Partizip Futur (Aktiv und Passiv) sowie Gerundivum

Begonnen von Kilian, 2012-06-09, 13:17:28

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Homer

#15
Zum zweiten Beispiel: Hier wäre es nicht möglich, eam zu ergänzen, da hier zwingend ein Reflexivpronomen gefordert wäre, also eigentlich se. Nun besagt eine weitere (nur sehr selten verletzte) Regel aber, dass bei Präpositionen und Postpositionen – wie hier causa – kein Gerundium mit Akkusativobjekt stehen darf, sondern statt dessen eine Gerundivkonstruktion eintreten muss. Es müsste also heißen sui censendi causa, womit wir eindeutig beim Passiv sind. (Man sieht, dass der Subjektsbezug, den ich für die Analyse voraussetze, hier der lateinischen Konstruktion selbst inhärent ist.) Und selbst dann könnte man kein handelndes Subjekt hinzusetzen (a rege oder regi), so etwas ist schlicht nicht belegt.* Die von Dir vorgeschlagene Gegenprobe ist also gar nicht möglich.

* Das gibt es nur bei Gerundivum + esse.

Das führt aber zu etwas anderem, und hier muss ich Dir insofern recht geben, als der Begriff "diathesenindifferent" etwas genauer gefasst werden muss, als ich es bisher getan habe: Die Tatsache, dass man nicht einmal mit einem Gerundivum all das machen kann, was man mit einer gewöhnlichen Passivform tun kann – zum Beispiel den Agens hinzusetzen –, zeigt doch, dass selbst da, wo sich eine passivische Interpretation aufdrängt, die –nd-Formen die Handlung losgelöst von den Kategorien Aktiv und Passiv, also eben diathesenindifferent, darstellen. Eine wissenschaftliche Grammatik (Kühner–Stegmann) fasst das in Bezug auf das Gerundium so:

"Damit ist die Handlung von jedem Subjekt losgelöst, absolut hingestellt; passiv ist sie nach ihrer Bedeutung nicht mehr*, aber auch an sich noch nicht aktiv, sondern ihrem Genus nach indifferent ... Der absoluten Unbestimmtheit des Genus des Gerundiums widerspricht es nicht, wenn diese Formen zuweilen scheinbar passiven Sinn haben: dieser Sinn liegt dann nicht in der Form selbst, sondern wir lesen ihn aus dem Zusammenhange heraus. Vergleichen lassen sich die deutschen Verbalsubstantive auf 'ung', die in ähnlicher Weise das Genus der Handlung unbestimmt lassen."

* Das Gerundium wird hier historisch aus dem Gerundivum hergeleitet, ob zu Recht oder nicht, sei dahingestellt. Die Forschungsdiskussion über die Priorität von Gerundium oder Gerundivum dauert übrigens an. Selbst am rein passivischen Charakter des Gerundivums gibt es Zweifel, weil es einige nicht zahlreiche, aber dafür alte Belege für Gerundiva von intransitiven Verben gibt.

Also: "Diathesenindifferent" meint nicht "aktivisch oder passivisch", sondern "keins von beiden". Aktivischen oder passivischen Sinn interpretieren wir sekundär in die Struktur hinein. Zwar meine ich weiterhin, dass meine passivische Auffassung des ersten Beispiels die bessere Interpretation ist, weil sie die konkreten grammatischen Gegebenheiten berücksichtigt und nicht auf eine Transformation angewiesen ist* – deswegen ist der Satz ja auch ein Standardbeispiel für "scheinbar passiven Sinn" –, aber daran hängt nicht viel. Wichtig ist, dass die alte Schulregel "Das Gerundium ist ein aktivisches Verbalsubstantiv, das Gerundivum ist ein passivisches Verbaladjektiv" zwar für die Praxis des Lateinlernens (studium Latine discendi – passivisch aufzufassendes Gerundium, wie ich sagen würde, weil = gerundivisch studium linguae Latinae discendae) hilfreich ist, aber zumindest in ihrem ersten Teil den sprachlichen Tatsachen nicht ganz gerecht wird.

