Plädoyer für starke Verben

Begonnen von VerbOrg, 2006-02-24, 20:33:08

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VerbOrg

Grimm macht zu dem intransitiven Brennen (es ist Feuer los, Feuer ausgekommen, es glüht, leuchtet, ist entzündet) die treffliche Bemerkung, daß hier überall schöner das starke brinnen stände. Man kann bedauern, daß (seit Luther) diese Form uns abhanden gekommen ist. Dergleichen ist immer eine Verarmung der Sprache. Das bedenken diejenigen so wenig, die in unserer Zeit die schöne Form frug (wie auch buk, boll, jug) verwerfen und dafür die regelmäßige fragte empfehlen. Mag immerhin die Form nicht alt sein; sie ist schön und bereichert unsere Sprache an Klang und Sinn. Von frug haben wie einen Conjunctiv früge; von fragte fehlt ein solcher. Statt früge ist man gezwungen zu sagen ich würde fragen. - Wie schön ist der Klang in so vielen Zeitwörtern, die sich wandeln wie: singen, sang, gesungen.
Wie jämmerlich würde es klingen, wenn wir nach der Schablone jener vertrockneten Schulmeister, die Alles regelmäßig machen möchten, etwa sagen müßten: die Singerin hat einen schönen Gesing gesingt, statt: Sängerin, Gesang, gesungen. Letzteres ist sprachliche Musik, Ersteres ist noch unter Dudelsack. Es kann ja der Einzelne seinem Volke neue schöne Formen nicht aufnöthigen; aber wenn solche auftauchen, so mögen wir nach Kräften sie fördern und ihnen zum Bürgerrecht verhelfen. - Früher hieß es: pflegen, pflag, gepflogen. Ist nicht zu bedauern, dass pflag uns abhanden gekommen ist? Welch köstliche Klänge gibt es, wenn wir in der Umwandlung des Wortes werfen alle Vokale zu hören bekommen! Ich werfe, ich warf, ich würfe, geworfen, wirf, Wurf.

Dr. Hermann Schrader: Der Bilderschmuck der deutschen Sprache, 5. Auflage 1896
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Recht hat der Mann, verhelfen wir auch den neuen starken Formen zum Bürgerrecht!

Kilian

#1
Auszüge aus Wörter und Regeln von Steven Pinker, einem Buch, das Karsten mir empfahl:

[font='Times New Roman']Englische Verben gibt es in zwei Geschmacksrichtungen. Reguläre (regelmäßige) Verben haben Präteritumformen, die gebildet werden, indem die Endung -ed an das Verb angehängt wird: Today I jog, yesterday I jogged. Ihre Vorhersagbarkeit ist zum Gähnen: jog–jogged, walk–walked, play–played oder kiss–kissed.

The verbs in English are a fright.
How can we learn to read and write?
Today we speak, but first we spoke;
Some faucets leak, but never loke.
Today we write, but first we wrote;
We bite our tongues, but never bote.
Each day I teach, for years I taught,
And preachers preach, but never praught.
This tale I tell; this tale I told;
I smell the flowers, but never smold.
If knights still slay, as once they slew,
Then do we play, as once we plew?
If I still do as once I did,
Then do cows moo, as they once mid?

(Richard Lederer)

Auf den ersten Blick scheinen irreguläre Verben gar keine Existenzberechtigung zu haben. Warum sollte es in der Sprache Formen geben, die nichts weiter als widerspenstige Ausnahmen einer Regel sind? Wozu sind sie gut – abgesehen davon, das sie Kindern die Gelegenheit zu niedlichen Fehlern geben, Material für humorige Verse liefern und Schülern, die eine Fremdsprache lernen, das Leben schwer machen?

Der feine Zungenschlag, der das Ende einer regulären Form verbrämt, entgeht vielleicht dem Hörer und wird ausgelassen, wenn dieser die Form reproduziert. (...) Bei manchen älteren Ausdrücken wurde -ed so häufig weggelassen, dass die Endung schließlich auch bei sorgsamen Sprechern und Hörern völlig verloren ging. So entstand ice cream (ursprünglich iced cream, sour cream, mince meat und Damn Yankees. Dagegen arbeiten die irregulären Verben mit Vokaländerungen wie ring–rang, strike–struck und blow–blew, die glockenrein zu hören sind.
   Weil eine Regel überdies so blind für die jeweiligen Feinheiten eines Verbs ist (was ja ihre Leistungsfähigkeit ausmacht, da sie sich generell auf alle Verben anwenden lässt, ob die nun vertraut klingen oder nicht), hängen sie zuweilen unbedenklich ein Suffix an einen ungastlichen Laut. Dabei entsteht möglicherweise ein weniger wohlklingendes Gebilde wie edited oder ein Zungenbrecher wie sixths. Solche Ungetüme sucht man bei den irregulären Formen vergebens; diese bestehen alle aus gebräuchlichen angelsächsichen Lautformen, die grew und strode und clung, die dem Ohr schmeicheln und von der Zunge perlen.
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VerbOrg

Wieder mal Dr. Herman Schrader aus seinem "Bilderschmuck der deutschen Sprache":

Luther: hie billt einer von der Messe, hie kreischet der Andre von guten Werken. Elias ball gegen die falschen Propheten. – Häufig auch von Sachen. Die Mißgunst, das Gewissen, der Hunger billt, knurrt. (...) Ein reißendes Thier billt in meinem Eingeweide. (...)
Uebrigens scheint Grimm (mit Recht) die Formen er billt, bill, gebollen vorzuziehen vor den eintönigen unschönen bellt, bellte, gebellt.



