Präterito Präsentien

Begonnen von lodigo, 2006-05-29, 14:43:03

Vorheriges Thema - Nächstes Thema

lodigo

Hallo,

ich bitte - so möglich - mal um entsprechende Aufklärung, weil ich mit den gängigen Tabellen zu den Präterito-Präsentien einfach nichts anfangen kann.
Wenn ich das recht verstehe, dann sind PP doch solche Verben, deren - stark flektierte - Präteriumsformen die Funktion des Präsens angenommen haben, und bei denen sich im Anschluss daran eine neue Präteritumsform, nunmehr schwach flektiert, herausgebildet hat - oder ist das alles ganz anders?

Und kann mir mal jemand an einem Beispiel erklären, wie das vonstatten gegangen sein soll? Ich kenne das Beispiel wissen, kapier's aber nicht.

Was war zuerst da, wohin hat es sich entwickelt und was kam an die "leere" Stelle im Paradigma? Und wenn jemand weiß, wie das mit dem Verb mögen funktioniert - immer her mit den Infos.

Danke und Gruß

Lodigo

Kilian

Willkommen, Lodigo!

"Unser" Experte für Präterito-Präsentien und historische Sprachentwicklung allgemein ist MrMagoo, der sich sicher bald hier zu Wort melden wird...

Einstweilen verweise ich auf seine Übersicht über die deutschen Verbgruppen, in denen zumindest die Grundlagen der P.-P. auftauchen.

MrMagoo

Hallo und willkommen, lodigo!

Da hast Du Dir aber ein komplexes Feldchen ausgesucht für Deinen ersten Beitrag! ;)

Die Präterito-Präsentien...
Dank der freundlichen Verlinkung von Kilian muß ich zur Bildung nicht mehr viel sagen, oder?! ;)


Zitatich bitte - so möglich - mal um entsprechende Aufklärung, weil ich mit den gängigen Tabellen zu den Präterito-Präsentien einfach nichts anfangen kann.
Wenn ich das recht verstehe, dann sind PP doch solche Verben, deren - stark flektierte - Präteriumsformen die Funktion des Präsens angenommen haben, und bei denen sich im Anschluss daran eine neue Präteritumsform, nunmehr schwach flektiert, herausgebildet hat - oder ist das alles ganz anders?

Nein, das hast Du genau richtig erfaßt. Alles in Ordnung. :D


ZitatUnd kann mir mal jemand an einem Beispiel erklären, wie das vonstatten gegangen sein soll? Ich kenne das Beispiel wissen, kapier's aber nicht.

Was war zuerst da, wohin hat es sich entwickelt und was kam an die "leere" Stelle im Paradigma? Und wenn jemand weiß, wie das mit dem Verb mögen funktioniert - immer her mit den Infos.


Nun, Du mußt Dir das folgendermaßen vorstellen;
Ich bleibe jetzt mal beim Beispiel "wissen":

"wissen" ist ursprünglich ein Präteritum (sprachhistorisch und formal gesehen entspricht das Präteritum der germanischen Sprachen dem indogermanischen Perfekt, so beispielsweise auch dem Perfekt des Lateinischen). Die ursprünglichen Präsensformen dieses Verbs sind verlorengegangen.

"wissen" ist etymologisch verwandt mit dem lateinischen Verbum "videre" (= "sehen").
Unsere heutige Form "weiß" deckt sich Laut für Laut mit dem Lateinischen "vidi" (= Perfekt: "ich habe gesehen").

Die Grundbedeutung von "ich weiß" ist also "ich habe gesehen und dadurch kenne ich", es wird dem Zustand des "Wissens" eine Art Prozeß vorausgesetzt, der zu diesem Zustand führt, und eben dieser Prozeß ist bereits abgeschlossen, daher die Perfekt- bzw. Präteritumform. Die ursprüngliche Präteritumform hat also durch diese Entwicklung Präsensbedeutung angenommen.

Ob durch diese Entwicklung die Präsensformen überflüssig wurden und weggefallen sind oder ob die Präteritumformen Präsensbedeutung annahmen weil die alten Formen der Gegenwart weggefallen sind, weiß ich leider auch nicht.


Jetzt zu mögen:

"mögen" heißt ursprünglich können, noch erkennbar in der Zusammensetzung vermögen.