* Man käme ja auch nicht auf die Idee, den Satz Die Straße wird überquert als aktivisch zu bezeichnen, nur weil ich mir jemanden vorstellen muss, der die Straße überquert.

Wortklauber

OK, jetzt habe ich wirklich etwas dazugelernt, vielen Dank für die Erläuterung! Das mit eam ist also Unsinn, leuchtet mir auch ein.
Nun, das Gerundium wird häufig als flektierte Form des Infinitivs verstanden und kann oft auch so übersetzt werden. Der Infinitiv hat per se kein Subjekt und kein Objekt (es kann ihm im AcI nur indirekt zukommen, aber das geschieht wahrscheinlich auch nur auf dem Umweg über das Hauptverb) und verweist somit auf die Handlung als solche und weder auf den Handelnden noch auf den Behandelten. Insofern ist der Infinitiv auch nicht mehr wirklich aktivisch.
Dennoch gibt es einen Infinitiv Aktiv und einen Infinitiv Passiv. Im Deutschen:
lieben – geliebt werden
Im Lateinischen:
amare – amari
Substantiviert:
Lieben ist gut – geliebt werden ist gut.
Amare bonum est – amari bonum est.
In Objektstellung:
Ich liebe das Lieben – ich liebe das Geliebt werden.
Amare amo – amari amo.
Als Genitiv:
Die Kunst des Liebens – die Kunst des Geliebt Werdens.
Ars amandi – XXXXXXX
Mit Präposition:
Der Mensch ist zum Lieben geschaffen – Der Mensch ist zum Geliebt Werden geschaffen.
Homo ad amandum factum est – XXXXXXX
Als Instrumental:
Durch Lieben werden wir glücklich – durch Geliebt Werden werden wir glücklich.
Amando felices fimus – XXXXXXX

Also so ganz unbestimmt scheint mir das Genus des Gerundiums dann doch nicht zu sein, da es doch anscheinend den Infinitiv Passiv nicht ebenso wie den Infinitiv Aktiv vertreten kann.

Wortklauber


Homer

Oha, da kommen neue Fragen auf mich zu. Aber erst noch einmal zu den beiden Beispielsätzen: Es gäbe ja auch jeweils noch andere Möglichkeiten, das, was hier mit nd-Formen ausgedrückt wird, zu sagen.

Im ersten Fall könnte der modale Ablativ des Gerundiums auf zweierlei Art ersetzt werden:
1. hoc malum si (oder cum) sustentatur et prolatatur, opprimi non potest. (Nebensatz)
2. hoc malum sustentatum et prolatatum opprimi non potest. (Participium coniunctum)
In beiden Fällen erhalten wir wieder eine passivische Struktur. Die Hinzufügung eines Agens bleibt auch hier der Gedankenarbeit des Lesers überlassen, sie ist nicht Gegenstand einer möglichst ökonomischen grammatischen Umformung, bei der nur die tatsächlichen Bestandteile des Ausgangssatzes Verwendung finden.

Im zweiten Fall ist die Konkurrenzkonstruktion zu nd-Form + causa ein Nebensatz mit finalem ut:
haec frequentia totius Italiae convenit, ut censeretur.
Wieder passiv.

Es gibt ja auch Fälle, in denen der Agens völlig uninteressant ist. Wieder ein Beispiel aus Cicero:
etiam ceteris, quae moventur, hic fons, hoc principium movendi est = "Auch für die übrigen Dinge, die bewegt werden, ist dies die Quelle, dies der Ursprung der Bewegung."
movendi könnte hier ersetzt werden durch quo moventur "aufgrund dessen sie bewegt werden". Hier macht schon moventur im ersten Teil klar, dass movendi eine passivische Interpretation fordert.

Und aus einem späteren Autor, Justin, ist das hier:
Athenas erudiendi gratia missus est = "Er wurde zur Ausbildung nach Athen geschickt."
erudiendi gratia = ut erudiretur "um ausgebildet zu werden". Wer da ausbildet, ist in dem Satz völlig unwichtig.

