Unakkusativische vs. unergativische Verben

Begonnen von Homer, 2015-07-07, 09:32:36

Vorheriges Thema - Nächstes Thema

Homer

Mal etwas anderes und eine Frage an alle, die die Vergangenheit des Forums besser kennen als ich: Wurde irgendwo schon einmal über die seit etwa 35 Jahren bekannte Aufteilung der intransitiven Verben in unakkusativische und unergative sinnoren? Dahinter stehen Beobachtungen wie die, dass man zwar Das Gartentor ist verrostet umwandeln kann in Das verrostete Gartentor, aber nicht Der Fisch ist geschwommen in Der geschwommene Fisch. Umgekehrt kann man sagen Es wurde viel geschwommen, aber nicht Es wurde viel verrostet. Ich frage mich, ob das Neutsche hier produktiv werden könnte.

katakura

Zitat von: Homer in 2015-07-07, 09:32:36
Ich frage mich, ob das Neutsche hier produktiv werden könnte.

... es müsste sogar, wie ich finde ...
Toleranz ist vor allem die Erkenntnis, dass es keinen Sinn hat, sich aufzuregen. (Helmut Qualtinger)

Kilian

Wir haben das Thema hin und wieder am Rande gestriffen. Ich erinnere mich an große Begriffsverwirrung, unter der auch der verlunkene Wikipädieartikel zu leiden scheint.

Fundamental wichtig ist es m.E., sich Folgendes klar zu machen: die Syntax so gut wie jeder Sprache hat ein kleines, gut bekanntes Inventar von syntaktischen Typen von Verbargumenten, als da wären im Deutschen: Subjekt, Akkusativ-Objekt, Dativ-Objekt und Präpositional-Objekt. Jedes Verb hat nun eine Anzahl von Argumenten, jedes mit einer spezifischen semantischen Rolle. Diese semantischen Rollen lassen sich mit Begriffen wie Agent, Patient, Topic, Stimulus, Experiencer usw. charakterisieren, aber es gibt kein eindeutiges, übersichtliches Inventar solcher Rollen – eine durchaus vertretbare Extremposition ist, dass jede semantische Rolle jedes Verbs einzigartig ist. Die spannende Frage ist nun: welche semantische Rolle kriegt welchen syntaktischen Typ? Es lassen sich da gewisse Muster beobachten, sowohl innerhalb einzelner Sprachen (z.B. Verben mit nur einem Argument weisen diesem im Deutschen typischerweise den Subjekttyp zu – Gegenbeispiel: mich friert) als auch im Vergleich z.B. von "Nominativ-Akkusativ-Sprachen" mit "Ergativ-Absolutiv-Sprachen" (das Subjekt in ersteren wird in letzteren typischerweise zum Ergativ bei Verben mit nur einem Argument, aber zum Absolutiv bei Verben mit zwei Argumenten). Aber letztlich gibt es keine perfekten Regeln und es ist von Verb zu Verb verschieden.

Wenn Begriffe wie transitiv, intransitiv, unakkusativisch und unergativisch nicht sehr sorgfältig definiert werden (wie es die englische Wikipädie in den verlunkenen Artikeln dankenswerterweise jeweils im ersten Absatz tut), dann führen sie zu Verwirrung, weil in ihrer Verwendung dann implizit unzulässige Generalisierungen mitschwingen.

Kilian

Zitat von: Homer in 2015-07-07, 09:32:36Dahinter stehen Beobachtungen wie die, dass man zwar Das Gartentor ist verrostet umwandeln kann in Das verrostete Gartentor, aber nicht Der Fisch ist geschwommen in Der geschwommene Fisch.

Du meinst also, dass das Perfektpartizip intransitiver sein-Verben genau dann adjektivisch verwendet werden kann, wenn das Subjekt kein Agens ist (d.h. es sich um ein unakkusativisches Verb handelt)? Glaub ich nicht, der ins Meer geschwommene Fisch geht MUSEN sehr wohl. Canoo erklärt den Unterschied m.E. überzeugend damit, dass verrostet und ins Meer geschwommen einen perfektiven Sinn haben, geschwommen hingegen einen durativen.

ZitatUmgekehrt kann man sagen Es wurde viel geschwommen, aber nicht Es wurde viel verrostet.