Im Gegensatz zum Verb "können", welches nur die intellektuelle Fähigkeit ausdrückte (also das "Sich-auf-etwas-verstehen"), beschrieb "mögen" das potentielle Können, die Macht haben, etwas zu tun.

Ähnlich wie bei "wissen" kann man auch hier davon ausgehen, daß dem Zustand des "Könnens" ein Prozeß vorausging; urverwandt sind z.B. altpersisch "magus" (= Magier, Zauberer), griechisch "mechos" (= Hilfsmittel), also vielleicht ein über Zauberei oder über gewisse Hilfe angeeignetes Können.

Die Bedeutung "gern haben" entstammt dem negativen nicht mögen (= "nicht leiden können").


Ich hoffe, ich konnte Dir den Zusammenhang ein wenig erläutern,
wenn Du aber noch Fragen hast, versuche ich natürlich gern, Dir weiterzuhelfen!


Alles Gute und bis bald
-Jens
Wâ mag ich mich nu vinden? wâ mac ich mich nu suochen, wâ? nu bin ich hie und bin ouch dâ und enbin doch weder dâ noch hie. wer wart ouch sus verirret ie? wer wart ie sus zerteilet mê?
(Gottfried von Straßburg)

Agricola

Zitat von: MrMagoo in 2006-05-29, 21:35:34
Ob durch diese Entwicklung die Präsensformen überflüssig wurden und weggefallen sind oder ob die Präteritumformen Präsensbedeutung annahmen weil die alten Formen der Gegenwart weggefallen sind, weiß ich leider auch nicht.
Im Lateinischen gibt es Fälle, in denen das Perfekt Präsenzbedeutung angenommen hat, ohne dass dabei das Präsenz weggefallen wäre (noscere: kennenlernen, novisse: kennen) und andere, wo das Präsenz nicht mehr existiert (meminisse: erinnern).
The future lies in front of me,
but "lies" is all that I can see.

MrMagoo

Zitat von: Agricola in 2006-05-29, 23:20:52
Zitat von: MrMagoo in 2006-05-29, 21:35:34
Ob durch diese Entwicklung die Präsensformen überflüssig wurden und weggefallen sind oder ob die Präteritumformen Präsensbedeutung annahmen weil die alten Formen der Gegenwart weggefallen sind, weiß ich leider auch nicht.
Im Lateinischen gibt es Fälle, in denen das Perfekt Präsenzbedeutung angenommen hat, ohne dass dabei das Präsenz weggefallen wäre (noscere: kennenlernen, novisse: kennen) und andere, wo das Präsenz nicht mehr existiert (meminisse: erinnern).

Genau - das ist dasselbe Phänomen:
Das Perfekt, das Präsensbedeutung angenommen hat, hat ja nun auch eine leicht abweichende Bedeutung:
noscere: kennenlernen
novi: kenne (=Abschluß, Resultat des Kennenlernens).

Vgl.
videre: sehen
weiß (< vidi): kenne (=Abschluß, Resultat des Sehens, Betrachtens).


Bei "meminisse" ist das Präsens weggefallen, wie auch bei den deutschen Präterito-Präsentien.
"odi" (= "ich hasse") gehört auch noch zu dieser Gruppe.
Wâ mag ich mich nu vinden? wâ mac ich mich nu suochen, wâ? nu bin ich hie und bin ouch dâ und enbin doch weder dâ noch hie. wer wart ouch sus verirret ie? wer wart ie sus zerteilet mê?
(Gottfried von Straßburg)

MrMagoo

Übrigens: Auch gönnen, taugen und genügen waren ursprünglich Präterito-Präsentia.

Dazu kommen noch die ausgestorbenen eigen (= haben, besitzen; vgl. engl. "own") und türren (= wagen, den Mut haben; vgl. engl. "dare").
Wâ mag ich mich nu vinden? wâ mac ich mich nu suochen, wâ? nu bin ich hie und bin ouch dâ und enbin doch weder dâ noch hie. wer wart ouch sus verirret ie? wer wart ie sus zerteilet mê?
(Gottfried von Straßburg)

lodigo

Hallo ihr fleißigen (Be)Antworter,

vielen Dank erstmal für das Willkommen und natürlich auch für die ausführlichen Erläuterungen. So langsam beginnt sich der Dschungel um die Präterito-Präsentia (ich habe gelernt: Präterito-Präsentien  - ist das auch richtig?) zu lichten; die Betonung liegt zwar auf langsam, aber die Erklärungen sind schon gut zu verstehen, ich muss mich da nur vorantasten.

