Konsonantenverschiebung

Begonnen von Arnymenos (unlogged), 2005-02-09, 15:27:48

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Berthold

#75
Fortsetzung:

'J: Wahrscheinlich hat er, professionell und wohl auch glücklich, Goldhandel betrieben; später jedenfalls Geldverleih und Immobilienhandel. Meisel ist überhaupt der Glückspilz [Glückspilz!] der Legenden. Selbst wenn alle Menschen im Unglück leben, heißt es, badet Mordechai Meisel in der weißen Milch der Frühe. [Ich kenne nur eine Schwarze Milch der Frühe, die von Paul Celan.] Ein bißchen anders geht die Redensart bei Leo Perutz. ... Rudolf II. gilt als freigiebiger und toleranter Herrscher, trotz seiner Sonderbarkeiten; - gerade als Medizinerin möchte ich nicht leichtfertig das Schlagwort Schizophrenie verwenden. Meisel wurde der Privatbankier des Kaisers, unterstützte diesen während der Türkenkriege. Der Kaiser stellte einen Majestätsbrief aus, damit Meisel, der kinderlos blieb, Erben seiner Wahl einsetzen konnte...
   D [deren Blick sich verdüstert hat, läßt ihre Freundin nicht weiterreden.]: Ob er nun Schübe von Geisteskrankheit gehabt hat oder nicht, Rudolf II. war habgierig und gewissenlos. [Ihre Stimme klingt nun rauh.] Er bevormundete die Prager Juden, ließ Meisel nur deshalb eine gewisse Handelsfreiheit, weil er wußte, daß das derart erwirtschaftete Geld schließlich in die kaiserlichen Kassen fließen würde. Als Meisel auf dem Totenbett lag, also noch lebte, wurde der Majestätsbrief bereits getilgt. Meisels Neffe Samuel, der Haupterbe, hatte später unter der Folter Auskunft über sein Vermögen zu geben. Mehr als eine halbe Million Gulden - und mehrere Häuser - mußten der böhmischen Kammer abgeliefert werden. Goldenes Zeitalter? Pah! Glückspilz? Weiße Milch der Frühe? -
   J [nachdem sie auf die Uhr gesehen hat]: Liebe Drahuša, beruhig dich doch! -  Eigentlich wollte ich ein paar Worte über Professor Meisel erzählen. Unglaublich arbeitsam war der, nimmermüde, sicher kein Glückspilz. Alle seine Großeltern sind im Ghetto von Třebíč, in Mo-... Mähren geboren. Kennen Sie den Ort?
   G: Ich bin in Třebíč gewesen, hab das Ghetto besucht -
   J: Dann kennen Sie wohl ein wenig die Gäßchen dort. Meisels Großeltern stammten nicht aus den Hauptgassen, drunten bei der-
   G: -Alten Synagoge-
   J: -Ja, das heißt: Nein. - Sie waren aus winzigen Häusern, dort wo ein Gewirr von Weglein und Stiegen den felsigen Hang hinaufführt. Wie Rauchschwalbennester klebt das dort. [Nun, hier ging es wohl um Bescheidenheit, Weisheit, vielleicht um Kontraste zum Prager Meisel. Mir fallen die Roma ein, die gegenwärtig in vielen der Schwalbennester wohnen. - Vom Orellanin ist Jarmila weit weg geraten. - Piešt’any ist längst vorbei. Nun kehrt sie zum Thema zurück:]
   J : ...Schon als Taxonomen stelle ich Meisel noch über Meinhard Moser [!] und Bruno Cetto [!] - und dann erst seine toxikologischen Werke! So daß mir - [Ich ahne, was nun kommen wird]
   G: So daß was?
   J: So daß mir dieser grau-en-haf-te Selbstversuch - ganz unbegreiflich ist.
   G [Kälte hockt auf mir, von den Zehen bis hoch zu Kreuz und Nabel - und kriecht, über Rücken und Bauch, weiter aufwärts. Ein Heer eisiger Nacktschnecken will mich ganz umhüllen.] - - : Ja, halten Sie es denn für unmöglich, daß es gegen Orellanin irgendein einfaches Gegenmittel geben könnte: alternativ, Homöopathie oder Kräutermedizin? - Wie damals - bei diesem - Franzosen, mit dem Karottenbrei - gegen das Gift des Grünen Knollenblätterpilzes - ?
