Partizip Futur (Aktiv und Passiv) sowie Gerundivum

Begonnen von Kilian, 2012-06-09, 13:17:28

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Kilian

Wir hatten es ja schon mal davon, dass es das deutsche Partizip Perfekt eigentlich nur als Passiv gibt und dass daher logischerweise nur transitive Verben eins bilden können: der verurteilte Mörder, diese Fußballspielerin ist vielgerühmt, beleidigt machte ich mich vom Acker. Einige Verben (v.a. diejenigen, die ihr Perfekt mit ist bilden) nutzen allerdings die somit nutzlos herumstehende grammatische Partizipform, um ein Partizip Perfekt Aktiv zu bilden: der gestern angekommene Gast, die Kinder sind weggelaufen (der prädikative Gebrauch fällt mit dem Perfekt zusammen), durch Teppichhandel reich geworden setzte sie sich auf Kreta zur Ruhe.

(Umgangssprachlich und im Neutschen können dies auch intransitive Verben mit haben: was fällt dir ein, unangeklopft ins Zimmer zu kommen; was fällt Ihnen ein, ungeblinkt die Spur zu wechseln - und vielleicht sogar transitive Verben, aber davon ein andermal.)

Auch im Futur scheinen die (im Deutschen im Gegensatz z.B. zum Niederländischen allesamt intransitiven, aber auch davon ein andermal) ist-Perfekt-Verben das Privileg der transitiven Verben, ein Partizip (Passiv) zu bilden (der zu verurteilende Mörder, diese Fußballspielerin ist zu rühmen), nicht länger unherausgefordert stehen zu lassen, und bilden solche Formen nun selbst, als Partizip Futur Aktiv. So hor mein Vater gestern im Zug die Durchsage:

Wir verabschieden uns hiermit von den auzusteigenden Fahrgästen und wünschen Ihnen noch einen schönen Abend.

(Oder sollte aussteigen hier ein Kausativ zum bekannten gleichlautenden Ipsiv sein? Das können wir besser, ist ein semantisch sinnfälliger Kausativ zu steigen doch heben, da wönsche ich den auszuhebenden Fahrgästen einen schönen Abend.)


Homer

Wäre das Partizip Futur nicht eher mit "werdend" zu bilden? "Die aussteigen werdenden Fahrgäste" – ich fürchte, der eine oder andere Sprachgemeinschaftsgenosse sagt derlei tatsalch, ohne Neutsch sprechen zu wollen.

Bei den "auszusteigenden Fahrgästen" klingt wie beim "zu verurteilenden Mörder" m.E. nicht nur das Zukünftige, sondern auch ein "Müssen", "Sollen" oder "Bestommensein zu" an, wie man es auch bei Teilen der lateinischen -nd-Konstruktionen (Gerundivum) hat und was dort als notio necessitatis bezinchen wird (homo laudandus = "der zu lobende Mann" = "der Mann, der gelobt werden muss/soll/kann"). Das können wir natlurch im Neutschen bestens gebrauchen, aber ich schlage vor, es nicht Partizip Futur, sondern Gerundivum zu nennen.

amarillo

Bravo, denn: das Gerundivum ist eine baldigst ins Neutsche überzunehmende Struktur.
Aber wenn ich mich auf Vergangenes beziehe und dann auch noch Modales zu integrieren habe, wird es (für mich) recht schwierig:
Das Gerundivum ist eine längst ins Neutsche übernommen zu habende (zu haben sollende) Struktur.???
Das Leben strebt mit Urgewalt nach Entstehung und Musik.

Wortklauber

Zitat von: Homer in 2012-06-10, 09:47:04
Wäre das Partizip Futur nicht eher mit "werdend" zu bilden? "Die aussteigen werdenden Fahrgäste" – ich fürchte, der eine oder andere Sprachgemeinschaftsgenosse sagt derlei tatsalch, ohne Neutsch sprechen zu wollen.

Bei den "auszusteigenden Fahrgästen" klingt wie beim "zu verurteilenden Mörder" m.E. nicht nur das Zukünftige, sondern auch ein "Müssen", "Sollen" oder "Bestommensein zu" an, wie man es auch bei Teilen der lateinischen -nd-Konstruktionen (Gerundivum) hat und was dort als notio necessitatis bezinchen wird (homo laudandus = "der zu lobende Mann" = "der Mann, der gelobt werden muss/soll/kann"). Das können wir natlurch im Neutschen bestens gebrauchen, aber ich schlage vor, es nicht Partizip Futur, sondern Gerundivum zu nennen.