Für Deine letzten Fragen gib mir etwas Zeit. Die Arbeit ruft gerade!

Wortklauber

Zitat von: Homer in 2012-06-11, 11:11:26
Und aus einem späteren Autor, Justin, ist das hier:
Athenas erudiendi gratia missus est = "Er wurde zur Ausbildung nach Athen geschickt."
erudiendi gratia = ut erudiretur "um ausgebildet zu werden". Wer da ausbildet, ist in dem Satz völlig unwichtig.

Die entscheidende Frage wäre hier, ob man auch sagen würde "Erudiendi gratia Athenas iit." In dem "missus est" steckt ja schon wieder dieser verflixte Erziehungsberechtigte, der seinem Sohn das Rude austreiben will. Also "Er wurde nach Athen geschickt, um ihn zu erudieren."

Wortklauber

Zitat von: Homer in 2012-06-11, 11:11:26
Im ersten Fall könnte der modale Ablativ des Gerundiums auf zweierlei Art ersetzt werden:
1. hoc malum si (oder cum) sustentatur et prolatatur, opprimi non potest. (Nebensatz)
2. hoc malum sustentatum et prolatatum opprimi non potest. (Participium coniunctum)
In beiden Fällen erhalten wir wieder eine passivische Struktur. Die Hinzufügung eines Agens bleibt auch hier der Gedankenarbeit des Lesers überlassen, sie ist nicht Gegenstand einer möglichst ökonomischen grammatischen Umformung, bei der nur die tatsächlichen Bestandteile des Ausgangssatzes Verwendung finden.
Ich denke, der Redner will den Zuhörer gerade auf diesen [sic!] Agens (bzw. diese Agentes) aufmerksam machen, deshalb benutzt er das aktivische Gerundium. Was er sagen will ist: Wir dulden dieses Übel und schieben die zu seiner Beseitigung notwendigen Maßnahmen immer weiter auf. So lässt sich das Übel aber nicht bekämpfen.
Das ist viel lebendiger als wenn man das Objekt von den Agentes wegrückt und sagt:
Zur Zeit wird dieses Übel geduldet und die zu seiner Beseitigung notwendigen Maßnahmen werden immer weiter aufgeschoben. So lässt sich das Übel aber nicht bekämpfen.
Das letzte Ziel der Rede besteht (nach Cicero, wenn ich es richtig im Gedächtnis habe) immer darin, den Zuhörer zum Handeln zu motivieren, und das "Dozieren" (das hier in der Darstellung des objektiven Sachverhaltes besteht, der auch in der Passivkonstruktion ausgedrückt werden kann) ist immer nur ein Mittel dazu. Diese Brücke zu den Agentes wird doch durch die Gerundiumskonstruktion mustergültig geschlagen — jedenfalls, wenn man sie aktivisch auffasst.

Homer

Zitat von: Wortklauber in 2012-06-11, 14:16:05
Die entscheidende Frage wäre hier, ob man auch sagen würde "Erudiendi gratia Athenas iit."

Das wäre m.E. überhaupt kein Problem.

Homer

Zitat von: Wortklauber in 2012-06-11, 14:32:08
Zitat von: Homer in 2012-06-11, 11:11:26
Im ersten Fall könnte der modale Ablativ des Gerundiums auf zweierlei Art ersetzt werden:
1. hoc malum si (oder cum) sustentatur et prolatatur, opprimi non potest. (Nebensatz)
2. hoc malum sustentatum et prolatatum opprimi non potest. (Participium coniunctum)
In beiden Fällen erhalten wir wieder eine passivische Struktur. Die Hinzufügung eines Agens bleibt auch hier der Gedankenarbeit des Lesers überlassen, sie ist nicht Gegenstand einer möglichst ökonomischen grammatischen Umformung, bei der nur die tatsächlichen Bestandteile des Ausgangssatzes Verwendung finden.
Ich denke, der Redner will den Zuhörer gerade auf diesen [sic!] Agens (bzw. diese Agentes) aufmerksam machen, deshalb benutzt er das aktivische Gerundium. Was er sagen will ist: Wir dulden dieses Übel und schieben die zu seiner Beseitigung notwendigen Maßnahmen immer weiter auf. So lässt sich das Übel aber nicht bekämpfen.
Das ist viel lebendiger als wenn man das Objekt von den Agentes wegrückt und sagt:
Zur Zeit wird dieses Übel geduldet und die zu seiner Beseitigung notwendigen Maßnahmen werden immer weiter aufgeschoben. So lässt sich das Übel aber nicht bekämpfen.
Das letzte Ziel der Rede besteht (nach Cicero, wenn ich es richtig im Gedächtnis habe) immer darin, den Zuhörer zum Handeln zu motivieren, und das "Dozieren" (das hier in der Darstellung des objektiven Sachverhaltes besteht, der auch in der Passivkonstruktion ausgedrückt werden kann) ist immer nur ein Mittel dazu. Diese Brücke zu den Agentes wird doch durch die Gerundiumskonstruktion mustergültig geschlagen — jedenfalls, wenn man sie aktivisch auffasst.

