Genitiv des Ausrufs

Begonnen von Kilian, 2006-05-26, 09:58:44

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amarillo

Zitat von: MrMagoo in 2006-05-27, 14:23:25
Viel interessanter finde ich, daß wir es hier anscheinend mit einem neuen Präterito-Präsens zu tun haben...

"deucht(e)" ist nämlich ursprünglich das Präteritum zu dünken.
Kennt ihr noch weitere solcher Fälle, in denen die ursprüngliche Form des Präteritums zum Präsens geworden ist (mit Ausnahme der "wirklichen" Präterito-Präsentien natürlich)?

Mein Problem: selbst wenn ich derer kännte, ich erkännte sie nicht als solche.
Wie läßt sich das recherchieren?
Das Leben strebt mit Urgewalt nach Entstehung und Musik.

MrMagoo

Zitat von: amarillo in 2006-05-27, 16:01:09
Zitat von: MrMagoo in 2006-05-27, 14:23:25
Viel interessanter finde ich, daß wir es hier anscheinend mit einem neuen Präterito-Präsens zu tun haben...

"deucht(e)" ist nämlich ursprünglich das Präteritum zu dünken.
Kennt ihr noch weitere solcher Fälle, in denen die ursprüngliche Form des Präteritums zum Präsens geworden ist (mit Ausnahme der "wirklichen" Präterito-Präsentien natürlich)?

Mein Problem: selbst wenn ich derer kännte, ich erkännte sie nicht als solche.
Wie läßt sich das recherchieren?

Fürwahr sicher nur schwerlich... daher frug ich.
Aufgefallen ists mir bisher nur bei "deucht" und, wie Kilian schon anmerkte, bei "koren"... wir werden wohl einfach mal verstärkter darauf achten müssen. :)
Wâ mag ich mich nu vinden? wâ mac ich mich nu suochen, wâ? nu bin ich hie und bin ouch dâ und enbin doch weder dâ noch hie. wer wart ouch sus verirret ie? wer wart ie sus zerteilet mê?
(Gottfried von Straßburg)

genial

Zitat von: caru in 2006-05-26, 18:52:09

und heißa! er benutzt auch die präposition "um" mit genitiv!

"Um deiner jungen Missetat
hantier' ich jetzt mit Ahl und Draht..."

Woran ist hier zu erkennen, daß es sich um einen Genitiv und nicht um einen Dativ handelt?

VerbOrg

Versuch doch mal, "deine junge Missetat" zu deklinieren.

1. deine junge Missetat
2. deiner jungen Missetat
3. deiner jungen Missetat
4. deine junge Missetat

Wie man sieht, bringt uns das nicht weiter.
Wenn man sich aber mal anschaut, in welchen Zusammenhang die junge Missetat gesotzen wird, wird's deutlich:

"um deiner jungen Missetat" = "ob deiner jungen Missetat" = "wegen deiner jungen Missetat".


Hier wird das "um" nicht im klassischen Sinne als Präposition des Ortes sondern als Präposition des Grundes verwandt. Diese verlangt (wie wir bei den Synonymen "wegen" und "ob" gesehen haben) den Genitiv.

Anderes Beispiel für "um" mit Genitiv:

um Gottes Willen

So ungewöhnlich ist der von caru aufgedochene genitivische Gebrauch des Wörtchens "um" also nicht.


Der in den Schulen so schön runtergebetete Spruch
"Mit, nach, von, aus, zu, bei fordern stets Fall Nummer drei."
enthält, wenn man ihn sich mal anschaut, ausschließlich Präpositionen, die normalerweise örtlich und zeitlich gebraucht werden. Weicht eine Präposition aus dieser Bedeutungskategorie ab, dann ändert sich auch der Fall, den sie verlangt.

Agricola

Zitat von: VerbOrg in 2006-07-23, 08:56:23
Anderes Beispiel für "um" mit Genitiv:

um Gottes Willen

So ungewöhnlich ist der von caru aufgedochene genitivische Gebrauch des Wörtchens "um" also nicht.

Bei "um Gottes Willen" ist es doch ganz sicher kein Gähnitiv, sonst müsste es "um Gottes Willens" heißen. "Gottes" ist ja jedenfalls nicht das Substantiv, das zu "um" gehört. Was der Ausspruch ursprünglich bedeutet, ist mir auch nicht ganz klar. Mir scheint, jedenfalls etwas anderes als "um des Friedens willen". Welche Funktion hat "um" aber in diesem letzteren Ausdruck? Ist es da überhaupt eine Präposition?