Die standarddeutsche (?) Entsprechung zu den "auszusteigenden Fahrgästen", wenn sie denn "müssen", "sollen" oder "bestommen sein zu", wäre wohl

die auszusteigen habenden Fahrgäste

ebenso wie das Partizip Perfekt Aktiv vollkommen standarddeutsch gebolden werden kann:

die ihre Prüfung bereits abgelegt habenden Studenten

Oder ist dagegen vom standarddeutschen Standpunkt etwas einzuwenden? Bei Verben, die das Perfekt mit "sein" bilden, scheint mir aber diese Formulierung sehr abwegig:

die gestern beim Marathon gelaufen seienden Sportler

Nein, da kommt mir die Formulierung mit dem Perfektpartizip vollkommen korrekt und ohne Hemmungen anwendbar seiend vor:

die gestern beim Marathon gelaufenen Sportler

Im übrigen steht der Verwendung eleganterer Formen im Neutschen natürlich nichts im Wege.

Wortklauber

Zitat von: amarillo in 2012-06-10, 10:16:38
Das Gerundivum ist eine längst ins Neutsche übernommen zu habende (zu haben sollende) Struktur.???

Vielleicht

Das Gerundivum ist eine längst ins Neutsche übernommen zu sein habende Struktur.

Oder Neutscher, da es ja Irrealis ist:

Das Gerundivum ist eine längst ins Neutsche übernommen werden sollen hättende Struktur. ;D

Homer

Zitat von: amarillo in 2012-06-10, 10:16:38
Bravo, denn: das Gerundivum ist eine baldigst ins Neutsche überzunehmende Struktur.
Aber wenn ich mich auf Vergangenes beziehe und dann auch noch Modales zu integrieren habe, wird es (für mich) recht schwierig:
Das Gerundivum ist eine längst ins Neutsche übernommen zu habende (zu haben sollende) Struktur.???

Ich schlage vor:

Das Gerundivum ist eine längst ins Neutsche zu übernommende Struktur.

Nota bene: Das geht nur im dem Deutschen weit überlegenen Neutschen, wo alle Verben starke Partizipien haben, die auf -en enden!

Wortklauber

Zitat von: Wortklauber in 2012-06-10, 11:19:06
Das Gerundivum ist eine längst ins Neutsche übernommen werden sollen hättende Struktur. ;D

Oder, wenn man die spezielle Satzstellung in
"Da es ja längst hätte übernommen werden sollen"
berücksichtigt, vielleicht noch eher

Das Gerundivum ist eine längst ins Neutsche hätten übernommen werden sollende Struktur.

Homer

Frage nebenbei: Weiß jemand, wie es sein kann, dass das passivische "zu übernehmend" mit dem aktivischen Präsenspartizip "übernehmend" gebolden wird? Sind hier sprachhistorisch zwei Formen (lateinisch gesprochen: das aktivische -nt-Partizip und das passivische -nd-Gerundivum) durcheinandergeraten?

Wortklauber

Zitat von: Homer in 2012-06-10, 11:30:47
Frage nebenbei: Weiß jemand, wie es sein kann, dass das passivische "zu übernehmend" mit dem aktivischen Präsenspartizip "übernehmend" gebolden wird? Sind hier sprachhistorisch zwei Formen (lateinisch gesprochen: das aktivische -nt-Partizip und das passivische -nd-Gerundivum) durcheinandergeraten?

Ohne es zu wissen, vermute ich mal: Weil es auch die Form gibt "Diese Neuerungen sind zu übernehmen." Ganz analog dazu, dass man eben nicht von "gelaufen seienden", sondern von "gelaufenen" Menschen spricht, heißt es eben auch "die zu übernehmenden Neuerungen" und nicht "die zu übernehmen seienden Neuerungen".

Wortklauber

Im übrigen können die –nd–Formen im Lateinischen sowohl aktivisch (Gerundium) als auch passivisch (Gerundivum) gebraucht werden, aber das brauche ich dir ja wohl nicht zu erzählen.

amarillo

Zitat von: Homer in 2012-06-10, 11:21:38
Ich schlage vor:

Das Gerundivum ist eine längst ins Neutsche zu übernommende Struktur.

Nota bene: Das geht nur im dem Deutschen weit überlegenen Neutschen, wo alle Verben starke Partizipien haben, die auf -en enden!