   J: Mein lieber Herr G.! [Nun verläßt die Ruhe J., vermeine ich zu spüren.] Dr. Bastiens Therapie war revolutionär; aber weit weg von einfacher Naturmedizin! Da gab’s intravenöse Injektionen von Vitamin C, orale Desinfektion mit Nifuroxazide und anderen Mitteln - sechs Mal täglich! - Hefepräparate - Injektionen von - äh - Metoclopramid. [Noch heftiger wird sie.] Auch ich habe Heilkräuter gesammelt, in der Hohen Tatra oder im Bergland von Kremnica. ABER - Sehen Sie, wenn ein Fluß eine Stadt überschwemmt, genügt es nicht, ein paar Kräuter in die Fluten zu werfen! - Eine Kugel, die auf dein Herz gezielt ist, prallt von Allermannsharnisch oder Alraunwurzel nicht ab! Und: [Nun wird wohl die Predigt kommen, denn begriffen hat Jarmila längst:] Ich muß nun bald, in Trnava, aussteigen, weil ich dort in einem Spital praktiziere. Ich weiß, wie übel es ist, jemandes Freiheit einzuschränken, und kann Ihnen nichts verbieten. Aber Orellanin - und gar in einer Dosis, die die einer normalen Vergiftung übersteigt... [Was hab ich denn davon, wenn die junge Frau wirklich um mich bangt?]... /
   Der Zug rast durch die Ebene, nähert sich Trnava. Die Zeit (wie oft wird das gedacht oder geschrieben) ist verflogen. Natürlich war’s auch kein glatt fließendes Gespräch oder Erzählen - war öfters vom Nachtigallenschluchzen von Jarmilas Handy und vom folgenden slowakischen (schreib ich halt:) Wohlklang - zerhackt (Ein Wohlklang zerhackt etwas, na sowas!). Doch über Wohl- oder Mißklang des Slowakischen fürs Ohr eines Niederösterreichers will ich jetzt nicht urteilen. Immer näher kommt Jarmilas Ziel - und Drahoslava, über deren Beruf ich nichts weiß, wird sich wahrscheinlich ihrer Freundin anschließen. Da spricht sie mich an:
   D: Lang schau ich Ihnen schon ins Gesicht. - Sie erinnern mich an eine Gestalt aus der slowakischen Geschichte [- Ich hab mich nur als Georg vorgestellt -], und jetzt, knapp vor unserem Abschied - [Ach, dieses lange Gesicht, diese großen Augen; Eule, - doch die Regenbogenhäute der meisten Eulenarten sind gelblich oder rötlich, - und trüb und von falscher Milde, wie beim Habichtskauz, sind Drahas Augen schon gar nicht. - Wahrscheinlich hat sie in der Mitte der Brust und neben den bräunlichen Brustwarzen ein paar lange, schwarze Borsten, länger als die Haare auf ihren Unterschenkeln -] (D:) Gift paßt nicht für Ihren Tod. - Ein Fleischerhaken - am linken Rippenbogen, beim ersten Hahnenkrähen, beim Gerassel der Kleinen Trommel. - Eine Vila soll Dir den Schmerz wegzaubern, tapferer, armer Jurko!
   J: Drahuša! [verbittend] /
   Der Zug wird langsam. Die Telefonnummern sind ausgetauscht, aber was macht das noch für einen Sinn? - Jarmila steigt in die Nacht, oder, genauer, in die Abenddämmerung  hinab. (Die Sonne im Widder geht langsam unter.) Mein Dank und das Ahoi Jurko! verhallen. - Doch Drahoslava - als wär das hier eine Kitschgeschichte - ja - und Wange - und zarter Kuß, - der freilich heftiger einschlägt als manch eine Zungenspitze. - Dann hat der Dämmer auch Drahuša verschluckt. Blöde starre ich aus dem Türfenster des weiterfahrenden Zuges. -'