Kaskadenpassiv

Begonnen von Kilian, 2006-01-06, 02:09:04

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Berthold

Zitat von: Kilian in 2006-10-05, 19:25:20
Das Antipassiv sagt doch, wer tadelt, und nicht, wer getadelt wird. Also:
Der Lehrer tadelt. > Der Lehrer tadlium.

Da hast Du froychl recht, lieber Kilian - und ich war gestern wohl in Gedanken schon in einer meiner Stammbuchhülnden - oder stak in einer leicht postdepressiven Phantasie (von einem Kloster eines strengen Ordens in einem Satelliten oder so). Das mit dem Antipassiv ist mir aber eh durch den Kopf gegangen. Jetzt grillb ich nur noch über eines: Ja hieße das dann nicht 'Dum Lehrerum tadlium'?
Die Chinesinnen & Chinesen - aber das weißt Du ja sicher eh - verwenden transitive Verben allein gar nicht, sondern hängen dann ein gewissermaßen leeres Objekt dazu. Ich schreibe die folgenden, sehr bekannten Beispiele galchnz ohne Diakritika: Wo kan shu - Ich les Buch - heißt nicht das, sondern einfach 'ich lese'. Ni chi fan - du ess Reis - heißt 'du ißt' (der warlchke Reis wäre wägnstens mifan). Ta chang ge - Er sing Lied - 'er singt'...

Ich nun arbeit Zuckmuck.
   

Agricola

Zitat von: Berthold in 2006-10-06, 13:08:36
Ich nun arbeit Zuckmuck.   
Da - wie jeder Musiker weiß - eine "Mucke" eine Arbeit ist, rieche doch "Ich nun zuckmuck".

Stress bei Deiner Arbeit wäre dann Ruckzuckzuckmuckdruck.
The future lies in front of me,
but "lies" is all that I can see.

Kilian

Zitat von: Berthold in 2006-10-06, 13:08:36Jetzt grillb ich nur noch über eines: Ja hieße das dann nicht 'Dum Lehrerum tadlium'?

Hm, in der Wikipädie steht, dass das Subjekt im Antipassiv vom Ergativ in den Absolutiv wechselt, aber ich kann mir vorstellen, dass das von Ergativsprache zu Ergativsprache verschieden ist. Fürs Neutsche bliebe es festzulegen. :D

Das mit dem Chinesischen wusste ich nicht, danke für diesen interessanten Einblick!

caru

Zitat von: Berthold in 2006-10-06, 13:08:36
Wo kan shu - Ich les Buch - heißt nicht das, sondern einfach 'ich lese'.

noch strikter wörtlich heißt das "ich schau buch" - kàn heißt ganz allgemein anschauen. uuuuuuuund wenns ein magazin oder ne zeitung ist, die der betreffende liest, sagt er natürlich wo kan bao "ich les zeitung". so gaaaaaaaaaaaaaaanz leer ist also das objekt auch dort nicht, nur weitgehend.
(\___/)
(>´x´<)
('.')__('.')

Nijntje - de echte nederlandse konijn

Agricola

Aber shu ist doch wahrscheinlich 書, und das bedeutet nicht primär Buch, sondern schreiben und eben das Geschriebene, und von daher abgeleitet manchmal auch ein Buch. Also "ich betrachte das Geschriebene" - keineswegs fremdartig für uns.
Im Japanischen als Einzelwort 書物 shomotsu: Das Buch. Sonst als Einzelwort 書 sho die Kalligraphie (ist aber ein sehr moderner Ausdruck), in Zusammensetzungen kann 書 ein Buch sein (教科書 kyôkasho Lehrbuch), ein Schriftstück (履歴書 rirekisho Lebenslauf), ein Schreibstil (行書 gyôsho Schreibschrift) oder eine schreibende Person (秘書 hisho der Sekretär). Und wahrscheinlich noch vieles anderes, was mir gerade nicht einfällt.
The future lies in front of me,
but "lies" is all that I can see.

caru

jo, im klassischen chinesisch heißt 書 schriftstück, urkunde... gottweißwasnoch, hauptsache geschreibsel, und ein verb ist es noch dazu. aber die erwähnten phrasen sind zeitgenössisches gesprochenes chinesisch, und da ist es weitgehend auf "buch" festgelegt.
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('.')__('.')

Nijntje - de echte nederlandse konijn

Berthold

Zitat von: caru in 2006-10-06, 20:31:35

noch strikter wörtlich heißt das "ich schau buch" -
Und noch strikter ist es etwas, was wir eigentlich gar nicht leicht sagen können. Das Buch hat nämlich hier weder Ein- noch Mehrzahl. Ich lese dieses (eine) Buch hieße schon: Wo3 kan4 zhe(i)4 ben3 shu1. Und auch das können mehrere Bücher sein. Dann würde aber wohl deren Zahl genannt - oder die Zahl geht - wie's immer über das Chinesische so schön heißt - aus dem Zusammenhang hervor.
Wo3 kan4 bao4 heißt, daß ich irgendetwas Zeitschriftenartiges lese, durchblättere oder anschaue. 

Grinsekater

Gerade war im SWR2 zur Privatisierung der Eisenbahn zu hören:

,,Es ist ein ziemlich kompliziertes Konstrukt, was sich da ausgedacht geworden ist."