Geil, kömmt meiner Maulfaulheit (ich vermeide hier absilcht den neutschen Term 'Maulfäule'!) prächtig entgegen. Obschon ich gestehen muß, daß des Wortklaubers Varianten ebenfalls einen ungeheuren sprachlichen Charme zu entwickeln das Potential haben (Das Gerundivum ist eine längst ins Neutsche übernommen werden sollen hättende Struktur.).
Das Leben strebt mit Urgewalt nach Entstehung und Musik.

Homer

Zitat von: Wortklauber in 2012-06-10, 11:41:14
Zitat von: Homer in 2012-06-10, 11:30:47
Frage nebenbei: Weiß jemand, wie es sein kann, dass das passivische "zu übernehmend" mit dem aktivischen Präsenspartizip "übernehmend" gebolden wird? Sind hier sprachhistorisch zwei Formen (lateinisch gesprochen: das aktivische -nt-Partizip und das passivische -nd-Gerundivum) durcheinandergeraten?

Ohne es zu wissen, vermute ich mal: Weil es auch die Form gibt "Diese Neuerungen sind zu übernehmen." Ganz analog dazu, dass man eben nicht von "gelaufen seienden", sondern von "gelaufenen" Menschen spricht, heißt es eben auch "die zu übernehmenden Neuerungen" und nicht "die zu übernehmen seienden Neuerungen".

Das überzeugt mich. Meine Frage ließe sich zwar jetzt auf den irgendwie passivisch verwandten Infinitiv "zu übernehmen" übertragen, aber es gibt in vielen Sprachen "diathesenindifferente" (d.h. Aktiv und Passiv unberücksichtigt lassende) Verwendungsweisen von Infinitiven. Das gilt übrigens auch für das lateinische Gerundium, das vorwiegend, aber keineswegs ausschließlich aktivisch verwendet wird, z.B.: hoc malum opprimi sustentando et prolatando non potest (Cicero) = "Dieses Übel kann nicht unterdrückt werden, indem es geduldet und auf die lange Bank geschoben wird".

Wortklauber

Zitat von: Homer in 2012-06-10, 12:19:14
Zitat von: Wortklauber in 2012-06-10, 11:41:14
Zitat von: Homer in 2012-06-10, 11:30:47
Frage nebenbei: Weiß jemand, wie es sein kann, dass das passivische "zu übernehmend" mit dem aktivischen Präsenspartizip "übernehmend" gebolden wird? Sind hier sprachhistorisch zwei Formen (lateinisch gesprochen: das aktivische -nt-Partizip und das passivische -nd-Gerundivum) durcheinandergeraten?

Ohne es zu wissen, vermute ich mal: Weil es auch die Form gibt "Diese Neuerungen sind zu übernehmen." Ganz analog dazu, dass man eben nicht von "gelaufen seienden", sondern von "gelaufenen" Menschen spricht, heißt es eben auch "die zu übernehmenden Neuerungen" und nicht "die zu übernehmen seienden Neuerungen".

Das überzeugt mich. Meine Frage ließe sich zwar jetzt auf den irgendwie passivisch verwandten Infinitiv "zu übernehmen" übertragen, aber es gibt in vielen Sprachen "diathesenindifferente" (d.h. Aktiv und Passiv unberücksichtigt lassende) Verwendungsweisen von Infinitiven. Das gilt übrigens auch für das lateinische Gerundium, das vorwiegend, aber keineswegs ausschließlich aktivisch verwendet wird, z.B.: hoc malum opprimi sustentando et prolatando non potest (Cicero) = "Dieses Übel kann nicht unterdrückt werden, indem es geduldet und auf die lange Bank geschoben wird".

Das würde ich aktivisch auffassen: Dieses Übel kann durch (unser) Dulden und Aufschieben nicht unterdrückt werden.

Homer

Das ist m.E. klar passivisch: Wir müssen doch von der vorliegenden grammatischen Struktur mit dem Subjekt "dieses Übel" ausgehen, aus dessen "Sicht" das Dulden und Verschieben ein Geduldet- und Verschobenwerden ist. Dass man eine passivische Struktur auch aktivisch umformen kann (unter Angabe des logischen Subjekts), steht auf einem anderen Blatt.

Ein anderes Lehrbuchbeispiel (wieder aus Cicero) ist vielleicht noch klarer: haec frequentia totius Italiae convenit censendi causa = "Diese große Menge aus ganz Italien kam zusammen, um geschätzt zu werden" = "um sich schätzen zu lassen" oder "zur Schätzung". Klar, es gibt jemanden, der aktiv schätzt, aber den ins Spiel zu bringen, ist wieder Sache einer Umformung und erklärt nicht die vorliegende Struktur.