Die Frage ist: wie soll denn nun die Präteritumsform von "bellen" heißen?
Im ersten Beitrag dieses Fadens liest man, dass er sich für den Erhalt von boll ausspricht.
Hier nun tauchen bill und ball auf.
Bill ist schon daher unschön, weil ja bereits im Indikativ Präsens die Form er billt angeführt wird...

MrMagoo

#3
Zitat von: VerbOrg in 2006-03-13, 21:14:51
Wieder mal Dr. Herman Schrader aus seinem "Bilderschmuck der deutschen Sprache":

Luther: hie billt einer von der Messe, hie kreischet der Andre von guten Werken. Elias ball gegen die falschen Propheten. – Häufig auch von Sachen. Die Mißgunst, das Gewissen, der Hunger billt, knurrt. (...) Ein reißendes Thier billt in meinem Eingeweide. (...)
Uebrigens scheint Grimm (mit Recht) die Formen er billt, bill, gebollen vorzuziehen vor den eintönigen unschönen bellt, bellte, gebellt.



Die Frage ist: wie soll denn nun die Präteritumsform von "bellen" heißen?
Im ersten Beitrag dieses Fadens liest man, dass er sich für den Erhalt von boll ausspricht.
Hier nun tauchen bill und ball auf.
Bill ist schon daher unschön, weil ja bereits im Indikativ Präsens die Form er billt angeführt wird...



Dieses Schrader-Buch muß ich mir holen, der wird mir sympathisch, der Mann! *gg*

Zu bellen:

Die ursprüngliche Vergangenheitsform ist ball (Pl. bullen), nach Ablautreihe III..

Später ist das "o" aus dem Partizip2 in das Präteritum geschlagen, daher boll.

Die Form bill ist Blödsinn, da hat Herr Schrader wohl den Imperativ gemeint oder er irrt schlichtweg.. ;)


Gruß
-MrMagoo
Wâ mag ich mich nu vinden? wâ mac ich mich nu suochen, wâ? nu bin ich hie und bin ouch dâ und enbin doch weder dâ noch hie. wer wart ouch sus verirret ie? wer wart ie sus zerteilet mê?
(Gottfried von Straßburg)

amarillo

#4
Herrn Lederers Gedicht hat mich inspiroren, es floss mir einfach aus dem Kuli. Vorsorglich bitte ich alle Leser um Verzieh.

Noch eine Säufergeschichte

Vorwort:

Was heute gilt, schon gestern galt?
Wer heute Camping mach, einst zalt?

Herr Müller stolperte und fiel,
sprach nicht mehr deutlich, sondern liel,
auf waß sein Weib so sprach, er pfiff,
selbst wenn sie stundenlang noch kiff.

Die Frau ihn dann zum Bade lud,
denn heißes Wasser niemals schud.
Nach vielen Stunden er genas
und gleich zum Wirtshaus wieder pas.

Denn tief im Hals der Durst ihn stach,
so daß erneut Herr Müller zach.
Er's auch für angemessen hielt,
daß er sein Geld allein verwielt.

So gegen zwölf er endlich ging,
doch an der Tür sich nochmals dring
und sprach: "Ich habe ein' gehoben,
hab' fest an meinem Stuhl gekloben.

Ich stets sie um Verzeihung bat,
waß uns're Ehe immer kat.
Jetzt geh' ich heim, ich bin besoffen,
ich fahre nicht, es wird geloffen,
waß gestern noch recht einfach lief,
auch wenn am Berg ich mächtig schnief."

So wich er denn und heim sich stahl
und merkte bald: sein Schlüssel fahl.
Worauf ein Fenster er zerschlug,
weil er sich nicht zu klopfen wug.

Sein Weib jedoch am Tische saß
und schweigend mit den Augen blaß.
Vor lauter Zorn der Kamm ihr schwoll
und sie vor ihren Mann sich stoll.

Darauf in Wut sie an ihn fuhr,
die Litanei er sich erspur
und schnell in seine Kammer rannte,
wo er bis Tagesanbruch pannte.

An Hirnes Sausen er dann litt,
nichtsdestotrotz, er an sich klitt
und schnell ein Sträußlein Blumen flocht,
alsdann auf ihren Schoß sich hocht.

Doch als ihr Haar er zärtlich strich,
der Ehefrau es langsam rich.
Achtkantig nun hinaus er flog,
und seine Frau zuletzt doch sog.
Den Mann, der immer bei ihr schlief,
dies Weib am Ende doch bestrief.

Nachwort:

Herr Müller ließ, bevor er starb
ein Testament verfassen.
So kam's, daß seine Witwe arb
vierhundert Sammeltassen.
Das Leben strebt mit Urgewalt nach Entstehung und Musik.

Ku

Dafür brauchst du doch wirklich nicht um Verzeihung bitten.

VerbOrg

Echt stark, amarillo! Mehr davon!

Fleischers Karsten

Irgenxwie kommt mir das bekannt vor.
Karsten

Kilian

Der Plagiatsvorwurf, ein treuer Begleiter von Klasseautoren wie Dan Brown und amarillo... :D

Ach so, inhaltlich, meinst du.

Fleischers Karsten

Karsten