Adverb

Begonnen von amarillo, 2005-01-20, 18:09:36

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Kilian

Zitat von: amarillo in 2005-01-25, 18:28:40Aber daß schrittweise eine um das Verb gelegte  substantivierende Schale durchdringt, wird mich noch einige Nächte wachhalten - versprochen. :-\

Bei substantivorenen Adjektiven funktioniert es übrigens wirklich:
"Die Schulbildung entäußerte sich des scheinbar Überflüssigen."
scheinbar bleibt Adverb.

amarillo

und das stimmt auch für's Englische: "The apparently beautiful entices us into artistic work."

Ist es denn ein so großer Unterschied, ob ich Verben nominalisiere oder Adjektive? Offenbar. Seltsam dann, daß das substantivorene Verb (meiner unmaßgeblichen Meinung nach) kein Adverb, sondern ein Adjektiv nur erträgt.
Das Leben strebt mit Urgewalt nach Entstehung und Musik.

gehabt gehabt

Die scheinbar Reichen und die scheinbar Schoenen treffen sich im Cafe Lateral.
(Adverb+substantiviere Adjektive)

Die scheinbar Widersprechenden haben eine dicke Provision kassiert.
(Adverb+subst. Verb)


Das sind nur scheinbare Widersprueche.

(Adjektiv+subst. Verb)

Aber: das sind anscheinend Widersprueche
(Adv+subst Verb) allerdings ist anscheinend wohl immer Adverb
Wenn aber jemand sagt: "Das sind scheinbar Widersprueche", versteht er mit grosser
Woahscheinlichkeit den Unterschied zwischen scheinbar und anscheinend nicht.

Warum verlangt Widersprechende nach einem Adverb aber Widersprueche nach
einem Adjektiv

amarillo

Vielleicht weil sich die "Widersprechenden" aus dem Partztip Präsens ableitet, welches ja selbst auch adjektivisch zu verwenden ist?

Mein Hund bellt ständig (Adverb)

Ich habe einen ständig (Adverb) bellenden (adjektivischer Gebrauch des Part. Präs.) Hund.

Das ständige (Adjektiv) Bellen nervt

Wirf ihn hinaus, den ständig (Adverb) Bellenden.

Wäre für mich im Moment die einzige Vermutung. ???
Das Leben strebt mit Urgewalt nach Entstehung und Musik.

Kilian

Zitat von: amarillo in 2005-02-01, 12:02:23Ist es denn ein so großer Unterschied, ob ich Verben nominalisiere oder Adjektive? Offenbar. Seltsam dann, daß das substantivorene Verb (meiner unmaßgeblichen Meinung nach) kein Adverb, sondern ein Adjektiv nur erträgt.

Wahrscheinlich liegt es daran, dass das (ich sprech jetzt mal ungestorken, ganz seriös) substantivierte Adjektiv noch näher am unsubstantivierten Adjektiv dran ist als das substantivierte Verb am unsubstantivierten Verb. Denn es gehört ja schon vorher zu einer deklinierten Wortart und behält seine adjektivische Deklination bei der Substantivierung, während das Verb vorher eine Konjugation hat, die ihm bei der Substantivierung genommen wird. Es kriegt eine starke Deklination.

"Sie entäußerte sich des scheinbar überflüssigen Zeuges." vs. "Sie entäußerte sich des scheinbar Überflüssigen." - Da fällt nur das Bezugssubstantiv weg, die Deklination ändert sich nicht. Man könnte "Überflüssigen" fast auch weiterhin klein schreiben und ein imaginäres, ausgefallenes Substantiv konstruieren, auf das es sich bezieht. (Könnte es vielleicht sein, dass es im Englischen - wo es die Großschreibungsfrage nicht gibt - tatsächlich so gehandhabt wird?)

{{{Deswegen, gehabt gehabt, steht in deinem Beispiel auch das Adverb vor dem substantivierten Partizip: "Die scheinbar Widersprechenden" - das heißt ja nicht, dass die Leute scheinbar sind (so wie die Widersprüche), sondern dass die Tatsache, dass sie widersprechen, scheinbar ist. Wie im Beispiel in meinem vorigen Absatz bezieht sich das Adverb auf ein Adjektiv (in diesem Fall auf ein Partizip I, das sich ja wie ein Adjektiv verhält).

ZitatWenn aber jemand sagt: "Das sind scheinbar Widersprueche", versteht er mit grosser Woahscheinlichkeit den Unterschied zwischen scheinbar und anscheinend nicht.

