Sprachliche Geschlechtergerechtigkeit

Begonnen von Homer, 2015-05-03, 11:07:15

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Homer

Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 00:32:11
Das Argument der kognitiven Bürde greift in der Tat nur in Situationen, in denen der die Rezipient/in zum Verstehen gefordert ist, einen Bezug zwischen sich selbst und der referenzierten Personengruppe zu ermitteln, z.B.: Gehöre ich zu den Leuten, die aufgefordert sind, den Raum zu verlassen? Wenn nun nicht alle Sprecher/innen sehr sorgfältig vermeiden, das generische Maskulinum in solchen Situationen zu vermeiden, ist klar, dass systematisch immer wieder Situationen auftreten, in denen die Frauen, um diese Bezugsermittlung zu leisten, ein zusätzliches Denkproblem lösen müssen, das sich den Männern nicht stellt.

Die Klasse von Situationen, die zur Ermittlung solcher persönlichen Bezüge einladen, erschöpft sich nicht in direkten Ansprachen. Auch wenn irgendwas über Personengruppen gesagt wird, wird man oft ermitteln wollen, ob man zu diesen Personengruppen gehört, etwa um das Gesagte zu beherzigen oder sich dazu zu verhalten. Alle Linguisten sind Idioten ist so ein Beispiel, falls Linguist/inn/en zuhören ­– falls nicht, dann nicht, aber das ändert ja nichts an der Tatsache, dass es solche Beispiele zur Genüge gibt. Und man kann auch argumentieren, dass dein Beispiel mit den griechischen Dichtern dazugehört: hier ist der herzustellende Bezug nicht der der Zugehörigkeit zu einer Personengruppe, aber möglicherweise der der Identifikation – Menschen identifizieren sich glaubich leichter mit Personen desselben Geschlechts, womit wir wieder dicht bei den Feuerwehrmännern und Astronauten wären.

Das ist eine richtige und nützliche Erweiterung und Präzisierung der Frage, der ich voll und ganz zustimme. Man wird hier freilich – darin wirst Du mir hoffentlich ebenfalls zustimmen – deutliche graduelle Unterschiede der Identifikation bis hin zu Null annehmen müssen, die auf die Schwere der kognitiven Bürde durchschlagen. In einer Vorlesung über griechische Lyrik kann ich vergleichsweise sehr sicher sein, dass auch bei (nicht feministisch vorgeprägten) Zuhörerinnen die geschlechtliche Identifikation von vornherein völlig unterbleibt.

Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 00:32:11
In deinem Beispiel mit dem Raum-Verlassen liegt eine globale Ambiguität vor: Aus der Äußerung kann man wirklich nicht klar schließen, was der Dozent meint. Ein "zusätzliches Denkproblem" für die Frauen liegt aber auch dann vor, wenn jeder klare Verstand innerhalb von Sekundenbruchteilen und vermutlich unbewusst die Ambiguität auflösen kann. Zum Beispiel wenn eine Universität, wie bis vor einigen Jahren vielerorts ja üblich, "alle Studenten" auffordert, sich bis zum soundsovielten Soundsovielten zurückzumelden. Auch das ist problematisch, aus denselben Gründen: Frauen wird hier jedes Mal eine Disambiguierungsleistung abverlangt, so trivial sie auch jedes Mal sein mag, die die Männer sich jedes Mal sparen können.

Das habe ich verstanden. Aber hier fangen wir an, uns argumentativ im Kreis zu drehen. Deshalb nur zusammenfassend meine Punkte:
1. Kommunikationshindernisse sind nichts Schlimmes.
2. Auch wenn Du dauernd etwas anderes behauptest: Es geht bei der Frage nach den kognitiven Bürden um Missverständnisse, nämlich um die Möglichkeit, missverstanden zu werden. Seltsam, dass Du das abstreitest. Du umkreist den Begriff immer mit Ausdrücken wie "lokale Ambiguität", Du beschreibst Situationen, in denen Frauen nicht gleich wissen, ob sie "mitgemeint" sind, wehrst Dich aber gegen das dafür übliche Wort.
3. Sprecher sind im Interesse gelingender Kommunikation gehalten, kognitive Bürden, also potentielle Quellen von Missverständnissen, möglichst klein zu halten.
4. Es gibt keine Notwendigkeit, kognitive Bürden, die absehbar sehr klein sind, zwanghaft auf Null zu setzen, wenn die manifesten Vorteile der Ausdrucksweise an anderer Stelle die sehr kleinen potentiellen Nachteile der kognitiven Bürde überwiegen.
5. Strategien der Vermeidung von generischen Maskulina, insbesondere Paarformen, errichten sehr häufig an anderer Stelle kognitive Hürden (sinnlose Markierung des Merkmals Geschlecht), die größer sind als die, die sie vermeiden wollen.
6. Das generische Maskulinum erfordert eine in den allermeisten Fällen sehr triviale Abstraktionsleistung, die Menschen beiderlei Geschlechts mit der größten Selbstverständlichkeit vollbringen. Abstraktion funktioniert offenbar (entgegen dem Wortsinn) eher so, dass das für das sprachliche Zeichen Wesentliche unmittelbar erkannt wird, als dass aus der Gesamtfülle aller Eigenschaften eines Gegenstands und aller möglichen Konnotationen eines Wortes die unwesentlichen gestrichen werden. Deshalb kann sie so blitzartig funktionieren. Wenn man den Satz hört: "Was hast du denn da angestellt?", leuchtet wohl in keinem (muttersprachlichen, normal sprachkompetenten) Kopf auch nur für eine Nanosekunde für "anstellen" eine der anderen Bedeutungen wie "in Funktion setzen", "eine bezahlte Beschäftigung geben" usw. auf.
7. Diese Abstraktionsleistung kann von Fall zu Fall – das ist unbestreitbar – sprachstrukturell bedingt für Frauen größer sein als für Männer. Die Größe dieses gap ist in aber Fällen wie dem Römerbeispiel oder dem Dichterbeispiel entweder Null oder eine quantité negligeable, da sie (jedenfalls in nicht durch feministische Theoreme beeinflussten Kontexten) sehr wahrscheinlich unterhalb der subjektiven Wahrnehmungsschwelle liegt.
8. Wo diese Wahrnehmungsschwelle nicht überschritten wird, kann auch keine subjektive Diskriminierung vorliegen.
9. Wo der Sprecher vermuten muss, dass diese Wahrnehmungsschwelle überschritten wird, hat er intuitiv alle Faktoren abzuwägen (Zuhörerschaft, Äußerungskontext, grammatische und stilistisch-ästhetische Fragen, an anderer Stelle entstehende kognitive Hindernisse), um die Frage zu entscheiden, ob nicht vielleicht im Gesamtbild das generische Maskulinum dennoch – auch für die zuhörenden Frauen – die kommunikativ erfolgversprechendere Wahl ist.
10. Diese Abwägung kann auch misslingen, wie jede andere in jeder anderen Kommunikation auch. Das ist angesichts der in 9. genannten möglichen Kontraindikationen kein Grund, sie generell zu vermeiden.
11. Das baut gegenüber einer Schema-Lösung auf eine gewisse geistige Flexibilität der Gesprächsteilnehmer. Deswegen war meine Polemik – die ich ja  als solche gekennzeichnet habe – gegen das Frauenbild der Feministinnen auch nicht so völlig aus der Luft gegriffen, wie Du denkst.
12. Deshalb gibt es Frauen, die sich von Paarformen für dumm verkauft vorkommen, um nicht gleich von Diskriminierung zu sprechen (siehe z.B. hier). Ich kenne solche Frauen.
13. Die feministische Forderung nach strikter Vermeidung des generischen Maskulinums impliziert eindeutig die Annahme seiner kontextunabhängigen Problematizität. Das ist kein sprachwissenschaftlich nachweisbares Faktum, sondern ein in seiner angeblichen Bedeutsamkeit heillos aufgeblähtes, gesellschaftspolitisch motiviertes Postulat.

Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 00:32:11
Also, unwissentlich kannst du von jetzt an durch generisches Maskulinum die kognitive Bürde zum Verstehen deiner Äußerungen für Frauen nicht mehr erhöhen, you have been warned – es sei denn, du wärest dir ganz sicher, dass deine Zuhörer/innen zum Verstehen deiner Äußerungen nicht nach einem Bezug zwischen sich und der genannten Personengruppe suchen werden, und täuschtest dich.

Das habe ich nicht verstanden. Kannst Du mir das nochmal erläutern?

Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 00:32:11
Ironieverstehen ist nicht Gegenstand irgendeiner mir bekannten bestehenden gesellschaftlichen Antidiskriminierungsübereinkunft, Geschlecht schon.

Eben, Du hast den Punkt erfasst. Über die pauschale Genus-Sexus-Verwechslung wird für Frauen ein sprachliches Diskriminierungspotential erkannt, das für die ebenfalls vorhandene, aber gesellschaftlich nicht hinreichend distinkte Gruppe der Ironie-Tauben nicht thematisiert wird, obwohl die Fälle kommunikationsstrukturell parallel sind. Das zeigt, dass die Diskriminierungsbehauptung nicht auf dem Boden von Wissenschaft entstanden und auch dort nicht beweisbar ist. Dass Frauen in der Gesellschaft eine Lobby haben und Ironie-Taube nicht, hat zweifellos sehr gute Gründe, ist aber für unsere Diskussion vollkommen kontingent. Wir reden hier über Diskriminierung als mögliches Thema der Sprachwissenschaft. Und da sprechen wir bitte entweder über die potentielle Diskriminierung aller irgendwie konstituierbaren Gruppen durch das Errichten kognitiver Hürden oder gar keiner! Oder welchen Unterschied willst Du machen zwischen jemandem, der durch die Verwendung des generischen Maskulinums wie in meinem Studenten-Dozenten-Beispiel tatsächliche Kommunikationshürden aufbaut, und jemandem, der in komplizierten Schachtelsätzen vor einem aus Gymnasiasten und Hauptschülern bestehenden Publikum spricht? Entweder beide diskriminieren oder beide diskriminieren nicht. Es sind aber auch im zweiten Beispiel nicht die Schachtelsätze, die diskriminieren, sondern der, der sie formuliert. Wenn er das unabsichtlich tut, hat er die falschen Mittel verwendet, und so auch beim generischen Maskulinum. C'est tout.

Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 00:32:11
Wieso sprachpolizeilich? Du kannst doch öffentlich schreiben, wie dir die Feder gewachsen ist, nur nicht unbedingt überall.

Aber dass ich im Gespräch mit feministisch beeinflussten Frauen, denen ich ja nicht erst lang und breit meine Argumente darlegen kann, warum ich das generische Maskulinum benutze, mich schon insgeheim ärgern darf, dass ich mich unbegründeten Dogmen anpassen muss, wenn ich nicht Gefahr laufen will, als Anti-Feminist zu gelten – der ich nicht bin –, das wirst Du mir zugestehen, oder? Und dass dieser Kurzschluss zwischen Genusverwendung und gesellschaftlicher Positionierung auf feministischen Ansichten über Sprache beruht, doch wohl auch? Über einer solchen Unterhaltung schwebt dann ein totalitärer Geist, von dem ich mich kontrolliert fühle, den allerdings nicht unbedingt direkt die Person, mit der ich mich unterhalte, einbringt, sondern mein Wissen um die Zugehörigkeit dieser Person zu einer (in ihrer radikalen Form) apodiktisch und totalitär argumentierenden Gruppe.

Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 00:32:11
Ich kritisiere nicht, dass hin und wieder mal eine Millisekunde zusätzlichen Gehirnschmalzverbrauchs nötig wird. Ich kritisiere, dass das systematisch Frauen betrifft und Männer nicht. Das lässt sich auch anders ändern als durch Abschaffung des generischen Maskulinums. Wer fordert die überhaupt? Selbst Sprachlog-Autorin Kristin Kopf (der Artikel, den wir hier diskutieren, ist übrigens von Anatol Stefanowitsch und nicht, wie du schreibst, von ihr) verwendet es in ihrem Buch ständig - nur eben im Wechsel mit einem generischen Femininum.

1.Diese Asymmetrie ist praktisch in aller Regel völlig bedeutungslos (s.o.). Du hast mir immer noch nicht erklärt – und es gibt auch m.E. kein einziges gutes Argument dafür –, warum wegen der Möglichkeit, dass in Fällen unsensibler Kommunikation durch die Sprecher diese Asymmetrie auch einmal praktisch bedeutsam werden könnte, das Sprachsystem nicht nur geändert, sondern eindeutig sehr hilfreicher und schöner Ausdrucksmöglichkeiten beraubt werden soll.
2. AS, nicht KK, natürlich, mein Fehler.
3. Die radikale feministische Sprachkritik fordert die generelle Abschaffung des generischen Maskulinums. Das habe ich bereits belegt.
4. Ein generisches Femininum gibt es nicht, und ich möchte ja schließlich im Alltag kommunizieren können. Das generische Maskulinum ist seit mindestens 5000 Jahren eingeführt. Die spezifisch maskuline Verwendung dieses Genus ist sprachhistorisch nur ein Spezialfall der eigentlich primären generischen, der durch die Ausgliederung des später gebildeten Femininums aus der Klasse "belebt" entstanden ist. (Zuvor wurden Geschlechter lexematisch enkodiert: Vater – Mutter, Bruder – Tochter, Eber – Sau.) Es hätte genau so gut andersherum sein können, ist es aber nicht. Und alle Sprecher, auch Frauen, waren es sehr zufrieden, sonst wäre das generische Maskulinum längst an seiner vermeintlichen Ambiguität zugrundegegangen und durch etwas anderes ersetzt worden. Das angebliche Problem damit ist pure feministische Konstruktion.
5. Vorschlagen und fordern kann man viel. Und KKs Versuch ist ja auch ganz lustig. Aber eine Neuerung hat den praktischen Beweis anzutreten, dass sie kommunikativ besser ist das Alte. Es ist leicht zu sehen, dass die Randomisierung systematisch Unklarheiten schafft, die vorher nicht da waren. Deshalb wird sie eine Spielerei bleiben.

Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 00:32:11
Nein. Noch einmal, es geht nicht um Missverständnisse.

Nein, Kilian, tut mir leid, in dem Punkt entkommst Du mir nicht (s.o.)!  :D

Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 00:32:11
Es wird oft so getan, als wäre man, weil man, auch ohne es zu wollen oder auch nur zu merken, einige diskriminierende Verhaltensweisen aufweist, automatisch ein schlechter Mensch und müsse zur Hölle fahren. Quatsch. Niemand ist hundertprozentig frei davon, das halte ich für unmöglich. Der Autor plomlompom hat es schön auf den Punkt gebracht: "Schaut her, ich hab bestimmt ein paar rassistische, sexistissche, nazistische, antisemitische Meme in meinem Kopf. & mich trifft kein Blitz!" Das unterschreibe ich für mich ebenfalls. Wenn man das akzeptiert, ist es glaubich viel leichter, solche Meme und Verhaltensweisen aufzuzeigen und in Ruhe zu diskutieren. Nichts von dem, was ich schreibe, soll eine bittere Anklage oder eine Verurteilung sein.

