Präteritum vs. Perfekt

Begonnen von yunus_delikaya, 2005-12-29, 12:08:30

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yunus_delikaya

Wieso wird das Perfekt in Romanen nie verwendet als Erzählertempus? Ich sehe erkannt, dass es nur in Dialogen verwendet wird. Es ist aber ersichtlich, dass auch in Erzählungen etwas einen Bezug zur Gegenwart haben kann, nicht wahr?
Yunus

Ezilopp

Die Erzählung wird im allgemeinen als etwas Abgeschlossenes angesehen. Das Präteritum soll zum Einen die Fiktivität der Erzählung unterstreichen, zum Anderen Distanz zwischen dem Erzählten und dem Leser aufbauen.
Das Perfekt bräche die Kontinuität der Handlung/Zustände auf.
Wenn der Autor irgendwelche Kommentare einbaut, dann kann es durchaus sein, dass da das Perfekt benutzt wird. In der klassischen Literatur ist das aber eher selten. In der deutschen Literatur fällt mir da nichts ein, in der französischen ist Victor Hugo ein gutes Beispiel für die Benutzung des passé composé als Gegensatz zum passé simple - aber nur in den Kommentaren, die er macht, und nur, wenn er die Bedeutung einer Sache für die Gegenwart unterstreicht.

Kilian

So etwas in der Art: "...schlug eine Wunde in den Leib der Erde, die bis heute nicht ganz verheilt ist."

Ezilopp

Wenn da statt der Erde eine Person wäre, müsste man annehmen, dass diese Person zum Zeitpunkte des Schreibens noch war. Ansonsten müsste da Präteritum stehen.

Kilian

Dann braucht der Erzähler eine weitere Änderung, um ihn vor dem Verdacht zu bewahren, dass er alle zwei Tage die Leiche exhumiert, um nach dem Heilungsprozess der Wunde zu sehen. :D

"...die nie ganz verheilte."

amarillo

Zitat von: Ezilopp in 2005-12-30, 00:02:08
Wenn da statt der Erde eine Person wäre, müsste man annehmen, dass diese Person zum Zeitpunkte des Schreibens noch war. Ansonsten müsste da Präteritum stehen.

Es müßte gar nichts, wie wir anderen Ortes bereits festgestellt haben. Es gibt keine festlegende Regelung!
Ich weiß auch nicht, worauf Deine vorhergehende Analyse fußt, wie Du schon sagtest, fällt Dir in der deutschen Literatur nichts ein, und die französische Tempus-Regelung kann ja wohl schlecht als Beispiel für die Korrektheit im Deutschen herhalten, sehe ich das richtig?
Das Leben strebt mit Urgewalt nach Entstehung und Musik.

Ezilopp

#6
Dass ich die französische Literatur zur Hilfe nehme, liegt - leider - an meiner geringen Bewandertheit in der deutschen Literatur. Die Periodistik lasse ich beiseiten: Sie bewegt immer mehr in Richtung Umgangsprache und damit vom Präteritum weg und zum Perfekt hin.

Das Grundproblem, das wir in diesem Thema trätieren, ist und bleibt aber im Deutschen wie im Französischen dasselbe: die Bedeutung des Vergangenen für die Gegenwart und dessen Auswirkungen auf diese.
Der Unterschied liegt darin, dass das Deutsche, wie andere germanische Sprachen (mit Einschränkungen fürs Englische) in der Vergangenheit keinen Unterschied zwischen zwischen Handlung und Zustand macht, die romanischen Sprachen aber schon.
Es läge näher, die englischsprachige Literatur um ein Beispiel zu bemühen, aber auch hier kann ich mich nicht wirklich guter Kenntnisse brüsten. Die Analogie liegt in der Kongruenz der Temporalsysteme der beiden Sprachen im Indikativ, von den Verlaufsformen im Englischen einmal abgesehen. (Diese sind aber mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit auf den Einfluss der romanischen Sprachen zurückzuführen - siehe estar im Spanischen, stare im Italienischen.)
Ich bin der Ansicht, dass das Englische, so unregelmäßig seine Phonetik auch sei, in der Grammatik - hiermit meine ich ein vor allem die consecutio temporum und die Syntax - ein Wunder der Logik darstellt. Ferner deucht es mir, dass das Deutsche sich vom Englischen zumindest in puncto rigoris consecutionis temporum eine Scheibe abschneiden könnte. Das hätte höchstwahrscheinlich eine Erstarrung der Sprache und den Absturb einigiger Abstufungmöglichkeiten zur Folgen, was ich im Französischen vermisse, aber ich sehe keine andere Möglichkeit, die im deutschen (noch) vorhandenen tempora und modi - siehe Konjunktiv - für die nachfolgenden Sprechergenerationen zu erhalten und zu mehren.

Und da siehst du auch, worauf meine vorhergehende Analyse fußt: auf der Beobachtung und dem Vergleiche diverser Sprachen. Da hinkt auch der Vergleich mit dem Französischen nicht so sehr: Immerhin stammen beide Sprachen von derselben Ursprache ab.