Dann müsste es ja auch heißen: "Die anscheinend Widersprechenden". Das würde aber die Bedeutung verändern, denn scheinbar impliziert, dass der Sprecher das Gegenteil des Scheins annimmt, wohingegen er sich bei anscheinend noch nicht so sicher ist oder das sogar annimmt, was der (erste An-)Schein vermuten lässt. anscheinend gibt es nur als Adverb, aber scheinbar kann beides sein.}}}

Wohingegen: "Er hörte nicht auf, sinnlos zu brüllen." vs. "Er hörte nicht mit dem sinnlosen Brüllen auf." - Da ändert sich die ganze Formulierung, "Brüllen" steht mit Artikel, und man hört viel deutlicher, dass man es nunmehr mit einem Substantiv zu tun hat. Daher fällt es schwerer - und ist auch standardsprachlich falsch - ein Adverb auf es zu beziehen.

amarillo

Zitat von: Kilian in 2005-02-01, 22:39:28
Wahrscheinlich liegt es daran, dass das (ich sprech jetzt mal ungestorken, ganz seriös) substantivierte Adjektiv noch näher am unsubstantivierten Adjektiv dran ist als das substantivierte Verb am unsubstantivierten Verb. Denn es gehört ja schon vorher zu einer deklinierten Wortart und behält seine adjektivische Deklination bei der Substantivierung, während das Verb vorher eine Konjugation hat, die ihm bei der Substantivierung genommen wird. Es kriegt eine starke Deklination.

Das mag so sein, ob es den wahren Sachverhalt trifft, weiß ich nicht, ich habe auch nur - wenn auch nicht so ausgefeilt - in diese Richtung vermutet.

Ins Englische täte ich wie folgt übertragen:

She got rid of all apparently redundant stuff.

She got rid of all apparently redundant.

Wobei ich sagen muß, daß die Nominalisierung eines Adjektivs dem Briten nicht so einfach über die Lippen kommt, wie uns Kontinentalgermanen.

Ein weiteres Problem ist natürlich, daß wir im Deutschen nicht immer unbedingt sehen, ob das Objekt im Zentrum unseres Ineresses nun ein Adjektiv oder ein Adverb ist, (ich helfe mir dann immer mit der Krücke "in oder auf... {Adjektiv}...Weise" geht das sinnvoll, handelt es sich um ein Adverb.

sie entäußerte sich des in scheinbarer Weise Überflüssigen
Das Leben strebt mit Urgewalt nach Entstehung und Musik.

gehabt gehabt

Ich habe nach Beispielen gesucht, in welchem man scheinbar etc sowohl als Adverb als auch als Adjektiv benutzen kann. In den beispielen, die ich hier anfuege, andert sich die Bedeutung. in anderen Beispielen mag die Bedeutungsaenderung geringer sein.


In Zimmer 2 liegt ein eingebildeter Kranker: er will, dass der Chefarzt ihm das Fruehstuck serviert.

Nach ihrer Pensionierung ist Schwester Hedwig verrueckt geworden: jeden Morgen pflegt sie mehrer eingebildete Kranke.

Eingebildet Kranke nennt man Hypochonder.

(Das einem eingebildeter Kranker fuer Hypochonder dennoch leicht ueber die Lippen geht, liegt an der ME falschen Uebersetzung des Theaterstuechs.


Fuer schwer Behinderte gibt es einen eigenen Parkplatz.

Fuer schwere Behinderter verfuegt das Schwimmbad ueber eine Hebevorrichtung.

Ich wuerde auch sprachgefuehlsmaessig folgendermassen schreiben, obwohl ich nicht weiss was Duden dazu sagt*:

Schwerbehinderte sind schwer Behinderte, die gewisse gesetzliche Kriterien erfuellen.


anscheinend benutzt man Adverb+substantiviertes Adjektiv in folgendem Sinne

ein schwer Kranker : ein Mensch der schwer krank ist
ein schwerer Kranker: ein Mensch der schwer und krank ist

ebenso mit eingebildeter Kranker


gehabt gehabt

Zitat von: amarillo in 2005-02-01, 23:17:52
Zitat von: Kilian in 2005-02-01, 22:39:28

Ein weiteres Problem ist natürlich, daß wir im Deutschen nicht immer unbedingt sehen, ob das Objekt im Zentrum unseres Ineresses nun ein Adjektiv oder ein Adverb ist, (ich helfe mir dann immer mit der Krücke "in oder auf... {Adjektiv}...Weise" geht das sinnvoll, handelt es sich um ein Adverb.

sie entäußerte sich des in scheinbarer Weise Überflüssigen

Man sieht es sofort, wenn man den Plural bildet, oder irgendeinen Fall, der sich vom Nominativ unterscheidet:

Sie entaeussert sich des scheinbar Ueberfluessigen.
Sie freute sich ihres scheinbaren Glueckes.

amarillo

Zitat von: gehabt gehabt in 2005-02-02, 11:31:52

ein schwer Kranker : ein Mensch der schwer krank ist
ein schwerer Kranker: ein Mensch der schwer und krank ist

ebenso mit eingebildeter Kranker

Demnach übersetzen wir  "le malade imaginaire" in "der eingebildet Kranke"?

Und Hans Castorp ist dann wirklich "ein eingebildeter Kranker"?