Ja, da hast Du wohl Recht. Ich weise das aus einer Rest-Unsicherheit über die Qualität meiner Introspektion besser nicht von mir. Aber so viel kann ich sagen: Ich gebe mir alle Mühe, nicht-diskriminierend zu sprechen, und denke, dass mindestens diese Mühe auch im allgemeinen honoriert wird. Ich nehme an, ich hätte sonst schon bestimmte Irritationen bei besonders sensiblen Gesprächspartnerinnen bemerken können. Es halten ja nicht immer alle zu hundert Prozent mit ihrer subjektiven Verletztheit hinter dem Berg.

Dass Du nicht anklagen oder verurteilen willst, merke ich sehr genau, keine Sorge. Ich habe bei der Genusfrage auch keine persönlichen Aktien im Spiel. Das ist rein wissenschaftliches Interesse. Wenn ich das Gefühl hätte, dass es bei Dir anders wäre, wäre es sicher längst an der Zeit gewesen, die Diskussion abzubrechen.

Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 00:32:11
Weder in der DGPs-Pressemitteilung noch im Sprachlog-Beitrag kommt das Wort diskriminieren auch nur einmal vor, außer in letzterem als Tag. Verstehst du jetzt, dass ich das Gefühl habe, dass du in diese Veröffentlichungen etwas reinliest, was da nicht steht?

Wenn Du mir zeigen kannst, dass der Bericht von AS, verlinkt von KK, nicht in den feministischen Kontext eingebettet werden sollte, in dessen Zusammenhang die Verwendung des generischen Maskulinums regelmäßig als diskriminatorisch oder sogar sexistisch gebrandmarkt wird (beliebig herbeigegoogeltes Beispiel, gleich im Vorwort), dann verstehe ich das. Und für wie wahrscheinlich hältst Du es angesichts der Fragestellung tatsächlich, dass die Psychologen überhaupt nicht von feministischen Forderungen nach "sprachlicher Gleichstellung" ausgegangen sind, als sie die Studie planten? Nein, Kilian, tut mir leid, das Offensichtliche kann ich nicht einmal Dir zu Gefallen weglesen.

Noch etwas anderes, von dem ich nicht weiß, ob es in der Diskussion um die Frage der Diskriminierung durch sprachliche Äußerungen weiterführt: Der Sprecher merkt/beabsichtigt entweder, dass er diskriminiert, oder nicht. Der Rezipient fühlt sich entweder diskriminiert oder nicht. Daraus ergeben sich vier Fälle. Das wird man vielleicht für die Frage heranziehen müssen, was sprachliche Diskriminierung überhaupt ist. Genügt es, dass sich jemand diskriminiert fühlt, obwohl der andere ihn gar nicht diskriminieren wollte? Ich bin, ehrlich gesagt, kein Anhänger von rein opferzentrierten Definitionen bei solchen Fragen (die gibt es, wie Du weißt, in Political-Correctness-Diskussionen jeder Art, vor allem in den USA), obwohl die Opferperspektive zu Recht besonders schwer wiegt. Über die Frage, ob jemand beleidigt wurde, entscheiden ja aus guten Gründen dauernd Gerichte (existenziell kann es für beide Parteien beim Thema Vergewaltigung werden). Offenbar ist man im Rechtssystem der Meinung, dass man aus der Gesamtfaktenlage objektivierbare Kriterien herausfiltern muss, obwohl das Beleidigtsein sehr subjektiv ist. Jemand kann sich beleidigt fühlen, aber nicht beleidigt worden sein. Ebenso kann aber auch jemand nicht die Absicht gehabt haben zu beleidigen, aber trotzdem beleidigt haben. Die Notwendigkeit, die Vier-Fälle-Kasuistik objektiv zu überwölben, macht vermutlich auch jede Defintion sprachlicher Diskriminierung enorm kompliziert. Ich bin mit jeder rational wohlbegründeten Lösung einverstanden. Was ich lediglich nicht akzeptieren kann, ist das alleinige Urteil einer angesprochenen Person über meinen Sprechakt ("ich fühle mich diskriminiert, also bin ich diskriminiert worden"). Meine Absicht und – in der Gesamtschau – möglichst objektive, Absicht und Auswirkung berücksichtigende Kriterien müssen auch eine Rolle spielen.

Homer

Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 01:13:00
Ad Rollenstereotype durch Sprache verstärken/ihnen entgegenwirken durch Sprache:

Zitat von: Homer in 2015-06-13, 18:43:04Das sind Effekte, die es gibt, die man aber nicht durch dirigistische Eingriffe in das Sprachsystem beseitigt.

Aber man kann ihnen durch einen bewussten Sprachgebrauch entgegenwirken, und um nichts anderes geht es Vervecken und Stefanowitsch. Behaupte ich mal.

AS vereinnahmt Vervecken, wofür der nichts kann, das ist klar.

Vervecken beweist übrigens auch nicht, dass man durch bestimmte Sprachformen kindliche Vorstellungen von Berufen beeinflussen kann, sondern er interpretiert den Befund in die Zukunft hinein ("conclusion" am Ende des Textes). Man könnte auch sagen, er wünscht. Dass mangels sprachwissenschaftlicher Grundlegung schon der Befund auf sehr wackligen Beinen steht, habe ich schon gesagt. Und selbst wenn er der Überprüfung standhielte, könnten, wie schon gesagt, auch ganz andere Rückschlüsse auf das Verhältnis von Sprache und kindlichem Selbstbewusstsein gezogen werden, die die Studie gar nicht in Betracht zieht.

Den Zahn, dass AS doch "nur" bewussten Sprachgebrauch einfordere, muss ich Dir allerdings ziehen. Zwei Links genügen: http://www.scilogs.de/sprachlog/sprache-diskriminiert/ und http://www.scilogs.de/sprachlog/frauen-natuerlich-ausgenommen/. Wer pauschal behauptet, "Sprache diskriminiert" (nicht erst Sprecher) und "Im Deutschen gibt es kein generisches Maskulinum" (er meint: das, was üblicherweise so genannt wird, sei immer männlich konnotiert), der hat das Feld des bloß gesellschaftlichen Appells zu bewusstem Sprachgebrauch verlassen und sich auf das Feld der echten Sprachwissenschaft begeben. Dort muss er dann mit dem energischen Widerspruch deskriptiv seriös kategorisierender Forscher rechnen.

Homer

Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 01:17:14
Zu den möglicherweise beleidigten Linguistinnen:

Zitat von: Homer in 2015-06-13, 18:43:04Wobei sich in diesem Fall die Unsicherheit eher zugunsten der Linguistinnen auswirkt, die nicht sicher davon ausgehen können, dass sie beleidigt worden sind.

Inwiefern ist das ein Vorteil für die Linguistinnen? ??? Ich sähe das eher als Nachteil: Möglicherweise beleidigt worden zu sein und noch nicht einmal zu wissen, ob man wirklich gemeint war. Wie fies.

Jetzt hack doch nicht auf meiner Pointe herum! Ich fand sie nicht schlecht ...  ;) Das könnte ein Mini-Experiment werden: Ich stelle mich vor einen Raum voller feministischer Linguistinnen und sage diesen Satz. Dann mache ich eine Statistik, worüber sie sich ärgern: über den empfundenen Nicht-Einbezug, über die Beleidigung oder – dritte Möglichkeit, danke! – über ihr Schwanken-Müssen zwischen diesen Möglichkeiten. ;D

Wortklaux

Das Problem der Diskriminierung besteht sicher zwischen erwachsenen Männern und Frauen, aber manchmal sind auch die Jungen und Mädchen davon betroffen. Die Jungen, so sagt einem die Erfahrung allerdings, fühlen sich nicht so schnell diskrimiert wie die Alten.

Bei dem Weg bin ich immer noch auf Homers Beantwortung meiner Frage gespannt.