Ein paar Dinge sind mir noch unklar: Mr. Jens Magoo ( ;) )schreibt, wissen sei ursprünglich ein Präteritum. Aber wissen (also genau diese Wortform) ist doch ein Infinitiv - und ein Infinitiv kann doch gar keine Zeit haben, oder? ???

Ist es also richtig, davon auszugehen, dass lediglich die sechs Wortformen des Paradigmas von wissen die (ursprünglichen) Präterialformen sind (also weiß, weißt, weiß, wissen, wisst, wissen)? Wurde dann der Infinitiv wissen, also die "Nennform" oder das Lexem oder Lemma, von der 1. oder 3. Person Plural abgeleitet? Wie hieß wissen , bevor es zum Präteritum wurde? Hm.

Und wenn das neue Präteritum nunmehr schwach flektiert wird, warum heißt es dann nicht:
wissen:
ich wisste
du wisstest
er wisste
wir wissten
ihr wisstet
sie wissten?

Der Rückumlaut ist doch laut Liste nur von "e" zu "a"? (brennen - brannte)
Nochmal Hm.
Naja, aber das sind ja nur "krümelkackrige" Fragen.  ;)

Im Grunde hab ich das jetzt kapiert.
mag, magst, mag, mögen, mögt, mögen sind also die ursprünglichen Präterialformen von mögen, die die Funktion des Präsens übernommen haben, und mochte, mochtest usw. sind neu gebildete Präterialformen in schwacher Flektion, richtig?

Also, danke nochmal - und ein paar Fragen werden mir vermutlich noch einfallen, muss jetzt leider arbeiten...

Lodigo

MrMagoo

Zitat von: lodigo in 2006-05-30, 12:02:49
Hallo ihr fleißigen (Be)Antworter,

vielen Dank erstmal für das Willkommen und natürlich auch für die ausführlichen Erläuterungen. So langsam beginnt sich der Dschungel um die Präterito-Präsentia (ich habe gelernt: Präterito-Präsentien  - ist das auch richtig?) zu lichten; die Betonung liegt zwar auf langsam, aber die Erklärungen sind schon gut zu verstehen, ich muss mich da nur vorantasten.

Ja, "Präsentien" ist auch richtig.


ZitatEin paar Dinge sind mir noch unklar: Mr. Jens Magoo ( ;) )schreibt, wissen sei ursprünglich ein Präteritum. Aber wissen (also genau diese Wortform) ist doch ein Infinitiv - und ein Infinitiv kann doch gar keine Zeit haben, oder? ???

Jein: Von den Präterito-Präsentien ist ein Infinitiv neu gebildet worden.
Diese Neubildung eines Infinitivs und auch des Partizips 2 für diese Verbgruppe ist noch nicht so alt; noch im Mittelhochdeutschen gab es für die meisten Präterito-Präsentien kein Partizip2.
Vgl. hier mit dem Englischen, wo für die entsprechenden Modalverben keine Infinitive neu gebildet wurden:

I, you, he, we, you, they can, may, shall
neugebildetes Präteritum, heute aber meist als Konjunktiv benutzt: could, might, should
Infinitiv und Partizip2: nicht vorhanden!

Es gibt also keine Infinitivformen "*to can, *to may, *to shall" und man kann keine direkten Übersetzungen von
"ich habe gekonnt/gemocht/gesollt" bilden!


ZitatIst es also richtig, davon auszugehen, dass lediglich die sechs Wortformen des Paradigmas von wissen die (ursprünglichen) Präterialformen sind (also weiß, weißt, weiß, wissen, wisst, wissen)? Wurde dann der Infinitiv wissen, also die "Nennform" oder das Lexem oder Lemma, von der 1. oder 3. Person Plural abgeleitet? Wie hieß wissen , bevor es zum Präteritum wurde? Hm.

Haargenau so ist es!


ZitatUnd wenn das neue Präteritum nunmehr schwach flektiert wird, warum heißt es dann nicht:
wissen:
ich wisste
du wisstest
er wisste
wir wissten
ihr wisstet
sie wissten?