Du meinst also, dass das unpersönliche Passiv genau dann verwendet werden kann, wenn das Subjekt ein Agens ist (d.h. es sich um ein unergativisches Verb handelt)? Hm, ich weiß nicht. Es wurde viel gestorben geht, und das Subjekt von sterben ist kein Agens, oder? Eher kann ich mir vorstellen, dass wiederum die Durativität Voraussetzung für das unpersönliche Passiv ist. Durativität ist bei dieser Verwendung geschwommen klar gegeben und bei verrostet klar nicht, bei viel gestorben ist sie m.E. auch gegeben, weil ein andauernder Vorgang beschrieben wird, in dessen Verlauf immer mal wieder jemand stirbt.

Homer

Hier halte ich mich mit Meinungen ganz bewusst zurück, weil das kein Bereich ist, in den ich gut eingedacht bin. Ich sehe, Du hast Dich schon intensiver damit beschäftigt, und Deine Zweifel an der Zuverlässigkeit des deutschen Wikipedia-Artikels scheinen mir wohlbegründet. Es ist auch zu berücksichtigen, dass das Sprachgefühl offensichtlich in diesem Bereich gerade im Wandel ist und dazu tendiert, Ausdrücke wie der ins Meer geschwommene Fisch oder der ins Haus gerannte Mann vermehrt als grammatisch zu akzeptieren. Für mich klingt das nicht ganz astrein, aber es ist natürlich nicht zu vergleichen mit *der heftig gestunkene Fisch.

Sterben ist sprachenübergreifend ein schwieriger Fall, worauf ja auch der Wikipedia-Artikel hinweist. Einerseits erlaubt es im Dt. wohl unakkusativisch der jung gestorbene Dichter – obwohl mir auch da etwas unbehaglich ist –, andererseits aber auch unergativ – und jetzt eindeutig – Es wird viel gestorben. Aber nehmen wir versterben, dann ist das klar unakkusativisch (der jung verstorbene Dichter – *es wird viel verstorben). Dehnt da vielleicht unergatives sterben gerade seine Konstruktionsmöglichkeiten in Richtung "unakkusativisch" aus, vielleicht unter dem Einfluss von versterben?

Auf das ganze Thema hat mich vor einem Jahr ein Aufsatz aus der lateinischen Philologie gebracht, der innere Komplemente in figurae etymologicae untersucht und nach der Kasusverteilung fragt. Es stellt sich heraus, dass unergative Verben zum Akkusativ tendieren, unakkusativische zum Ablativ, also z.B.:

Akk. furorem furere "eine Wut wüten", saltationem saltare "einen Tanz tanzen" vs. Abl. casu cadere "einen Fall fallen", augmine augere "ein Wachstum wachsen".

Wohlgemerkt ist die Kasuswahl ein gutes distinktives Indiz nur für das Lateinische, nicht zwingend für die deutschen Äquivalente. Nun gibt es im Lateinischen für leben und sterben eine sehr interessante Verteilung: Es heißt nämlich regelmäßig unergativ vitam beatam vivere "ein glückliches Leben leben", aber unakkusativisch bona morte mori "einen guten Tod sterben". Im Deutschen ist sterben anders als im Lat. von der Konstruktion her m.E. eher unergativ als unakkusativisch, aber leben wie im Lat. sicher unergativ (*der in Saus und Braus gelebte Dichter – es wird (von den Dichtern) in Saus und Braus gelebt).

Vielleicht sollten wir die Frage also umgekehrt stellen: Welche semantische Eigenschaft eines Verbs führt dazu, dass sein Komplement als Agens empfunden wird? Im Lateinischen und Deutschen wird die personale Ergänzung von leben offenbar als Agens empfunden, bei sterben im Lateinischen nicht, während die Einordnung im Deutschen nicht ganz klar ist. Immerhin gibt die Möglichkeit von Es wird viel gestorben einen Fingerzeig, dass wir darüber nachdenken sollten, in welcher Weise die Ergänzung dazu ein Agens sein könnte. Also Analyse der Syntax als Fingerzeig für die Analyse der Semantik statt umgekehrt, das wäre mein Vorschlag.

Aber wie gesagt: Ich bin da weit von allen subjektiven Sicherheiten entfernt, und ich wollte auch gar nicht unbedingt theoretisch diskutieren, sondern ein Feld für die Weiterentwulck des Neutschen aufzeigen. Und dass dann gartentorseits verrostet werden kann, dass es bröselt, scheint mir klar, oder?

Wortklaux

... und da das Gartentor sicherlich lange Zeit vor sich hin rostet, kann die Länge der vom Gartentor vor sich hin gerosteten Zeit auch gemessen werden.