Kein eigentliches Kaskadenpassiv, zugegeben, aber daß das ,,sich" in der passiven Form erhalten blieb, fand ich bemerkenswert. (Beinahe ebenso übrigens das ,,ge-" von ,,geworden".) Als hätten die Ausdenker nicht sich, sondern dem Ausgedachten etwas (nämlich das Ausgedachte) ausgedacht, diese Dachdenker.


Kilian

*gibt zu Protokoll, dass das Kaskadenpassiv erster Stufe der germanistischen Sprachwissenschaft bereits als langes Passiv oder Fernpassiv bekannt ist, allerdings nur für ganz bestimmte Verben (versuchen, vergessen...) und vermutlich nicht mit mehrstufigen Kaskaden*

Kilian

Zitat von: Kilian in 2006-10-05, 19:25:20
ZitatManche Verben des Baskischen verlangen auch einfach den Ergativ, andere den Absolutiv:

Sieh an! Und im Georgischen, diese Kuriosität gehört hier auch angebracht, hängt es vom Tempus ab, ob ergativ oder akkusativ gesprochen wird.

*gibt ferner zu Protokoll, dass das gar keine Kuriosität, sondern eben gespaltene Ergativität ist, was unter den Sprachen der Welt sogar häufiger ist als die ,,reine" Ergativität*

Kilian

Noch ein schönes Beispiel fürs lange Passiv von Sascha Lobo in diesem Tweet: "Die Bundesregierung ist schon jetzt bestürzt über die mehr als 500 Menschen, die nächste Woche zur Abschreckung ertrinken gelassen werden."

Kilian

Natürlich hat auch dieses Passiv ein Partizip:

ZitatSchon bald aber wurden die Kleiderschränke der Kunden voller und voller, und irgendwann wollten nicht einmal die Altkleidersammler die vielen einmal habengemussten Klamotten noch annehmen.
– Marcus Rohwetter, Essentials und Must-haves

Die Kolumne ist sehr vergnüglich, besonders beim letzten Absatz krolng ich mich.

Homer

#27
Zitat von: Kilian in 2006-10-05, 17:11:26
Die Modalverben lassen, wollen und mögen verhalten sich anders, sie treffen eine Aussage über das grammatische Subjekt: Wenn der Arzt Lisa nicht impfen will, ist das etwas ganz anderes, als wenn Lisa vom Arzt nicht geumpfen werden will. Will man daher den ersten Satz ins Passiv setzen, braucht man das Kaskadenpassiv oder so ne Scherze: Lisa wird vom Arzt nicht impfen gewollt.

Brandaktuelles Beispiel:

Kleinlaut schließt Lucke seine Begrüßung der knapp 3.000 Mitglieder: "Das war mein erster Versuch, eine Hand zu reichen, die augenscheinlich nicht von jedem genommen werden möchte." (ZEIT-online)

Der Widerwille seiner Hand gegen allzu beliebiges Genommenwerden wurde dann bei der Vorsitzenden-Wahl von den Delegorenen prompt erworden.


Wortklaux

Nach meinem Sprachempfinden bezieht sich der in Luckes Zitat bezeichnete Wille eindeutig auf die Nehmenden. im Falle eines Angebots, das nicht von jedem angenommen werden will, setzt sich die Semantik in meinem zerebralen Sprachprozessor radikal gegen alle grammatischen Argumente durch, und ich wäre deshalb eher bereit, die Grammatik, als mein Sprachverständnis zu ändern.

Unmissverständlich wäre für mich auch:

Was passiert mit Menschen, die in der Europäischen Gemeinschaft zwar Asyl suchen, aber von keinem Land aufgenommen werden wollen?

Besseres Neutsch wäre aber freilich

Was passiert mit Menschen, die in der Europäischen Gemeinschaft zwar Asyl suchen, aber von keinem Land aufnehmen gewollt werden?

Inwiefern ist aber ,,lassen" ein Modalverb? Vielleicht wenn man es so verwendet:
Ich lasse mir die Haare schneiden.
Ich lasse von Opa den Rasen mähen.
Aber so wie "ich möchte abgeholt werden" lässt sich lassen wohl gar nicht mit einem passiven Verb verbinden. Vielmehr wird das Verb lassen selbst — im Gegensatz zu wollen — ins Passiv gesetzt:
Autos, die von ihren Besitzern hier stehen gelassen werden, werden kostenpflichtig abgeschleppt.
Aber da ist lassen schon wieder kein echtes Modalverb mehr, weil es mit AcI (bzw. NcI in der Passivkonstruktion) gebolden wird.

Homer

Zitat von: Wortklaux in 2015-07-04, 19:52:27
Nach meinem Sprachempfinden bezieht sich der in Luckes Zitat bezeichnete Wille eindeutig auf die Nehmenden. im Falle eines Angebots, das nicht von jedem angenommen werden will, setzt sich die Semantik in meinem zerebralen Sprachprozessor radikal gegen alle grammatischen Argumente durch, und ich wäre deshalb eher bereit, die Grammatik, als mein Sprachverständnis zu ändern.

Unmissverständlich wäre für mich auch:

Was passiert mit Menschen, die in der Europäischen Gemeinschaft zwar Asyl suchen, aber von keinem Land aufgenommen werden wollen?

Ob dieses Sprachgefühl mehrheitsfähig ist? Ich weiß nicht recht. Für mich persönlich gilt jedenfalls: Logik und Sprachgefühl sagen unisono und mit gleicher Lautstärke "nein, niemals, unmöglich, völlig ausgeschlossen!"