Du verwechselst immer noch die semantische Interpretation mit der grammatischen Analyse. Erstere ergänzt völlig zu Recht im Geist einen Agens und unterschiebt ihm die Handlungen, letztere analysiert ebenfalls völlig zu Recht "Subjekt malum – Agens nicht angegeben – strukturell passivisches Verständnis der Gerundialformen".

Homer

Zu Deinen amare-Beispielen:

Ja, es wird immer gesagt, dass das Gerundium die obliquen Kasus des Infinitivs bildet, aber dass Infinitiv und Gerundium historisch gesehen kein einheitliches Paradigma bilden, sondern erst sekundär in diese Beziehung eingetreten sind, sieht man eben daran, dass der Infinitiv Aktiv und Passiv morphologisch unterscheidet, das Gerundium nicht. Das Gerundium ist ein Verbalsubstantiv, und Substantive kennen morphologisch keine Diathesen. Es ist ein gedankliches Konstrukt, die Gerundialformen als deklinierte Formen des Infinitivs zu betrachten. Manche Phänomene kann man so ganz gut erklären, andere, wie man sieht, nicht.

Jetzt zu Deinen Beispielen im einzelnen:

Der einfachste Fall ist der mit Präposition: Wenn es der Zusammenhang hergibt, kann homo ad amandum factus est "der Mensch ist zum Lieben gemacht" sicher auch bedeuten, dass er zum Geliebt-Werden gemacht ist. Parallelbeispiel bei Cicero: perspicuum est pecudes ... esse ... ad vescendum procreatas "es ist offensichtlich, dass die Tiere zum Essen geschaffen wurden", d.h. (das macht der Zusammenhang der Textstelle klar) nicht damit sie essen, sondern damit der Mensch sie isst.

Bei der ars amandi dürfte es nach normalem Sprach- und Weltverständnis einfach semantisch schwierig sein, einen Zusammenhang herzustellen, in dem das Geliebt-Werden zwanglos als "Kunst" aufgefasst werden kann. Isoliert bietet sich die aktivische Auffassung von amandi wegen der Abhängigkeit von ars (was eine Fähigkeit impliziert, etwas aktiv hervorzubringen) sehr viel stärker an als die passivische. Man wird also, angenommen, man wollte wirklich "die Kunst des Geliebt-Werdens" lateinisch ausdrücken, tunlichst wegen der Missverständlichkeit nicht auf ars amandi zurückgreifen. Nehmen wir wieder ein anderes Cicero-Beispiel, dann wird klar, dass das nichts mit Grammatik zu tun hat, sondern einzig mit Semantik: haec res duplicem habet docendi viam = "diese Sache hat zwei Methoden der Lehre" = "zwei Methoden, wie sie gelehrt werden kann".

Beim Ablativ werden die Möglichkeiten noch weniger, da sich eine passivische Handlung nur schwer als Instrument einsetzen läßt – man würde so etwas um der Klarheit willen einfach anders ausdrücken –, aber Beispiele gibt Cicero auch hier her: ne fando quidem auditum est crocodilum aut ibin aut felem violatum ab Aegyptio = "nicht einmal gerüchtweise [= dadurch, dass es erzählt wurde] hat man gehört, dass ein Ägypter ein Krokodil, einen Ibis oder eine Katze verletzt habe".

