grenzen der genitivsamkeit

Begonnen von caru, 2004-12-29, 00:50:27

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caru

da befand ich nun anläßlich weihnachtlicher klassikerlektüre, daß man essen und trinken (wie gemäß sind diese verben der jahreszeit!) in die genitivliste aufzunehmen hätte:

Also sprach er; und schnell jener des Fleisches, begierig
Trank er des Weins, und schwieg; er dachte der Freier Verderben.

(Odyssee XIV 109f., deutsch von J. H. Voss)


klar, das sind partitive genitive, aber sie hängen doch von den verben ab, man kann sie nicht einfach mit jedem verb verwenden, also z.b. sagen "ich schreibe der weihnachtskärtchen" oder "ich wasche des geschirrs ab". oder kann man?

Diesem befahl der Held Menelaos, Feuer zu machen
Und des Fleisches zu braten.

(ebenda XV 96f.)


braten in die genitivliste aufzunehmen geht uns wohl allen ein bißchen zu weit, hm? aber warum dann essen und trinken, wenns dieselbe konstruktion ist? oder seh ich das falsch?
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Nijntje - de echte nederlandse konijn

Kilian

Zitat von: caru in 2004-12-29, 00:50:27man kann sie nicht einfach mit jedem verb verwenden, also z.b. sagen "ich schreibe der weihnachtskärtchen" oder "ich wasche des geschirrs ab". oder kann man?

Dass uns das komisch vorkommt, liegt m. E. nicht an den Verben, sondern an dem alltäglichen Zusammenhang. Im Alltag würden wir genauso wenig sagen "Ich esse des Bratens" oder "Ich trinke des Weins" wie "Ich wasche des Geschirrs ab".

Ich meine also: essen, trinken, braten, abwaschen, schreiben - alles der gleiche Fall, gehört alles nicht auf die Liste.

gehabt gehabt

Wenn man es ab und an gebraucht zu sagen, "gib mir noch etwas Weins" gewoehnt man sich dran. Probiers mal aus. Aber Auslandsdeutsche sprechen ja haeufig ein etwas altvaeterliches deutsch.

caru

@kilian:

wenn dem so ist, was ist dann aber mit wünschen? ist das nicht genau dieselbe konstruktion? ich möchte um himmels willen nicht, daß das hübsche veldeke-zitat aus der liste verschwände.


und von wegen mittelhochdeutsch: kürzlich wurde "breit" (eines fingers breit) in die liste aufgenommen. nun gebruch man im mittelhochdeutschen mit adjektiven, die meßbare größen ausdrücken, überhaupt gerne des genitivs (g. limitationis oder mensurae):

Der schild was under buckeln,   als uns daz ist gesaget,
wol drîer spannen dicke

(Nibelungenlied 437ab)

der lewe lief nâch dem schuzze   wan drîer sprünge lanc

(ibd. 936c)


sollte dieser genitivgebrauch auch mit anderen wörtern als "breit" im neuhochdeutschen aufzufinden sein, müßte man die meßbare-größe-adjektive wohl samt und sonders auf die liste setzen.
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Nijntje - de echte nederlandse konijn

Kilian

Zitat von: caru in 2004-12-30, 18:25:28wenn dem so ist, was ist dann aber mit wünschen? ist das nicht genau dieselbe konstruktion?

Gute Frage - daran haben Andreas, der es einsandte, und ich, auch lange überlegt. Ich denke, dass das hier nicht gut ein partitiver Genitiv sein kann, weil der rîs (der Strang) und das paradîs nicht unzählbar sind. "Wie viel Paradies hättense denn gern?", müsste man fragen. ;) Außerdem ist wünschen laut dem Mhd.-Wörterbuch meiner Gewährsfrau in der in Frage kommenden Bedeutung intransitiv und wird anscheinend mit Genitiv konstruiert. Nun beschäftigt sich unsere Liste ja eigentlich nur mit Neuhochdeutschem, aber Andreas wollte so gerne etwas von einem mittelhochdeutschen Dichter drinhaben, da konnte ich einfach nicht nein sagen. ;)

Zitatsollte dieser genitivgebrauch auch mit anderen wörtern als "breit" im neuhochdeutschen aufzufinden sein, müßte man die meßbare-größe-adjektive wohl samt und sonders auf die liste setzen.