Beim "malade" ist es fraglich, ob Molière wiklich zwei Blickrichtungen beabsichtigt hatte. "Imaginaire" kann sowohl die Sicht des Betroffenen auf sich selbst, wie auch die Sicht der Außenwelt (imaginär) auf ihn anzeigen. Wenn ich das Stück dann lese, ist aber der Doppelsinn eigentlich aufgehoben - oder?
Das Leben strebt mit Urgewalt nach Entstehung und Musik.

caru

eben - der malade imaginaire ist tatsächlich nur einer, der sich einbildet, krank zu sein (seine mitmenschen sind sich durchaus darüber im klaren, daß ihm nichts ernstliches fehlt).

möglicherweise deckte "imaginaire" zu moliéres zeiten auch noch die bedeutung von "imaginatif" oder ähnlichem ab - müßte man mal überprüfen. denn ein hypochonder von der geschilderten art ist ja auch höchst "erfinderisch" im erfinden neuer wehwehchen, die er haben könnte, und möglicher details der schon bekannten.

herr tankred dorst, der moliéres stück in ein gewollt arabesken- und patinafreies, dabei erschreckend flaches und eintöniges deutsch übersetzt hat, nennt das machwerk tatsächlich der eingebildet kranke.
(\___/)
(>´x´<)
('.')__('.')

Nijntje - de echte nederlandse konijn

amarillo

Herr, die Welt ist kaum zu retten,
und mir ist schon vieles worst.
Willst Du helfen, möcht' ich wetten,
machst zum Engel Du T. Dorst.
Das Leben strebt mit Urgewalt nach Entstehung und Musik.

gehabt gehabt

Zitat von: amarillo in 2005-02-02, 17:48:35

Demnach übersetzen wir  "le malade imaginaire" in "der eingebildet Kranke"?



Si se~nor,  das ist laut Wahrig Woerterbuch (uebrigens bei 2001 fuer 15 Euro auf CD) und meinem Sprachgefuehl die einzig richtige Uebersetzung: er bildet sich das Kranksein ein aber er ist nicht eingebildet.

amarillo

#42
Ja ja, das ist schon so eine Sache mit dem Korrekten.
Seit über hundert Generationen sprechen wir nun also falsch. Vielleicht gibt es ja auch eine Ehrenrettung des Nicht-ganz-Korrekten?

Ich darf da mal kurz Balzac zitieren: "Es gibt keine wahre Schönheit ohne eine gewisse Unregelhaftigkeit in den Zügen" (er meinte damit nicht die Deutsche Bahn AG).

Analysöre ich alle älteren Texte und ließe sie durch das Raster der Grammatik und Rechtschreibung des 21. Jahrhunderts laufen, es verdürbe mir jeden Spaß am Lesen. Wer will denn beispielsweise die Weihnachtsgeschichte in modernem Deutsch hören?

Du magst vollkommen recht haben, gehabt haben, aber bitte: wer solche altehrwürdigen Titel eigenmächtig ändert, gehört - für meinen Geschmack - mit Katzendreck erschossen! :'(
Das Leben strebt mit Urgewalt nach Entstehung und Musik.

caru

abgesehen davon, daß viele dramentitel, "korrekt" übersotzen, für den theaterliebhaber und -besucher unkenntlich würden - er weiß dann entweder nicht mehr, welches stück gespielt wird, oder glaubt (wie beim kranken) an einen druckfehler. NICHT gut, vor allem für den theaterdirektor.

für romantitel etc. gilt dasselbe, klar.
(\___/)
(>´x´<)
('.')__('.')

Nijntje - de echte nederlandse konijn

gehabt gehabt

Zitat von: amarillo in 2005-02-02, 20:15:37
Ja ja, das ist schon so eine Sache mit dem Korrekten.
Seit über hundert Generationen sprechen wir nun also falsch. Vielleicht gibt es ja auch eine Ehrenrettung des Nicht-ganz-Korrekten?


Ich darf da mal kurz Balzac zitieren: "Es gibt keine wahre Schönheit ohne eine gewisse Unregelhaftigkeit in den Zügen" (er meinte damit nicht die Deutsche Bahn AG).

Analysöre ich alle älteren Texte und ließe sie durch das Raster der Grammatik und Rechtschreibung des 21. Jahrhunderts laufen, es verdürbe mir jeden Spaß am Lesen. Wer will denn beispielsweise die Weihnachtsgeschichte in modernem Deutsch hören?



Der eingebildete Kranke ist nicht nur "nicht ganz korrekt" sondern voellig. Niemand sagt ja, "der schwere Kranke". Nun hat man sich im laufe der Jahrhunderte dran gewoehnt und man mag es inzwischen gar als stehenden Ausdruck gelten lassen. Es ist aber nur eine Uebersetzung und kein Originaltitel
und verdient deshalb nicht denselben Respekt wie das Original.

Wer will die Weihnachtsgeschichte in heutigem Deutsch hoeren?: vielleicht wenige, weils halt doch nicht eine romantisch suesse Geschichte ist sondern eher eine bittersuesse Geschichte und wer will schon bei Kerzenschein und Kaffee und Kuchen ueber Emigranten, die Gewissenskonflikte einer Familie reden, in der gerade ein uneheliches Kind geboren wird etc. Das ist in Lutherdeutsch entrueckter und somit leichter zu schlucken.

Was das Balzaczitat betrifft bin ich 100% einverstanden.