"Um" steht normalerweise mit den Akkusativ. Ich mache mir seit längerem Gedanken, ob man es nicht auch mit den Dativ verwenden kann, wenn man eindeutig einen Ort und nicht "um ... herum" meint. Also etwa so differenziert:

Um ihn herum spielten die Kinder. Um ihm war ja auch hinreichend Platz zum Spielen.

Da um dem Haus von überall Gefahr drohte, baute er eine Mauer um den Garten.

Mal kommt's mir ganz abwegig, mal ganz logisch vor.
The future lies in front of me,
but "lies" is all that I can see.

VerbOrg

Sorry, danke, dass du noch einen kühlen Kopf bewahrt hast. Na ja, du musst ja eher vor dem Regen Schutz suchen als vor der sengenden Sonne.

Um plus Ort wäre doch schön für den Dativ.
Bei den Akkusativ-Präpositionen pieße es örtlich nicht so ganz. Schlielß geht's da ja eher um Mittel zum Zweck, Aversionen und Gegenmaßnahmen.

Vielleicht sollte man die Präpositionen generell eher danach einordnen, wofür sie gebraucht werden, statt einfach nur zu sagen, diese Präposition fordere diesen und jene Präposition erfordere jenen Fall.

Man sieht ja in carus Beispiel, dass es nicht einfach nur darauf ankommt, welche Präposition man benutzt, sondern darauf, was diese bedeutet.


Üprigenz:
Umgangssprachlich (und teilweise auch ganz offiziell) benutzt man ja wegen auch schon mit Dativ. Vielleicht ist deshalb genials Einwand gar nicht so unberochtegen. Allerdings ist carus Beispiel wohl nicht so ganz der flapsigen Umgangssprache zuzurechnen. Wegen benötze man hier eindeutig genitivisch.

Kilian

#21
Zitat von: VerbOrg in 2006-07-23, 08:56:23Wenn man sich aber mal anschaut, in welchen Zusammenhang die junge Missetat gesotzen wird, wird's deutlich:

"um deiner jungen Missetat" = "ob deiner jungen Missetat" = "wegen deiner jungen Missetat".

Hier wird das "um" nicht im klassischen Sinne als Präposition des Ortes sondern als Präposition des Grundes verwandt. Diese verlangt (wie wir bei den Synonymen "wegen" und "ob" gesehen haben) den Genitiv.

:-\ Gewagt! Man kann grammatische Eigenschaften von Wörtern nicht einfach aus grammatischen Eigenschaften von Synonymen erschließen. (Banales Beispiel: Ein Fahrrad ist sächlich, ein Drahtesel aber männlich.) Sicher wolltest du das nicht behaupten, es liest sich aber ein bisschen so.

Zitat"Mit, nach, von, aus, zu, bei fordern stets Fall Nummer drei."

Da fehlt noch seit, oder?

Zitatausschließlich Präpositionen, die normalerweise örtlich und zeitlich gebraucht werden

Außer mit.

ZitatWeicht eine Präposition aus dieser Bedeutungskategorie ab, dann ändert sich auch der Fall, den sie verlangt.

Nicht immer! frei nach Hugo Distler enthält genauso Dativ wie nach Fürstenfeldbruck radeln. Kannst du Beispiele für Kontexte nennen, in denen eine dieser Präpositionen einen anderen Fall als den Dativ verlangt?

Zitat von: Agricola in 2006-07-23, 09:32:07Bei "um Gottes Willen" ist es doch ganz sicher kein Gähnitiv, sonst müsste es "um Gottes Willens" heißen. "Gottes" ist ja jedenfalls nicht das Substantiv, das zu "um" gehört. Was der Ausspruch ursprünglich bedeutet, ist mir auch nicht ganz klar. Mir scheint, jedenfalls etwas anderes als "um des Friedens willen". Welche Funktion hat "um" aber in diesem letzteren Ausdruck? Ist es da überhaupt eine Präposition?

Es ist Teil der Zirkumposition um ... willen (willen muss kleingeschrieben werden!), die mit Genitiv steht und so viel wie "wegen" oder auch "für" bedeutet.

Ursprünglich bedeutete um Gottes willen "allein Gott zuliebe", "selbstlos", man erbarmte sich etwa eines Bettlers um Gottes willen. Später gebrauchte man die Wendung, um einer Frage oder Aufforderung besonderen Nachdruck zu verleihen: "Sagt mir um Gottes willen, was geschehen ist!" Von da aus war dann der Weg zu einem reinen Ausruf des  Erstaunens, Entsetzens nicht mehr weit, wie wir ihn heute kennen.

