hinschauen dennoch, oder? :D
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