Homer

Zitat von: Wortklaux in 2015-06-15, 02:03:29
Zitat von: Homer in 2015-06-14, 21:26:38
Die Frage verstehe ich nicht.
Du meinst meine Frage nach dem Vernunftbegriff in "2. Jetzt im Ernst: Niemand wird vernünftigerweise bestreiten wollen, dass Männer und Frauen grundsätzlich gleich starke kognitive Kompetenzen haben.".
Es ist durchaus eine ernstgemeinte Frage. Ich frage mich, warum es vernünftig ist, das nicht bestreiten zu wollen: Gibt es wissenschaftliche, politische oder andere Gründe dafür? Für andere Kompetenzen (z.B. emotionale, körperliche etc.) gilt das ja nicht unbedingt. Warum ist es also unvernünftig, eine solche Ungleichheit auch für kognitive Fähigkeiten zu postulieren? Wäre es z.B. politisch unklug, das zu tun, oder gibt es zwingende wissenschaftliche Argumente, oder gibt es eine dem ,,gesunden Menschenverstand" (was auch immer das sei) unmittelbar einsichtige Tatsache?

Mein Satz war keine "stark" gemeinte Aussage. Sieh ihn eher als eine Mischung aus
1. Diese Annahme schafft eine besonders geeignete Ausgangslage für die hier stattfindende Diskussion. Wenn man sich über sprachliche Gleichstellung unterhält, kompliziert die Annahme einer naturgegebenen die Sprache betreffenden kognitiven Ungleichheit zwischen den Geschlechtern die Sache, weil ein zusätzlicher, störender Faktor ins Spiel kommt.
2. Politisch unklug wäre die Annahme sowieso.
3. Ich kenne aber auch keine diesbezüglichen Anhaltspunkte und glaube bis zur Darlegung des Gegenteils auch nicht daran.

Wortklaux

Zitat von: Homer in 2015-06-15, 18:16:47
Zitat von: Wortklaux in 2015-06-15, 02:03:29
Zitat von: Homer in 2015-06-14, 21:26:38
Die Frage verstehe ich nicht.
Du meinst meine Frage nach dem Vernunftbegriff in "2. Jetzt im Ernst: Niemand wird vernünftigerweise bestreiten wollen, dass Männer und Frauen grundsätzlich gleich starke kognitive Kompetenzen haben.".
Es ist durchaus eine ernstgemeinte Frage. Ich frage mich, warum es vernünftig ist, das nicht bestreiten zu wollen: Gibt es wissenschaftliche, politische oder andere Gründe dafür? Für andere Kompetenzen (z.B. emotionale, körperliche etc.) gilt das ja nicht unbedingt. Warum ist es also unvernünftig, eine solche Ungleichheit auch für kognitive Fähigkeiten zu postulieren? Wäre es z.B. politisch unklug, das zu tun, oder gibt es zwingende wissenschaftliche Argumente, oder gibt es eine dem ,,gesunden Menschenverstand" (was auch immer das sei) unmittelbar einsichtige Tatsache?

Mein Satz war keine "stark" gemeinte Aussage. Sieh ihn eher als eine Mischung aus
1. Diese Annahme schafft eine besonders geeignete Ausgangslage für die hier stattfindende Diskussion. Wenn man sich über sprachliche Gleichstellung unterhält, kompliziert die Annahme einer naturgegebenen die Sprache betreffenden kognitiven Ungleichheit zwischen den Geschlechtern die Sache, weil ein zusätzlicher, störender Faktor ins Spiel kommt.
2. Politisch unklug wäre die Annahme sowieso.
3. Ich kenne aber auch keine diesbezüglichen Anhaltspunkte und glaube bis zur Darlegung des Gegenteils auch nicht daran.

1.: Bezweifele ich. Die panikartige Abwehr jeder im geringsten Ansatz vorhandenen Möglichkeit, nicht oder nicht in demselben Grade oder nicht im selben Augenblick mitgemeint gewesen sein zu können, beruht ja gerade darauf, dass den in einer spezifische Weise Sprechenden eine Ungleichbehandlung der Geschlechter unterstellt wird. Geht man von vornherein davon aus, dass diejenigen, die an eine unterschiedliche Begabung (bewusst oder unbewusst) glauben, unvernünftig sind (und somit ihre Sprachbehandlung irrelevant ist), redet man zielsicher aneinander vorbei. (Genau das scheint mir zwischen Kilian und dir im Augenblick der Fall zu sein.)

2.: Vielleicht. ,,Sowieso" nur, soweit es um die Frage der Überlegenheit des einen über das andere Geschlecht geht, gleich in welcher Richtung. (Dennoch stellt sich z.B. in Korea, wo absolut geschlechtergerecht geprüft wird, ernsthaft die Frage, wie man mit der Tatsache umgeht, dass männliche Kandidaten in den meisten Ausbildungen mit hohen kognitiven Anforderungen fast keine Chancen mehr haben. Vielleicht wäre es ab einem bestimmten Punkt doch politisch vernünftig, die Unterschiede als gegeben zu akzeptieren und zu fragen, wie man dem unterlegenen Geschlecht adäquate Entwicklungsmöglichkeiten in der modernen Gesellschaft einräumt.)

3.: Sehr pragmatisch. Wissenschaftlicher wäre es aber zweifelsfrei, von der Möglichkeit eines Unterschiedes auszugehen. Dieser würde sich vielleicht nicht in einer allgemeinen Überlegenheit des einen über das andere Geschlecht ausdrücken (die ohnehin schwierig zu definieren wäre), aber in einer im Durchschnitt unterschiedlich starken Ausprägung spezifischer kognitiver Fähigkeiten. Mehrere Millionen Jahre natürlicher Auslese unter den unterschiedlichen Lebensanforderungen, die sich Männern und Frauen gestellt haben, müssen sich ja irgendwie niederschlagen, wenn man nicht die ganze Evolutionstheorie ablehnen will. Oder gibt es irgendwelche Anhaltspunkte dafür, dass sich die natürliche Auslese im Hinblick auf kognitive Fähigkeiten nicht teilweise unabhängig voneinander auf beide Geschlechter beziehen kann? Mit geht es daher genau umgekehrt wie dir: Solange mir niemand diese (d.h. die zuletzt von mir genannten) Anhaltspunkte erläutert, glaube ich nicht an eine Gleichheit.

Wortklaux

Zitat von: Wortklaux in 2015-06-15, 19:52:33
2.: Vielleicht. ,,Sowieso" nur, soweit es um die Frage der Überlegenheit des einen über das andere Geschlecht geht, gleich in welcher Richtung. (Dennoch stellt sich z.B. in Korea, wo absolut geschlechtergerecht geprüft wird, ernsthaft die Frage, wie man mit der Tatsache umgeht, dass männliche Kandidaten in den meisten Ausbildungen mit hohen kognitiven Anforderungen fast keine Chancen mehr haben. Vielleicht wäre es ab einem bestimmten Punkt doch politisch vernünftig, die Unterschiede als gegeben zu akzeptieren und zu fragen, wie man dem unterlegenen Geschlecht adäquate Entwicklungsmöglichkeiten in der modernen Gesellschaft einräumt.)

Zusatz zu diesem Punkt: Ähnlich wie man es ja auch im Sport tut. Es regt sich niemand darüber auf, dass beim 100-m-Lauf die Frauen nur gegen die Frauen konkurrieren, und nur so haben sie ihre Chance, auch einmal Weltmeister im Schnelllauf zu werden. Politisch unklug wäre es sicher, hier eine Gleichheit herbeizureden.