All diese schlauen Dinge stehen im Grimm'schen Wörterbuch, Eintrag UM (Nummer zwo), Abschnitt J. Und noch mehr: Wenn um allein mit Genitiv aufzutreten scheint, wie bei carus Wagner-Zitat, dann wird das als Ausfall von willen betrachtet. Die Aufnahme in unsere Liste soll das nicht hindern, eher befördern, ist damit doch der Beweis für Genitiv (und nicht Dativ) erbracht. Ich hatte das hier fast vergessen.

Früher dachte ich, um Gottes Willen hieße: "Selbst, wenn Gott es wollte, das geht nicht!" Statt nur über meine Leiche: selbst unter Umgehung von Gottes Willen... :)

Metapher

#22
ZitatBei "um Gottes Willen" ist es doch ganz sicher kein Gähnitiv, sonst müsste es "um Gottes Willens" heißen. "Gottes" ist ja jedenfalls nicht das Substantiv, das zu "um" gehört. Was der Ausspruch ursprünglich bedeutet, ist mir auch nicht ganz klar. Mir scheint, jedenfalls etwas anderes als "um des Friedens willen". Welche Funktion hat "um" aber in diesem letzteren Ausdruck? Ist es da überhaupt eine Präposition?

"willen" ist ein Genitiv!!!!, nämlich der zu "Wille".

ZitatWenn um allein mit Genitiv aufzutreten scheint, wie bei carus Wagner-Zitat, dann wird das als Ausfall von willen betrachtet.

Es ist wohl eher so, dass die Konstruktion "um+Gen.", die der Konstruktion"um+Infinitiv" entspricht, und die beide grob mit "wegen", aber auch mit "für" bersetzt werden können, mit dem Genitiv des Wortes "Wille" verbunden wurde und in dieser Konstruktion eher "für", als "wegen" bedeutet.

Kilian

Hallo, Metapher! Woher weißt du das?

Metapher

Wissen wäre zu viel gesagt, aber zum ersten existiert die Präposition "um" etliche Zeiten länger als der Ausdruck mit "willen"(Herkunftswörterbuch) und zum zweiten existiert eigentlich immer zuerst das einzelne Wort bevor Ausdrücke entstehen.(Quelle:Brodmer).
Zugegeben, den Rest habe ich selbst abgeleitet, aber die Bedeutungen der Präpositionen ändern sich im Laufe der Zeit kaum oder gar nicht(siehe z.B. lat."ab"das bis heute die Bedeutung "weg" gewahrt hat, wenngleich es keine eigenständige Präposition mehr ist), weswegen man davon ausgehen kann, dass "um" auch im Althochdeutschen "für" oder eben"wegen"bedeuten konnte.

Kilian

Finde ich nicht so schlüssig, da die Hauptbedeutung von um als Präposition eine ganz andere und die Nebenbedeutung, in der um dann Genitiv hat, ultraselten ist. Die Hauptbedeutung mag seit Ewigkeiten konstant sein, die Nebenbedeutung kann trotzdem gut einem m.o.w. akzidentellen Ausfall von willen geschuldet sein.

Der Genitiv von Wille ist auch nicht Willen, sondern Willens.

Agricola

#26
Ich vermute, dass es sich bei um ... willen um eine erstarrte Form handelt, bei der "willen" der Akkusativ des Substantivs war. Der Genitiv ist dann ganz selbstverständlich. Es könnte aber auch die Verkürzung eines Satzes wie "um ... Willen entgegenzukommen", dann wäre "um" gar keine Präposition, sondern eine Konjunktion.
Das mit dem ausgelassenen "willen" leuchtet mir auch ein. Dafür gibt es ja auch Beispiele, wie das berühmte Wort, das alle drei Geschlechter gleichzeitig aufweist: "Dat di der Deubel!"
The future lies in front of me,
but "lies" is all that I can see.

Kilian

Zitat von: Agricola in 2006-07-25, 01:54:08Ich vermute, dass es sich bei um ... willen um eine erstarrte Form handelt, bei der "willen" der Dativ des Substantivs war.

Wahrscheinlicher ist Akkusativ - Dativ taucht ja nur sporadisch mit um auf.

Agricola

#28
Zitat von: Kilian in 2006-07-25, 14:41:36
Zitat von: Agricola in 2006-07-25, 01:54:08Ich vermute, dass es sich bei um ... willen um eine erstarrte Form handelt, bei der "willen" der Dativ des Substantivs war.

Wahrscheinlicher ist Akkusativ - Dativ taucht ja nur sporadisch mit um auf.
Wollte ich auch schreiben, und habe ich dementsprechend edoren.
The future lies in front of me,
but "lies" is all that I can see.

Kilian

Was korrekterweise edoren heißen sollte. :D