Genitiv des Ausrufs

Begonnen von Kilian, 2006-05-26, 09:58:44

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Kilian

Ich erhielt gerade Post aus Tokyo bzgl. des Genitivs des Ausrufs, der bei Nietzsche häufiger anzutreffen sei:

"Oh des goldenen runden Reifs - wohin fliegt er wohl?"
"Lass mich doch! Still! Ward nicht die Welt eben vollkommen? Oh des goldnen runden Balls!"
(Also sprach Zarathustra)

"Oh des armen Vogels, der sich frei gefühlt hat und nun an die Wände dieses Käfigs stößt!" (Der Mensch im Horizont des Unendlichen)

Weiß jemand, woher dieser Genitv bzw. wie Nietzsche darauf kommt?

AmelieZapf

Hallo Kilian,

Zitat von: Kilian in 2006-05-26, 09:58:44
Weiß jemand, woher dieser Genitv bzw. wie Nietzsche darauf kommt?

Keine Uhn, woher das kommt. Aber einen Namen hat es verdient: Genitivus exclamationis ssp. nietzschianus.
Religion heute:
Ex oriente deus,
ex machina lux.

Kilian

#2
Dem Russischen scheint der G.e. er nicht gänzlich unbekonnen zu sein, wenn auch nur Google einen Text mit diesem Begriff findet (bzw. dreimal den gleichen).

caru

#3
herr r. wagner benutzt hier einmal "O der Pein!", ein anderes mal "O weh, der Pein!"



edit:

und heißa! er benutzt auch die präposition "um" mit genitiv!

"Um deiner jungen Missetat
hantier' ich jetzt mit Ahl und Draht..."

auf die liste, auf die liste!
(\___/)
(>´x´<)
('.')__('.')

Nijntje - de echte nederlandse konijn

caru

Zitat von: Kilian in 2006-05-26, 14:56:38
Dem Russischen scheint der G.e. er nicht gänzlich unbekonnen zu sein, wenn auch nur Google einen Text mit diesem Begriff findet (bzw. dreimal den gleichen).

bist du dir des sicher? ich finde da immer nur den accusativus exclamationis - und den gibts immerhin auch im latein, griechischen und (eher selten) sanskrit.
(\___/)
(>´x´<)
('.')__('.')

Nijntje - de echte nederlandse konijn

Kilian

Nö, des bin ich nicht sicher. Das waren nur spontane Fundstücke aus dem Allwissenden Mülleimer.

AmelieZapf

Es dünkt mir, daß der G. e. das Ziel verfolgt, des Lesers Augenmerk auf den Gegenstand zu richten, wohingegen der N. e. resp. A. e. vielmehr des Ausrufers Betroffenheit ob des, was dem Gegenstand just widerfährt, zum Ausdruck bringt.

Gruß,

A. Z.
Religion heute:
Ex oriente deus,
ex machina lux.

caru

und äußert nicht zarathustra gerade betroffenheit ob des armen vogels? und stammen die beiden wagnerschen "o der pein" nicht aus selbstgesprächen von opernfiguren? wessen aufmarks sollten die erregen wollen?

und läßt sich beim ausruf eines autors tatsächlich zwischen dessen persönlicher betraff und einem appell an die aufmarks des lesers unterscheiden?
(\___/)
(>´x´<)
('.')__('.')

Nijntje - de echte nederlandse konijn

amarillo

Zitat von: AmelieZapf in 2006-05-27, 00:25:11
Es dünkt mir, daß der G. e. das Ziel verfolgt, des Lesers Augenmerk auf den Gegenstand zu richten, wohingegen der N. e. resp. A. e. vielmehr des Ausrufers Betroffenheit ob des, was dem Gegenstand just widerfährt, zum Ausdruck bringt.