Homer

Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 01:43:37
Die Notwendigkeit mag sich z.B. aus dem Wunsch nach einer konsistenten sprachlichen Gestaltung von juristischen Dokumenten speisen, einfache Regeln befolgend, statt für jeden Zusammenhang - zugespitzt gesagt - ein Gutachten einzuholen, ob Gendern erforderlich ist oder nicht.

Man braucht fürs Gendern grundsätzlich kein Gutachten, sondern nur ein Minimum an Sprachgefühl. Bei Gesetzen braucht man noch nicht mal das: Es gibt nichts zu gendern, wo Geschlecht aus Prinzip nullmarkiert ist (es sei denn, wie gesagt, das Gesetz handelt vom Geschlecht – dann sollte es aber auch früher schon explizit gewesen sein). Unnötige Konnotationen zu generieren, widerspricht dem Ökonomiegebot, dem diese Texte unterliegen.

(Streng genommen verändert sich sogar der Sinn des Textes: Wenn in unserem LHG von "Professorinnen und Professoren" gesprochen wird, wo "Professoren" qua Opposition zu "Professorinnen" nur spezifisches Maskulinum sein kann, sind all diejenigen nicht mitgenannt, die sich eventuell keinem der beiden Geschlechter zugehörig fühlen. Das ist praktisch natürlich irrelevant, aber es ist sprachlich ungenau. Und wenn Genauigkeit für eine Textsorte eine Tugend ist, dann für diese.)

Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 01:43:37
Sag bitte nicht, dass Gesetzestexte Meisterwerke sprachlicher Schönheit sind, die durch das Gendern verdorben werden! :D

Du lachst, aber auf ihre Weise sind sie das tatsächlich. In ihrer unerbittlichen Begriffstreue – wo dasselbe gemeint ist, wird auch dasselbe Wort gebraucht und nicht stilistisch variiert –, in ihrem Festhalten an zwar deutschen, aber doch leicht fremdartig wirkenden Begriffen wie "Vorsatz" (wo die Alltagssprache eher "Absicht" benutzt), in ihrer strikten Ökonomie haben sie einen ganz eigenen, spröden, gleichwohl irgendwie poetischen Reiz. Ich bin nicht der einzige, der das so empfindet, dazu habe ich schon Vorträge gehört. Juristen selbst bedauern übrigens, dass die Kunst der guten Formulierung von Gesetzen immer weiter zurückgeht. Meine in letzter Zeit berufsbedingt ausführlichen Lektüren unseres Landeshochschulgesetzes bestätigen das: Wenn Formulierung oder Disposition irgendwo nicht einleuchten, kann man sicher sein, dass es sich um einen jüngst veränderten Passus handelt. Dass auch dieses Gesetz konsequent gegendert wurde, kann nicht dadurch entschuldigt werden, dass der Text (als sprachliches Produkt) auf andere Weise ohnehin schlechter geworden ist.

amarillo

Ein Satz, der mich heute stutzen ließ: "Laurie litt wie kaum ein anderer an Schlaflosigkeit..." (John Katzenbach: der Professor)
Meines Erachtens gehören den Übersetzern sowie den Lektoren die Ohren lang gezogen: 'Laurie' ist hier nämlich ein weiblicher Vorname und nicht, was auch möglich wäre, ein Familienname.

Das Leben strebt mit Urgewalt nach Entstehung und Musik.

Kilian

#69
Zitat von: amarillo in 2015-06-16, 17:35:32
Ein Satz, der mich heute stutzen ließ: "Laurie litt wie kaum ein anderer an Schlaflosigkeit..." (John Katzenbach: der Professor)
Meines Erachtens gehören den Übersetzern sowie den Lektoren die Ohren lang gezogen: 'Laurie' ist hier nämlich ein weiblicher Vorname und nicht, was auch möglich wäre, ein Familienname.

Da ist ein anderer wohl als generisches Maskulinum gemeint. Wenn da stünde: eine andere, dann müsste man ja annehmen, hier würde Lauries Schlaflosigkeit nur mit der anderer Frauen verglichen, und nicht von Männern, es sei denn, man wüsste, dass die Autorin (so wie ich jetzt) gelegentlich ein generisches Femininum verwendet.

Kilian

#70
Zitat von: Homer in 2015-06-15, 13:28:57Man wird hier freilich – darin wirst Du mir hoffentlich ebenfalls zustimmen – deutliche graduelle Unterschiede der Identifikation bis hin zu Null annehmen müssen, die auf die Schwere der kognitiven Bürde durchschlagen.

Stimmt.

Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 00:32:11
2. Auch wenn Du dauernd etwas anderes behauptest: Es geht bei der Frage nach den kognitiven Bürden um Missverständnisse, nämlich um die Möglichkeit, missverstanden zu werden. Seltsam, dass Du das abstreitest. Du umkreist den Begriff immer mit Ausdrücken wie "lokale Ambiguität", Du beschreibst Situationen, in denen Frauen nicht gleich wissen, ob sie "mitgemeint" sind, wehrst Dich aber gegen das dafür übliche Wort.

Ich dachte, du meinst mit "Missverständnisse" Situationen, in denen der/die Zuhörer/in das Gesagte tatsächlich falsch interpretiert. Ich meinte bei dem Argument der kognitiven Bürde jedoch in erster Linie Ambiguitäten, die sich in Sekundenbruchteilen auflösen.

ZitatDas habe ich verstanden. Aber hier fangen wir an, uns argumentativ im Kreis zu drehen. Deshalb nur zusammenfassend meine Punkte:
1. Kommunikationshindernisse sind nichts Schlimmes.
(...)
3. Sprecher sind im Interesse gelingender Kommunikation gehalten, kognitive Bürden, also potentielle Quellen von Missverständnissen, möglichst klein zu halten.
4. Es gibt keine Notwendigkeit, kognitive Bürden, die absehbar sehr klein sind, zwanghaft auf Null zu setzen, wenn die manifesten Vorteile der Ausdrucksweise an anderer Stelle die sehr kleinen potentiellen Nachteile der kognitiven Bürde überwiegen.
5. Strategien der Vermeidung von generischen Maskulina, insbesondere Paarformen, errichten sehr häufig an anderer Stelle kognitive Hürden (sinnlose Markierung des Merkmals Geschlecht), die größer sind als die, die sie vermeiden wollen.
6. Das generische Maskulinum erfordert eine in den allermeisten Fällen sehr triviale Abstraktionsleistung, die Menschen beiderlei Geschlechts mit der größten Selbstverständlichkeit vollbringen. Abstraktion funktioniert offenbar (entgegen dem Wortsinn) eher so, dass das für das sprachliche Zeichen Wesentliche unmittelbar erkannt wird, als dass aus der Gesamtfülle aller Eigenschaften eines Gegenstands und aller möglichen Konnotationen eines Wortes die unwesentlichen gestrichen werden. Deshalb kann sie so blitzartig funktionieren. Wenn man den Satz hört: "Was hast du denn da angestellt?", leuchtet wohl in keinem (muttersprachlichen, normal sprachkompetenten) Kopf auch nur für eine Nanosekunde für "anstellen" eine der anderen Bedeutungen wie "in Funktion setzen", "eine bezahlte Beschäftigung geben" usw. auf.
(...)
9. Wo der Sprecher vermuten muss, dass diese Wahrnehmungsschwelle überschritten wird, hat er intuitiv alle Faktoren abzuwägen (Zuhörerschaft, Äußerungskontext, grammatische und stilistisch-ästhetische Fragen, an anderer Stelle entstehende kognitive Hindernisse), um die Frage zu entscheiden, ob nicht vielleicht im Gesamtbild das generische Maskulinum dennoch – auch für die zuhörenden Frauen – die kommunikativ erfolgversprechendere Wahl ist.
10. Diese Abwägung kann auch misslingen, wie jede andere in jeder anderen Kommunikation auch. Das ist angesichts der in 9. genannten möglichen Kontraindikationen kein Grund, sie generell zu vermeiden.