An Deinen Beispielen mit Gerundialformen von amare sieht man schon ganz gut, warum der aktivische Gebrauch des Gerundiums so ungleich häufiger ist als der passivische: Das Aktiv ist sozusagen der unmarkierte Normalfall der Diathese, während es stärkerer kontextueller Indizien bedarf, um einen grundsätzlich diathesenindifferenten, da substantivischen Ausdruck wie "das Lieben" oder "die Liebe" ausnahmsweise passivisch zu interpretieren.* Das darf man aber nicht in eine Syntaxregel "das Gerundium ist grundsätzlich aktivisch aufzufassen" zu pressen versuchen. Diathese ist für Nomina keine grammatische Kategorie. Das Beispiel des Adjektivs caecus ist ja bekannt: Es heißt ganz neutral "ohne Sicht" und ist in den allermeisten Fällen aktivisch als "blind" zu interpretieren, manchmal aber auch passivisch als "unsichtbar".

* Sprachhistorisch erkennt man die nachgeordnete Rolle des Passivs sehr gut daran, dass es in den einzelnen indogermanischen Sprachgruppen jeweils separat und spät entwickelt wurde, während die Formen des Aktivs (und des Mediums) sich zumeist auf gemeinsame urindogermanische Formen zurückführen lassen. Aktiv und Passiv sind eben nicht "gleichberechtigt", wie uns die Formentabellen in Lehrbüchern anzunehmen verführen könnten.

Wortklauber

Zitat von: Homer in 2012-06-11, 15:39:14
Bei der ars amandi dürfte es nach normalem Sprach- und Weltverständnis einfach semantisch schwierig sein, einen Zusammenhang herzustellen, in dem das Geliebt-Werden zwanglos als "Kunst" aufgefasst werden kann.
Das ja nun gar nicht. Die Kunst des Geliebt Werdens ist mindestens so schwierig wie die des Liebens. Wie viele Menschen scheitern daran! (Auch in diesem Forum!)

Aber ansonsten bin ich ja schon ganz überziügen ... Zumal unter Hinzunahme Deiner Stern-Anmerkung, die eben doch zeigt, dass die aktivische Benutzung des Gerundiums sozusagen "näher liegt", weil Passiv dem Aktiv nachgeordnet ist und somit ein diathesenindifferenter Gebrauch leichter aktiv als passiv interpret georen wird.

Wie es dann dazu kommt, dass das Gerundivum in der Regel eindeutig passivische Bedeutung hat, wäre daraufhin allerdings eine umso interessantere Frage.

Homer

Zitat von: Wortklauber in 2012-06-11, 17:14:59
Wie es dann dazu kommt, dass das Gerundivum in der Regel eindeutig passivische Bedeutung hat, wäre daraufhin allerdings eine umso interessantere Frage.

Das ist natürlich die Frage der Fragen! Ohne darüber groß in weiteres Spekulieren zu geraten: Ich habe den leisen Verdacht, dass es ursprünglich, also sprachhistorisch, mit der reinen Passivität des Gerundivums auch nicht so weit her ist. Denn die Gerundialkonstruktion spes urbem expugnandi "die Hoffnung, die Stadt zu erobern" lässt sich ohne jegliche Bedeutungsveränderung und völlig äquivalent umwandeln in die Gerundivkonstruktion spes urbis expugnandae. Es will mir noch nicht ausgemacht scheinen, dass das eine glasklare Aktiv-Passiv-Umwandlung ist. Vielleicht steckt dahinter doch eher eine Diathesenindifferenz nicht nur des Gerundiums, sondern ursprünglich auch des Gerundivums, die die Ausbildung dieser Transformationsmöglichkeit gefördert hat, bevor dann das Gerundivum im Sprachgefühl der Römer in klassischer Zeit weitgehend auf den passivischen Gebrauch festgelegt wurde. Dafür spricht, wie gesagt, die Existenz älterer Belege für Gerundiva von intransitiven Verben. Aber in dieser Frage käme ich ohne weitesträumige Sichtung von Belegen nicht weiter, und dafür habe ich weder die Zeit noch würde ich gar die Präsention der Ergebnisse dieser Bemühungen diesem Forum zumuten wollen.