Nichts dagegen, allerdings verlange ich dann auch für jedes einzelne Adjektiv einen Beleg. ;D Denn dann kann man es so sehen, dass dieser Genitivgebrauch im Neuhochdeutschen keine Regel mehr ist, sondern nur noch in Verbindung mit diesen besonderen Wörtern auftritt - die Rechtfertigung dafür, dass diese Wörter einzeln auf der Liste stehen.

caru

#5
die frage wäre dann nur noch, ob das mhd.-wörterbuch deiner gewährsdame sich nicht ausgerechnet auf diese stelle beruft, so daß sich der lexik-wurm in den allerwertesten bisse. (dergleichen spiele sind mir mit wörterbüchern diverser entlegenerer sprachen geläufig, mit mhd. sind meine erfahrungen begronzen.)


ja klar, belegstellen werden nicht ausbleiben, so ich ihrer habhaft werde. du weißt ja,

si panis sinapis


und bevor ichs vergesse: ich glaube, daß herr von veldeke mit dem rîs den "ast" des galgen"baumes" meinte, also den querbalken, an dem der strick befestigt ist, und nicht den strick selbst.
klar, rîs bedeutet "zweig" - aber ein zweig hat mit einem ast bedeutend mehr ähnlichkeit als mit einem herabhängenden strick oder seil, zumal in deutschland keine lianen wachsen.
jedenfalls hatte ich die stelle so verstanden.
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caru

#6
dacht ichs doch. nun ja, nicht grade die gestrige tageszeitung, aber neuhochdeutsch isses.

lang

Darzwischen (=zwischen den Blättern der Anemone) wachsen herauss ii. oder iii. glatter blosser Stengel einer Spannen lang/ an dem kommen uber der Helfft herauss/ dreyfache zertheilte Bletter/ die seynd kleiner und auch tieffer zerschnitten als die understen...  J. T. Tabernaemontanus, Neu vollkommentlich Kreuterbuch (1588)





wie wärs im übrigen mit

Furcht

Die wahre Furcht Gottes muß Empfindung, muß Wahrheit in uns sein.   Matthias Claudius

?
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gehabt gehabt

Furcht ist ein Substantiv und so ungefaehr jedes Substantiv kann ein Genitivattribut haben, diese stehen aber hier nicht zur Debatte weil trivial.. Und dieser Genitiv kann ein Genitivus Subiectivus oder Obiectus sein.  Die Mutterliebe  (die Mutter liebt jemanden  = subjectivus) die Vaterlandsliebe (das Vaterland wird geliebt =objectivus).

ANderes Beispiel fuer einen GO: Thraenen des Vatterlands   (Andreas Gryphius)

Kilian

Zitatrîs, rîz stn. reis, zweig (rîs als rechtssymbol wie halm); strang aus gedrehten zweigen = wide; stange, baum; baumzweige, reisig; gebüsch, gesträuch.

Matthias Lexers Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch, Stuttgart: Hirzel, 1979

Du magst Recht haben, aber Strang scheint mir noch etwas wahrscheinlicher - wenn man jemanden aufhängen will, braucht man ja schon einen eindeutigen Ast und keinen astähnlichen Zweig. ;)

lang ist aufgenommen. Bei Furcht bin ich geneigt, mich gehabt gehabt anzuschließen, auch wenn dieser Genitivus obiectivus natürlich ungewöhnlich und auffällig ist.

caru

#9
da erwädere ich nun gerne: je nun, wenn unter rîz auch "stange, baum" im lexikon steht, dann kann es sogar auch den ganzen galgen bedeuten.


sind die substantive, zu denen regelmäßig ein genitivus obiectivus tritt, nicht an einer hand abzählbar? hmmm.

("tränen des vaterlandes" akzeptiere ich nicht als beispiel: das gedicht, dessen titel so lautet, stellt zwar nicht klar, aber läßt durchaus zu, daß das vaterland die tränen weint.)
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Kilian

#10
Zitatsind die substantive, zu denen regelmäßig ein genitivus obiectivus tritt, nicht an einer hand abzählbar? hmmm.

Sehr häufig scheint mir der Genitivus obiectivus zu Tätigkeitssubstantiven zu treten, z. B. auf -ung, aus Infinitiven oder andere unmittelbar aus transitiven Verben abgelittene:

Die Beobachtung des Kindes. (Hier bräuchte man mehr Kontext, um zwischen substantivus und obiectivus zu unterscheiden.)
Das Verbrennen der Opfergaben.
Die Bekanntgabe des Gesetzes.

Furcht
fällt eigentlich auch darunter; man spricht ja davon, dass man Gott fürchtet.

caru

dann lassen wir das mit der furcht besser mal. so etwas wie "die furcht der GSV" gibt es ohnehin nicht  ;D
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