So weit alles richtig, aber wie gesagt, es gibt die systematisch auftretende Bürde für Frauen, auch, wenn sie klein sein sollte. Ah, du kommst dazu:

Zitat
7. Diese Abstraktionsleistung kann von Fall zu Fall – das ist unbestreitbar – sprachstrukturell bedingt für Frauen größer sein als für Männer. Die Größe dieses gap ist in aber Fällen wie dem Römerbeispiel oder dem Dichterbeispiel entweder Null oder eine quantité negligeable, da sie (jedenfalls in nicht durch feministische Theoreme beeinflussten Kontexten) sehr wahrscheinlich unterhalb der subjektiven Wahrnehmungsschwelle liegt.
8. Wo diese Wahrnehmungsschwelle nicht überschritten wird, kann auch keine subjektive Diskriminierung vorliegen.

Für das Römer- und Dichterbeispiel scheint mir das auch plausibel. In anderen Fällen, in denen sich (feministisch weniger sensibilisierte) Frauen keiner Diskriminierung oder auch nur der nötigen Abstraktionsleistung an sich bewusst werden, kann ich mir allerdings vorstellen, dass sie trotzdem unbewusst wirkt – und Frauen (zusammen mit anderen Faktoren, die Frauen beim Reden über verschiedenste Gruppen mehr oder weniger subtil als Out-Group behandeln) schleichend die Lust entzieht, bei solchen Gruppen mitzumischen. Es wäre doch eine im 21. Jahrhundert sehr gewagte These, zu behaupten, nur weil etwas nicht bewusst werde, könne es nicht psychologisch wirken.

Zitat
11. Das baut gegenüber einer Schema-Lösung auf eine gewisse geistige Flexibilität der Gesprächsteilnehmer. Deswegen war meine Polemik – die ich ja  als solche gekennzeichnet habe – gegen das Frauenbild der Feministinnen auch nicht so völlig aus der Luft gegriffen, wie Du denkst.
12. Deshalb gibt es Frauen, die sich von Paarformen für dumm verkauft vorkommen, um nicht gleich von Diskriminierung zu sprechen (siehe z.B. hier). Ich kenne solche Frauen.

Das ist aber falsch gedacht. Wer so argumentiert, hat mein Argument nicht verstanden. Es geht mir nicht darum, dass Frauen etwas Hirnschmalz abverlangt wird. Es geht darum, dass sie systematisch ungleich behandelt werden. Und etwas weiter gedacht: Es geht auch darum, dass man den Männern die Herausforderung vorenthält, ihre geistige Flexibilität zu üben und Frauen regelmäßig "mitzudenken", wodurch ihnen eine Chance entgeht, zu sich für Frauen angenehmer, inklusiver verhaltenden Mitmenschen zu werden.

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13. Die feministische Forderung nach strikter Vermeidung des generischen Maskulinums impliziert eindeutig die Annahme seiner kontextunabhängigen Problematizität. Das ist kein sprachwissenschaftlich nachweisbares Faktum, sondern ein in seiner angeblichen Bedeutsamkeit heillos aufgeblähtes, gesellschaftspolitisch motiviertes Postulat.

Es ist psycholinguistisch nachgewiesen, dass das generische Maskulinum tendenziell problematisch ist, woraus es m.E. nicht unvernünftig ist, den Appell abzuleiten, es tendenziell zu vermeiden. Natürlich kann niemand nachweisen, dass es gar keine Kontexte gibt, in denen das generische Maskulinum tatsächlich unproblematisch ist. Und ja, es gibt sicher weitaus bedeutsamere Faktoren von Diskriminierung, zumal nachdem die Bemühungen zur Vermeidung generischer Maskulina ja schon jahrzehntelang andauern und sichtbare Erfolge aufweisen.

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Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 00:32:11
Also, unwissentlich kannst du von jetzt an durch generisches Maskulinum die kognitive Bürde zum Verstehen deiner Äußerungen für Frauen nicht mehr erhöhen, you have been warned – es sei denn, du wärest dir ganz sicher, dass deine Zuhörer/innen zum Verstehen deiner Äußerungen nicht nach einem Bezug zwischen sich und der genannten Personengruppe suchen werden, und täuschtest dich.

Das habe ich nicht verstanden. Kannst Du mir das nochmal erläutern?

In deinem Beispiel mit dem Raumverlassen hattest du (innerhalb des Beispiels) das generische Maskulinum verwendet und damit unwissentlich, wie du schreibst, die Bürde für die weiblichen Studentinnen erhöht. Nach dieser Diskussion hier wirst du dagegen hoffentlich in Zukunft immer wissen, wenn du so eine Erhöhung vornimmst. Das wollte ich damit sagen. :D

ZitatÜber die pauschale Genus-Sexus-Verwechslung wird für Frauen ein sprachliches Diskriminierungspotential erkannt, das für die ebenfalls vorhandene, aber gesellschaftlich nicht hinreichend distinkte Gruppe der Ironie-Tauben nicht thematisiert wird, obwohl die Fälle kommunikationsstrukturell parallel sind.

Das sind sie nicht. In dem Beispiel mit der Ironie sind alle gefordert, die Ironie zu erkennen; den einen gelingt es und den anderen nicht. In dem Beispiel mit dem Maskulinum dagegen müssen die Männer die Ambiguität nicht auflösen, um auf die Aufforderung angemessen zu reagieren. Den Aspekt, ob Frauen mitgemeint sind oder nicht, können sie schlicht ignorieren.

ZitatAber dass ich im Gespräch mit feministisch beeinflussten Frauen, denen ich ja nicht erst lang und breit meine Argumente darlegen kann, warum ich das generische Maskulinum benutze, mich schon insgeheim ärgern darf, dass ich mich unbegründeten Dogmen anpassen muss, wenn ich nicht Gefahr laufen will, als Anti-Feminist zu gelten – der ich nicht bin –, das wirst Du mir zugestehen, oder? Und dass dieser Kurzschluss zwischen Genusverwendung und gesellschaftlicher Positionierung auf feministischen Ansichten über Sprache beruht, doch wohl auch? Über einer solchen Unterhaltung schwebt dann ein totalitärer Geist, von dem ich mich kontrolliert fühle, den allerdings nicht unbedingt direkt die Person, mit der ich mich unterhalte, einbringt, sondern mein Wissen um die Zugehörigkeit dieser Person zu einer (in ihrer radikalen Form) apodiktisch und totalitär argumentierenden Gruppe.

Ja, apodiktisch und totalitär argumentierende Gruppen und Menschen sind eine schwierige Spezies, ich gehe ihnen aus dem Weg. Ich finde z.B. auch Anatol Stefanowitsch ein wenig schwierig, der sehr zur Zuspitzung neigt. Im persönlichen Umgang ist er sicher ein ganz lieber Kerl, und er würde auch wohl niemanden ohne Anlass für die Verwendung eines generischen Maskulinums kasteien. Wenn man ihn aber gleichzeitig für irgendetwas kritisiert, kann das schon anders aussehen.

Auf der anderen Seite habe ich Verständnis dafür, wenn Leute, die ständig gegen Diskriminierung kämpfen und ständig durch Internet-Trolle dafür angegriffen und in Diskussionen verwickelt werden, die die Existenz der Diskriminierung leugnen, keine Lust haben, immer 100%ig zugunsten des weißen Mannes zu differenzieren. Da finde ich es für mich als Nichtdiskriminierten dann produktiver, ihnen entweder entgegenzukommen (z.B. einmal "zu viel" zu gendern) oder mich rauszuhalten.