Richtig!
Ursprünglich hießen die Formen auch so; noch im Mittelhochdeutschen hieß es "ich wiste" oder "weste, assimiliert auch: wisse oder wesse.


ZitatDer Rückumlaut ist doch laut Liste nur von "e" zu "a"? (brennen - brannte)
Nochmal Hm.
Naja, aber das sind ja nur "krümelkackrige" Fragen.  ;)

Auch richtig!
Die Veränderung von i>u bei "wußte" hat wohl was mit einer Verdumpfung zu tun, die mit dem anlautenden "w" zusammenhängt, welches ja eigentlich ein konsonantisches "u" ist bzw. war (gl. wiederum mit dem Englischen).

Was genau hier die Gründe sind, wollte ich immer schonmal nachsehen, habe es bisher aber immer wieder vergessen! :(
Ich versuche mal, in nächster Zeit an weitere Informationen hierzu zu kommen. ;)


ZitatIm Grunde hab ich das jetzt kapiert.
mag, magst, mag, mögen, mögt, mögen sind also die ursprünglichen Präterialformen von mögen, die die Funktion des Präsens übernommen haben, und mochte, mochtest usw. sind neu gebildete Präterialformen in schwacher Flektion, richtig?

Jupp, genau! ;)


ZitatAlso, danke nochmal - und ein paar Fragen werden mir vermutlich noch einfallen, muss jetzt leider arbeiten...

Lodigo

Bitte bitte, bis die Tage! ;)

Gruß
-MrMagoo
Wâ mag ich mich nu vinden? wâ mac ich mich nu suochen, wâ? nu bin ich hie und bin ouch dâ und enbin doch weder dâ noch hie. wer wart ouch sus verirret ie? wer wart ie sus zerteilet mê?
(Gottfried von Straßburg)

lodigo

He MrMagoo,

danke! Bin ich wieder ein Stück schlauer. Gibt's hier eigentlich auch einen Thread, 'tschuldigung, Faden (will ja die Konventionen nicht ignorieren), in dem man was über die Schreiber, Schreiberinnen, Schreibsler, Schreibslerinnen usw. erfahren kann? Ich bin zwar auch schon selber drauf gekommen, dass vermutlich nur wenige Berufsbusfahrer, Überzeugungs-Kindergärtnerinnen und aus Leidenschaft An-der-Theke-bei-Aldi-Verkaufende dabei sind (wobei: "Man weiß nie", würde der kleine Prinz sagen), aber so interessehalber...

Also, gibt's sowas?

Kilian

Ein filigranes Gewebe von Andeutungen und Hinweisen durchzieht das Forum, aber an einen eigenen Faden dafür kann ich mich nicht erinnern...

Stollentroll

Dann eröphne einen, oh weiser Herrscher dieses unseres Vorums !
3 Dinge sagen immer die Wahrheit : Kinder, Besoffene und Leggings.

Ku

#11
Zitat von: Stollentroll in 2006-05-30, 17:10:55
Dann eröphne einen, oh weiser Herrscher dieses unseres Vorums !
Wenn ein Mitglied in seinem Prophil nix über sich sagt, wird es das in einem Extra-Phaden auch nicht tun, sehe ich mal schwarz. Vielleicht müche man einen Nur-phür-Mitglieder-Phaden speziell phür solche Nachrichten auph. Möglicherweise auch als Prophil-Beinkleid: Ratet mal, wes Geschlechts, welchen Alters, wo wohnhaft ich bin, welche Sprachen und welchen Dialekt ich sprechen tue, womit ich meinen Champagner und Kaviar verdiene, wes meine Hobbits sind, welchen Abartigkeiten ich fröne und wie oft und ob ich daran glaube, dass Deutschland Phußballweltmeister wird.

lodigo

Hallo,

ja, einen Extra-Faden sollte es geben! Ich kenne das aus anderen Foren so, da können dann halt keine Gäste oder bösartige Fremde reinschauen...

Und, Ku: Wenn ein Mitglied in seinem Profil nichts über sich sagt, so heißt das noch lange nicht, dass es unter bestimmten Bedingungen nicht doch aussagebereit wäre betreffs seiner sämtlichen angeborenen und erlernten (oder mangels dieser seiner ausgedachten) Perversionen... ;)

Also, wat is nu mit dit Fadendingens?