Kilian

#26
Zitat von: Homer in 2012-06-10, 09:47:04
Wäre das Partizip Futur nicht eher mit "werdend" zu bilden? "Die aussteigen werdenden Fahrgäste" – ich fürchte, der eine oder andere Sprachgemeinschaftsgenosse sagt derlei tatsalch, ohne Neutsch sprechen zu wollen.

Bei den "auszusteigenden Fahrgästen" klingt wie beim "zu verurteilenden Mörder" m.E. nicht nur das Zukünftige, sondern auch ein "Müssen", "Sollen" oder "Bestommensein zu" an, wie man es auch bei Teilen der lateinischen -nd-Konstruktionen (Gerundivum) hat und was dort als notio necessitatis bezinchen wird (homo laudandus = "der zu lobende Mann" = "der Mann, der gelobt werden muss/soll/kann"). Das können wir natlurch im Neutschen bestens gebrauchen, aber ich schlage vor, es nicht Partizip Futur, sondern Gerundivum zu nennen.

Da hast du natürlich völlig Recht, Gerundivum sesülle es heißen. Ich werde den Titel dieses Fadens ändern - da sich die Diskussion bereits eines echten Partizip Futur mitangenommen hat, nicht ersetzend, sondern ergänzend.

Wahnsinnsfaden, wann soll ich den nur lesen, geschweige denn antworten? Wie dem auch sei, es wird geschehen. Bin begirsten! :)

Kilian

Zitat von: Wortklauber in 2012-06-10, 11:13:57Bei Verben, die das Perfekt mit "sein" bilden, scheint mir aber diese Formulierung sehr abwegig:

die gestern beim Marathon gelaufen seienden Sportler

Nein, da kommt mir die Formulierung mit dem Perfektpartizip vollkommen korrekt und ohne Hemmungen anwendbar seiend vor:

die gestern beim Marathon gelaufenen Sportler

Eben, das ist das oben erwåhnene Partizip Perfekt Aktiv der ist-Verben.

Kilian

Zitat von: Homer in 2012-06-10, 11:21:38
Zitat von: amarillo in 2012-06-10, 10:16:38
Bravo, denn: das Gerundivum ist eine baldigst ins Neutsche überzunehmende Struktur.
Aber wenn ich mich auf Vergangenes beziehe und dann auch noch Modales zu integrieren habe, wird es (für mich) recht schwierig:
Das Gerundivum ist eine längst ins Neutsche übernommen zu habende (zu haben sollende) Struktur.???

Ich schlage vor:

Das Gerundivum ist eine längst ins Neutsche zu übernommende Struktur.

Nota bene: Das geht nur im dem Deutschen weit überlegenen Neutschen, wo alle Verben starke Partizipien haben, die auf -en enden!

Das find ich gut, jetzt haben wir dem Gerundivum Futur ein Gerundivum Perfekt zur Seite gestellt.

Kilian

Zitat von: Homer in 2012-06-10, 11:30:47
Frage nebenbei: Weiß jemand, wie es sein kann, dass das passivische "zu übernehmend" mit dem aktivischen Präsenspartizip "übernehmend" gebolden wird? Sind hier sprachhistorisch zwei Formen (lateinisch gesprochen: das aktivische -nt-Partizip und das passivische -nd-Gerundivum) durcheinandergeraten?

Wird es doch gar nicht: Das wäre erst noch zu belegen. Kein d. Nur bei der im attributiven Gebrauch hinzutretenden Endung tritt es dazwischen, bei diesen erst noch zu belegenden Fakten. Vielleicht wurde das sprachhistorisch dadurch begonstegen, dass es leichter auszusprechen oder zu verstehen ist.