Zitat1.Diese Asymmetrie ist praktisch in aller Regel völlig bedeutungslos (s.o.).

Nein, s.o.

ZitatDu hast mir immer noch nicht erklärt – und es gibt auch m.E. kein einziges gutes Argument dafür –, warum wegen der Möglichkeit, dass in Fällen unsensibler Kommunikation durch die Sprecher diese Asymmetrie auch einmal praktisch bedeutsam werden könnte, das Sprachsystem nicht nur geändert, sondern eindeutig sehr hilfreicher und schöner Ausdrucksmöglichkeiten beraubt werden soll.

Noch einmal: Ich halte es für sinnvoll, das generische Maskulinum im Sprachgebrauch tendenziell zu vermeiden. Was das mit dem Sprachsystem machen wird, wird sich zeigen.

Zitat4. Ein generisches Femininum gibt es nicht

Naja. Es gibt Menschen, die es verwenden und verstehen.

ZitatDas generische Maskulinum ist seit mindestens 5000 Jahren eingeführt. Die spezifisch maskuline Verwendung dieses Genus ist sprachhistorisch nur ein Spezialfall der eigentlich primären generischen, der durch die Ausgliederung des später gebildeten Femininums aus der Klasse "belebt" entstanden ist. (Zuvor wurden Geschlechter lexematisch enkodiert: Vater – Mutter, Bruder – Tochter, Eber – Sau.) Es hätte genau so gut andersherum sein können, ist es aber nicht. Und alle Sprecher, auch Frauen, waren es sehr zufrieden, sonst wäre das generische Maskulinum längst an seiner vermeintlichen Ambiguität zugrundegegangen und durch etwas anderes ersetzt worden. Das angebliche Problem damit ist pure feministische Konstruktion.

Wir haben aber erst seit Kurzem die gesellschaftliche Übereinkunft der Gleichberechtigung und damit einhergehend eine viel stärkere Durchmischung der Geschlechter in allen möglichen Berufen und anderen gesellschaftlichen Domänen. Die Lage ist jetzt also eine deutlich andere als die 5000 Jahre davor.

Zitat5. Vorschlagen und fordern kann man viel. Und KKs Versuch ist ja auch ganz lustig. Aber eine Neuerung hat den praktischen Beweis anzutreten, dass sie kommunikativ besser ist das Alte. Es ist leicht zu sehen, dass die Randomisierung systematisch Unklarheiten schafft, die vorher nicht da waren. Deshalb wird sie eine Spielerei bleiben.

Gut, warten wir's ab! :D

Zitat
Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 00:32:11
Weder in der DGPs-Pressemitteilung noch im Sprachlog-Beitrag kommt das Wort diskriminieren auch nur einmal vor, außer in letzterem als Tag. Verstehst du jetzt, dass ich das Gefühl habe, dass du in diese Veröffentlichungen etwas reinliest, was da nicht steht?

Wenn Du mir zeigen kannst, dass der Bericht von AS, verlinkt von KK, nicht in den feministischen Kontext eingebettet werden sollte, in dessen Zusammenhang die Verwendung des generischen Maskulinums regelmäßig als diskriminatorisch oder sogar sexistisch gebrandmarkt wird (beliebig herbeigegoogeltes Beispiel, gleich im Vorwort), dann verstehe ich das. Und für wie wahrscheinlich hältst Du es angesichts der Fragestellung tatsächlich, dass die Psychologen überhaupt nicht von feministischen Forderungen nach "sprachlicher Gleichstellung" ausgegangen sind, als sie die Studie planten? Nein, Kilian, tut mir leid, das Offensichtliche kann ich nicht einmal Dir zu Gefallen weglesen.

Noch etwas anderes, von dem ich nicht weiß, ob es in der Diskussion um die Frage der Diskriminierung durch sprachliche Äußerungen weiterführt: Der Sprecher merkt/beabsichtigt entweder, dass er diskriminiert, oder nicht. Der Rezipient fühlt sich entweder diskriminiert oder nicht. Daraus ergeben sich vier Fälle. Das wird man vielleicht für die Frage heranziehen müssen, was sprachliche Diskriminierung überhaupt ist. Genügt es, dass sich jemand diskriminiert fühlt, obwohl der andere ihn gar nicht diskriminieren wollte? Ich bin, ehrlich gesagt, kein Anhänger von rein opferzentrierten Definitionen bei solchen Fragen (die gibt es, wie Du weißt, in Political-Correctness-Diskussionen jeder Art, vor allem in den USA), obwohl die Opferperspektive zu Recht besonders schwer wiegt. Über die Frage, ob jemand beleidigt wurde, entscheiden ja aus guten Gründen dauernd Gerichte (existenziell kann es für beide Parteien beim Thema Vergewaltigung werden). Offenbar ist man im Rechtssystem der Meinung, dass man aus der Gesamtfaktenlage objektivierbare Kriterien herausfiltern muss, obwohl das Beleidigtsein sehr subjektiv ist. Jemand kann sich beleidigt fühlen, aber nicht beleidigt worden sein. Ebenso kann aber auch jemand nicht die Absicht gehabt haben zu beleidigen, aber trotzdem beleidigt haben. Die Notwendigkeit, die Vier-Fälle-Kasuistik objektiv zu überwölben, macht vermutlich auch jede Defintion sprachlicher Diskriminierung enorm kompliziert. Ich bin mit jeder rational wohlbegründeten Lösung einverstanden. Was ich lediglich nicht akzeptieren kann, ist das alleinige Urteil einer angesprochenen Person über meinen Sprechakt ("ich fühle mich diskriminiert, also bin ich diskriminiert worden"). Meine Absicht und – in der Gesamtschau – möglichst objektive, Absicht und Auswirkung berücksichtigende Kriterien müssen auch eine Rolle spielen.

Was ich meine: Pressemitteilung und Sprachlogbeitrag weisen (zu Recht) darauf hin, dass das generische Maskulinum dazu neigt, diskriminierende Auswirkungen zu haben. Damit richten sie sich m.E. in erste Linie gegen die nicht zu knapp vorhandenen Mitmenschen, die meinen, das jede Form sprachlicher Gleichstellung schon zu viel ist. Sie erheben, so weit ich das sehe, keine Anklage gegen jeden Einzelnen, der es hin und wieder, mit Augenmaß, so wie du, verwendet. Ich verstehe also nicht, warum du dich so aufregst ("traurige", "Verdammung", "irrwitzige", "himmelangst").

Kilian

Zitat von: Homer in 2015-06-15, 16:01:34
Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 01:17:14
Zu den möglicherweise beleidigten Linguistinnen:

Zitat von: Homer in 2015-06-13, 18:43:04Wobei sich in diesem Fall die Unsicherheit eher zugunsten der Linguistinnen auswirkt, die nicht sicher davon ausgehen können, dass sie beleidigt worden sind.

Inwiefern ist das ein Vorteil für die Linguistinnen? ??? Ich sähe das eher als Nachteil: Möglicherweise beleidigt worden zu sein und noch nicht einmal zu wissen, ob man wirklich gemeint war. Wie fies.

Jetzt hack doch nicht auf meiner Pointe herum! Ich fand sie nicht schlecht ...  ;)

Jaja, ganz lustig, aber es war schon ein ernstgemeinter Einwand von mir, weil das "zugunsten der Linguistinnen"-Argument großes Unverständnis des "Frauen müssen immer überlegen, ob sie mitgemeint sind"-Arguments offenbart.

