Kaskadenpassiv

Begonnen von Kilian, 2006-01-06, 02:09:04

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Kilian

Zitat von: Homer in 2015-07-04, 21:20:25
Zitat von: Wortklaux in 2015-07-04, 19:52:27
Nach meinem Sprachempfinden bezieht sich der in Luckes Zitat bezeichnete Wille eindeutig auf die Nehmenden. im Falle eines Angebots, das nicht von jedem angenommen werden will, setzt sich die Semantik in meinem zerebralen Sprachprozessor radikal gegen alle grammatischen Argumente durch, und ich wäre deshalb eher bereit, die Grammatik, als mein Sprachverständnis zu ändern.

Unmissverständlich wäre für mich auch:

Was passiert mit Menschen, die in der Europäischen Gemeinschaft zwar Asyl suchen, aber von keinem Land aufgenommen werden wollen?

Ob dieses Sprachgefühl mehrheitsfähig ist? Ich weiß nicht recht. Für mich persönlich gilt jedenfalls: Logik und Sprachgefühl sagen unisono und mit gleicher Lautstärke "nein, niemals, unmöglich, völlig ausgeschlossen!"

Wenn man drüber nachdenkt und sprachanalytisch geschult ist (und das sind wir alle hier so sehr, dass wir uns in Durchschnittssprachbenutzende bestimmt nur schwer hineinversetzen können), wird einem das wohl falsch vorkommen. Wenn man es aber andererseits nur so aufschnappt und mit Hilfe des Kontexts versteht, fällt es einem vielleicht gar nicht auf.

Homer

Mag sein. Ich sollte vielleicht nur noch mal sagen, dass ich den Fehler nicht aktiv gesucht habe. Ich habe den ZEIT-online-Artikel rein auf Inhalt, ohne jeden Fokus auf Sprachbeobachtung gelesen, habe auch sofort gewusst, was Lucke sagen wollte, und trotzdem gleichzeitig und ohne analytisches Nachdenken gemerkt, dass er etwas anderes gesagt hat. Dass einem Sprecher solche Dinge in einer Parteitagsrede unterlaufen können, ist verständlich. Aber ich stelle mir vor, dass es einigermaßen kompetenten Hörern sofort auffällt. Und das Konstrukt des "kompetenten Sprachbenutzers" wird ja immer herangezogen, wenn es darum geht, ob ein Satz als grammatisch durchgeht.

Kilian

#32
Zitat von: Wortklaux in 2015-07-04, 19:52:27
Inwiefern ist aber ,,lassen" ein Modalverb?

Es wird von manchen Lehrwerken und Grammatiken als solches genannt, ich bin aber mittlerweile auch der Überzeugung, dass das keine glückliche Einsortur ist. Zumal, wenn andererseits hören, sehen, fühlen, spüren  und heißen (neutsch auch schmecken, pornografisches Beispiel: ,,Ich schmeckte ihn kommen" und riechen: ,,Ich roch ihn eintreten"), die ebenfalls mit AcI stehen können, deswegen nicht als Modalverben handgehabt werden.

Zitat
Vielleicht wenn man es so verwendet:
Ich lasse mir die Haare schneiden.
Ich lasse von Opa den Rasen mähen.

Stimmt, hier fehlt der A und steht nur ein I, vielleicht daher die merkwürdige Einsortur. Wobei ich denke, dass der A einfach elidoren ward. Denn anders, als es bei einem Modalverb der Fall wäre, reicht lassen das Subjekt ja gerade nicht an den untergeordneten Infinitiv weiter, sondern das sind hier zwei verschiedene semantische Rollen.

EDIT: Noch ein Grund: lassen kennt wie die Modalverben den Ersatzinfinitiv: Ich habe mir die Haare schneiden (*ge)lassen.

Zitat
Aber so wie "ich möchte abgeholt werden" lässt sich lassen wohl gar nicht mit einem passiven Verb verbinden.

Hier verstehe ich nicht, was du meinst.

ZitatVielmehr wird das Verb lassen selbst — im Gegensatz zu wollen — ins Passiv gesetzt:
Autos, die von ihren Besitzern hier stehen gelassen werden, werden kostenpflichtig abgeschleppt.
Aber da ist lassen schon wieder kein echtes Modalverb mehr, weil es mit AcI (bzw. NcI in der Passivkonstruktion) gebolden wird.

Genau, das ist das normale Passiv von lassen. Interessanterweise scheint das im Deutschen nur zu gehen, wenn der I ein sein-Verb ist, haben-Verben sträuben sich:

Der Lehrer lässt die Kinder singen → ??Die Kinder werden vom Lehrer singen gelassen
Der Arzt lässt Lisa die Zunge herausstrecken → ??Lisa wird (vom Arzt) die Zunge herausstrecken gelassen

Auf Neutsch geht das freilich. Und da kann man auch den AcI selbst ins Passiv setzen, wenn er ein Objekt hat:

Der Arzt lässt Lisa die Zunge herausstreckenDer Arzt lässt die Zunge (von Lisa) herausgestreckt werden
(Verwirrenderweise ähnelt dieses Passiv dem Aktiv mit elidorenem A: Der Arzt lässt die Zunge herausstrecken)
Rezipientenpassiv: Die Chefin lässt dem Angestellten helfenDie Chefin lässt den Angestellten geholfen kriegen

Und schließlich kann man ein Kaskadenpassiv bilden:

Der Arzt lässt Lisa die Zunge herausstreckenDie Zunge wird (vom Arzt) (von Lisa) herausstrecken gelassen
Die Chefin lässt dem Angestellten helfenDer Angestellte kriegt (von der Chefin) geholfen gelassen

Kilian

#33
Zitat von: Homer in 2015-07-04, 23:17:04
Mag sein. Ich sollte vielleicht nur noch mal sagen, dass ich den Fehler nicht aktiv gesucht habe. Ich habe den ZEIT-online-Artikel rein auf Inhalt, ohne jeden Fokus auf Sprachbeobachtung gelesen, habe auch sofort gewusst, was Lucke sagen wollte, und trotzdem gleichzeitig und ohne analytisches Nachdenken gemerkt, dass er etwas anderes gesagt hat. Dass einem Sprecher solche Dinge in einer Parteitagsrede unterlaufen können, ist verständlich. Aber ich stelle mir vor, dass es einigermaßen kompetenten Hörern sofort auffällt. Und das Konstrukt des "kompetenten Sprachbenutzers" wird ja immer herangezogen, wenn es darum geht, ob ein Satz als grammatisch durchgeht.

Ja. Ich meinte das mit dem "fällt es einem vielleicht gar nicht auf" als grundsätzliche Möglichkeit, nicht als die Regel oder irgendsowas. Der Satz ist auf jeden Fall in der Tat ein sehr schönes Beispiel für ein verunglücktes langes Passiv... dadurch verunglückt, dass das Modalverb (und zwar eins, das seinem Subjekt eine semantische Rolle zuweist) nicht mitpassiviert wurde und dadurch die semantische Rolle falsch zugestellt wird. Das Modalverb hier zu passivieren wäre allerdings auch im Standarddeutschen kaum möglich: ??eine Hand, die nicht von jedem nehmen gemöchtet wird? Daher hat diese verquere Konstruktion meiner unmaßgeblichen Einschätzung nach zumindest nicht die allerschlechtesten Chancen, im Laufe der nächsten Jahrzehnte Standard zu werden, zumal sie ja wie oben ausgeführt bei anderen Modalverben, die ihrem Subjekt keine semantische Rolle zuweisen, reibungslos funktioniert.