Kurzer Abschwiff:

Benutzt Ihr alle 'dünken' mit dem Dativ (mir dünkt / deucht)? Mir war bislang nur die Akkusativvariante geläufig (mich dünkt / deucht).
Vorsichtiges Googeln ergab eine fast fifty-fiftige Verteilung. Stehen also beide Molgen gleichberachtogen nebeneinander?  
Das Leben strebt mit Urgewalt nach Entstehung und Musik.

caru

Gestatte, daß an diesem Orte - mein alter Freund Abu Seid für uns antworte:

"Mein Volk, laß dir verkündigen – die Regeln, die bindenden, bündigen, – gegen welche die Sinnigen nicht sündigen. – Der Dativ ist hier statuiert – und der Accusativ sanktioniert; – beide stehn in voller Eintracht und vollkommener Einheit – mit der grammatischen Reinheit; – doch zwischen beiden ist eines Unterschiedes Feinheit, – die sich nicht läßt erfassen von eines Gesetzes Allgemeinheit."
(\___/)
(>´x´<)
('.')__('.')

Nijntje - de echte nederlandse konijn

amarillo

#10
Die Antwort macht, wie mir/mich deucht,
die Anwund dieses 'Dünkens' leucht,
und fürderhin, des bin gewiss ich,
verwend ich's frei, verwegen, schmissig! :D

Zurück zum Thema: ich habe leider nicht den geringsten Dunst, woher dieser Genitiv stammt, aber er klingt so gut, daß ich versuchen will, ihn in meine Spreche zu integrieren. "Oh des Kotes!" ist gesellschaftlich auch wesentlich erträglicher, als die an dieser Stelle sonst üblichen Fäkalbeschwörungen - wie mich deucht. ;D
Das Leben strebt mit Urgewalt nach Entstehung und Musik.

AmelieZapf

Noch ein schöner Genitiv (auf Finnisch ja nett: Genitiivi) für die Liste, der bei Bach/Picander, Libretto der Matthäuspassion auftritt:

kennen: Ich kenne des Menschen nicht.

Gruß,

Amy
Religion heute:
Ex oriente deus,
ex machina lux.

MrMagoo

Zitat von: Kilian in 2006-05-26, 09:58:44
Ich erhielt gerade Post aus Tokyo bzgl. des Genitivs des Ausrufs, der bei Nietzsche häufiger anzutreffen sei:

"Oh des goldenen runden Reifs - wohin fliegt er wohl?"
"Lass mich doch! Still! Ward nicht die Welt eben vollkommen? Oh des goldnen runden Balls!"
(Also sprach Zarathustra)

"Oh des armen Vogels, der sich frei gefühlt hat und nun an die Wände dieses Käfigs stößt!" (Der Mensch im Horizont des Unendlichen)

Weiß jemand, woher dieser Genitv bzw. wie Nietzsche darauf kommt?


Wahrscheinlich eine Kürzung aus "Oh (Weh, Schmerz sei, ist) des armen Vogels", also die Erkenntnis, daß der Schmerz, das Leid dem Vogel eigen ist... ;)
Wâ mag ich mich nu vinden? wâ mac ich mich nu suochen, wâ? nu bin ich hie und bin ouch dâ und enbin doch weder dâ noch hie. wer wart ouch sus verirret ie? wer wart ie sus zerteilet mê?
(Gottfried von Straßburg)

MrMagoo

Zitat von: amarillo in 2006-05-27, 09:24:59
Kurzer Abschwiff:

Benutzt Ihr alle 'dünken' mit dem Dativ (mir dünkt / deucht)? Mir war bislang nur die Akkusativvariante geläufig (mich dünkt / deucht).
Vorsichtiges Googeln ergab eine fast fifty-fiftige Verteilung. Stehen also beide Molgen gleichberachtogen nebeneinander?  


Viel interessanter finde ich, daß wir es hier anscheinend mit einem neuen Präterito-Präsens zu tun haben...

"deucht(e)" ist nämlich ursprünglich das Präteritum zu dünken.
Kennt ihr noch weitere solcher Fälle, in denen die ursprüngliche Form des Präteritums zum Präsens geworden ist (mit Ausnahme der "wirklichen" Präterito-Präsentien natürlich)?
Wâ mag ich mich nu vinden? wâ mac ich mich nu suochen, wâ? nu bin ich hie und bin ouch dâ und enbin doch weder dâ noch hie. wer wart ouch sus verirret ie? wer wart ie sus zerteilet mê?
(Gottfried von Straßburg)

Kilian

Vielleicht in Einzelfällen, wenn man auf der Suche nach dem Präsens zu erkoren nach der richtigen Form ringt: "Du hast die gelben Düppchen erkoren? Dann er...kore ich mich mir die roten."