Kilian

#72
Und nun noch zu den Gesetzen:

Zitat von: Homer in 2015-06-16, 09:51:02
Man braucht fürs Gendern grundsätzlich kein Gutachten, sondern nur ein Minimum an Sprachgefühl. Bei Gesetzen braucht man noch nicht mal das: Es gibt nichts zu gendern, wo Geschlecht aus Prinzip nullmarkiert ist (es sei denn, wie gesagt, das Gesetz handelt vom Geschlecht – dann sollte es aber auch früher schon explizit gewesen sein). Unnötige Konnotationen zu generieren, widerspricht dem Ökonomiegebot, dem diese Texte unterliegen.

Welche unnötigen Konnotationen generiert denn z.B. das "wer zu Fuß geht" der StVO?

Zitat(Streng genommen verändert sich sogar der Sinn des Textes: Wenn in unserem LHG von "Professorinnen und Professoren" gesprochen wird, wo "Professoren" qua Opposition zu "Professorinnen" nur spezifisches Maskulinum sein kann, sind all diejenigen nicht mitgenannt, die sich eventuell keinem der beiden Geschlechter zugehörig fühlen. Das ist praktisch natürlich irrelevant

Das ist es nicht.

Zitataber es ist sprachlich ungenau. Und wenn Genauigkeit für eine Textsorte eine Tugend ist, dann für diese.)

Guter Punkt. Vielleicht sind Gesetze die nächsten Kandidatx für die Einführung von Formen wie Professx. ;D

Zitat
Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 01:43:37
Sag bitte nicht, dass Gesetzestexte Meisterwerke sprachlicher Schönheit sind, die durch das Gendern verdorben werden! :D

Du lachst, aber auf ihre Weise sind sie das tatsächlich. In ihrer unerbittlichen Begriffstreue – wo dasselbe gemeint ist, wird auch dasselbe Wort gebraucht und nicht stilistisch variiert –, in ihrem Festhalten an zwar deutschen, aber doch leicht fremdartig wirkenden Begriffen wie "Vorsatz" (wo die Alltagssprache eher "Absicht" benutzt), in ihrer strikten Ökonomie haben sie einen ganz eigenen, spröden, gleichwohl irgendwie poetischen Reiz. Ich bin nicht der einzige, der das so empfindet, dazu habe ich schon Vorträge gehört.

Guter Punkt. Unerbittliche Begriffstreue beißt sich allerdings nicht mit einer Vermeidung des generischen Maskulinums. Und das wer zu Fuß geht der neuen StVO fügt sich die spröd-reizvolle Sprache m.E. wunderbar ein: erst ungewohnt, etwas befremdlich, aber völlig mit den Mitteln der bestehenden Sprache und sehr klar. Das zumindest finde ich mal eine gelungene Überarbeitung.

Homer

Zitat von: Kilian in 2015-06-15, 02:18:44
Zitat von: Homer in 2015-06-14, 15:51:45
Zitat von: Kilian in 2015-06-13, 11:11:40
Z.B.: "Ich werde mich mit meinen Anwälten besprechen."

Auch wenn das generisch gemeint war, stellt die Gesprächspartnerin sich jetzt möglicherweise ein rein männliches Team vor. Du kannst natürlich sagen, dass dieses im Kontext von sprachlicher Kommunikation auftretende Phänomen lediglich ein Symptom der gesellschaftlichen Verhältnisse ist. Aber die Studie von Vervecken legt nahe, dass dieses Symptom wiederum dazu beiträgt, das Übel zu verstärken, weil, wenn Frauen sich immer nur Männer in einem Beruf vorstellen, sie womöglich davon abkommen, sich für diesen Beruf zu entscheiden.

Wenn der obige Satz generisch gemeint war und von der Rezipientin als generisch verstanden wurde, stellt sie sich eben gerade keine Männer vor, sondern abstrahiert völlig vom Geschlecht und denkt nur an "Leute", die den Anwaltsberuf ausüben. Wenn es generisch gemeint war, die Frau es aber nicht so versteht, dann müssen spezifische persönliche oder im Kontext liegende Gründe vorhanden sein, warum die Frau den Begriff "Anwälte" gegen die Intention des Sprechers geschlechtlich auflädt. Das ist ein in der Kommunikation unerwünschter Effekt, aber auch nichts um jeden Preis Vermeidenswertes. Es wird von der Hörerin eine vom Sprecher nicht intendierte Konnotation aktiviert, na und? Das passiert in jeder normalen Unterhaltung dauernd. Dein Beispielsatz ist aber sicher kein politischer oder kommunikativer Hochrisikosatz, Fettnäpfchengefahr sehr gering. Solange der Sprecher keine Gründe kennt, die es bei seiner besonderen Rezipientin ratsam erscheinen lassen zu gendern, drückt der obige Satz das Gemeinte einfach besser (nämlich geschlechtsneutral) und kürzer aus als der gegenderte.

Aber nehmen wir den Satz in "geschlechtergerechter" Sprache: "Ich werde mich mit meinen Anwältinnen und Anwälten besprechen." Im besten Fall begreift die Rezipientin die Doppelnennung einfach als Variante des generischen Maskulinums, obwohl sie das eigentlich nicht ist. Denn die überflüssige doppelte geschlechtliche Markierung kann auch stutzig machen: "Wozu muss ich wissen, dass der Sprecher anwaltlichen Beistand von Männern und Frauen hat. Welches Signal sendet er damit aus?" Wahrscheinlich gar keins, aber in solchen Fällen entsteht jetzt regelmäßig (durch die Markierung bedingt) eine Kognitionslücke, die gewiss nicht kleiner ist als die im Einzelfall auftretende beim generischen Maskulinum. Wobei mir diese Lücke genau so egal ist wie die andere. Beim Kommunizieren gibt es halt hin und wieder was zu denken.

Joah, das sind ein paar recht subjektive ("besser", "mir egal") Argumente für das generische Maskulinum. Das Argument dagegen, das ich genannt habe, wird davon nicht berührt, oder habe ich was verpasst?

"Recht subjektiv" ist eine Wertung, gegen die ich mich doch wehren muss.

"Besser" habe ich erklärt: Eine Form, die das geringstmögliche Maß (im Idealfall null) an geschlechtlicher Konnotation hineinträgt in einen Zusammenhang, in dem der Sprecher Nullmarkiertheit dieses Merkmals anstrebt, weil sie der Intention am besten Rechnung trägt, ist besser als eine andere, die das nicht tut – trivial. "Die Römer sprachen Latein" ist in diesem Sinne besser als "Die Römerinnen und Römer sprachen Latein". Um es in der Währung "kognitive Bürde" auszudrücken: Zur Vermeidung einer vermeintlichen, allein die Frauen betreffenden kognitiven Bürde, die vollkommen theoretischer Natur ist – es hätte sie geben können, praktisch ist sie aber exakt null – wird aus puren "Gerechtigkeits"-Gründen eine deutlich mehr als Null betragende kognitive Bürde für alle eingeführt ("was soll die Geschlechtsmarkierung hier?") und auf bestmögliche Präzision und Ökonomie des Ausdrucks verzichtet.

"Wobei mir diese Lücke genau so egal ist wie die andere" ist etwas flapsig ausgedrückt, aber nicht subjektiv gemeint für: "Die durch das generische Maskulinum entstehende Kognitionslücke kann m.E. vernachlässigt werden. Die durch Gendern entstehende ist regelmäßig gravierender, ich kann dennoch darauf verzichten, diesen Punkt sehr stark zu bewerten." Das war als Zugeständnis gedacht, aber wenn Du nicht möchtest ...

Wortklaux

Zitat von: Kilian in 2015-06-16, 23:58:54
Welche unnötigen Konnotationen generiert denn z.B. das "wer zu Fuß geht" der StVO?
Jedenfalls maskuline...
,,Wer zu Fuß geht, muss die Gehwege benutzen." — Wer denn? Natürlich der, wer... und nicht die, wer...