Aber Deine Umformung zeigt etwas anderes: Auch im Deutschen sind solche Substantivierungen wie das Dulden und das Verschieben diathesenindifferent. Das wundert nicht, es sind ja schließlich Substantive.

Übrigens steht in jeder wissenschaftlichen Grammatik des Lateinischen, dass das Gerundium diathesenindifferent ist (das ist nicht auf meinem Mist gewachsen), aber häufiger aktivisch verwendet wird.

Wortklauber

Zitat von: Homer in 2012-06-10, 18:07:22
Das ist m.E. klar passivisch: Wir müssen doch von der vorliegenden grammatischen Struktur mit dem Subjekt "dieses Übel" ausgehen, aus dessen "Sicht" das Dulden und Verschieben ein Geduldet- und Verschobenwerden ist. Dass man eine passivische Struktur auch aktivisch umformen kann (unter Angabe des logischen Subjekts), steht auf einem anderen Blatt.

Ein anderes Lehrbuchbeispiel (wieder aus Cicero) ist vielleicht noch klarer: haec frequentia totius Italiae convenit censendi causa = "Diese große Menge aus ganz Italien kam zusammen, um geschätzt zu werden" = "um sich schätzen zu lassen" oder "zur Schätzung". Klar, es gibt jemanden, der aktiv schätzt, aber den ins Spiel zu bringen, ist wieder Sache einer Umformung und erklärt nicht die vorliegende Struktur.

Aber Deine Umformung zeigt etwas anderes: Auch im Deutschen sind solche Substantivierungen wie das Dulden und das Verschieben diathesenindifferent. Das wundert nicht, es sind ja schließlich Substantive.

Übrigens steht in jeder wissenschaftlichen Grammatik des Lateinischen, dass das Gerundium diathesenindifferent ist (das ist nicht auf meinem Mist gewachsen), aber häufiger aktivisch verwendet wird.
Da würde ich mich schon interessieren, mit welcher Argumentation die wissenschaftliche Grammatik so etwas behaupten kann. Leider besitze ich keine wissenschaftliche Grammatik des Lateinischen, aber wenn man nicht ein ganz klar sprachgeschichtliches Argument hat, leuchtet mir nicht ein, wie man die Diathesenindifferenz wirklich behaupten kann, da die allermeisten Fälle ja doch ganz klar aktivische Bedeutung haben. Die Struktur mit "hoc malum opprimi non potest" ist ja auch schon von der Bedeutung her ambivalent, denn "potest" hat ja etwas mit einer Macht (potentia) zu tun, aber von der Macht des Übels ist nicht die Rede, sondern von der Macht desjenigen, der es unterdrücken will. Ich weiß nicht, ob die wissenschaftlichen Grammatiken jetzt auch das Wort "posse" als diathesenindifferent betrachten, aber unabhängig von dieser Frage ist dem Satz das logische Subjekt so stark im Vordergrund, dass es kein Wunder ist, wenn dann in einem bei strenger Betrachtung unlogischen Schritt das aktivische Gerundium in den Satz tritt.

Das andere Beispiel, dass du anführst, ist schon noch einmal deutlicher, aber auch da frage ich mich, ob man nicht (ohne die grammatische Struktur der übrigen Wörter zu ändern) ein "eam" ergänzen könnte:
haec frequentia totius Italiae convenit eam censendi causa = "Diese große Menge aus ganz Italien kam zusammen, damit man sie schätze"
Falls sich dadurch die grammatische Bedeutung der übrigen Wörter nicht ändert, könnte man den Akkusativ "eam" nur dadurch deuten, dass "censendi" aktivisch gebraucht ist. Die Gegenprobe wäre, ob man ein "a rege" ergänzen könnte:
haec frequentia totius Italiae convenit a rege censendi causa = "Diese große Menge aus ganz Italien kam zusammen, damit sie vom König geschätzt werde"
Das kommt mir irgendwie ganz falsch vor, aber wenn "censendi" wirklich passivisch gebraucht wäre, müsste es grammatisch richtig sein.
Zugestehen möchte ich, dass die "Aktivität" (!) des Gerundiums erheblich geschwächt ist, da das handelnde Subjekt ja im Zweifelsfall in den Dativ gestellt wird (mihi dicendum est) und jedenfalls nicht im Nominativ stehen kann.