Kasussynkretismus

Begonnen von Homer, 2015-05-26, 13:32:02

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Homer

[EDIT Kilian: Diesem Thema seines großen Potenzials wegen einen eigenen Faden gegeben]

Folgenden Satz las ich heute in einer studentischen Hausarbeit:

Er zählt die Bälle, die ihm gelingen, aufzufangen. (Zweites Komma original.)

Offenkundig ist das ungrammatisch. Das Relativpronomen ist hier Nominativ. Aber auch mit dem in Analogie zu ihm gelingt es, die Bälle aufzufangen zu erwartenden Passiv

Er zählt die Bälle, die ihm gelingen aufgefangen zu werden

wird es nicht besser. Die beste Annäherung an einen möglichen Relativsatz scheint mir daher die akkusativische Variante

Er zählt die Bälle, die aufzufangen ihm gelingt,

was mir aber irgendwie immer noch nicht ganz einwandfrei scheint.

Fragen: Sehr ihr das anders? Wenn nein, warum ist da etwas leicht krumm? Und in welchem Faden wurde das schon diskutiert (denn wie ich euch kenne, gab es das schon)?

Berthold

#1
Lieber Homer!

Ich glaube (oder: täterte glauben), daß eins mit jedem der obigen Sätze der Handlung zu wenig genau folgen kann (könne). Er zählt, es gelingt ihm etwas, er fängt Bälle auf: Das ist zu viel für einen Satz. Noch dazu wird hier der Handlungsablauf verkehrt wiedergegeben. Um die Bälle zu zählen, muß er sie ja erst fangen. Bälle können auch nie gelingen aufzufangen - sondern ES geligt, Bälle aufzufangen.
ABER:
Franziska (Bzw. Ösi-Umgangsdeutsch: Die Franziska) wirft mir, rasch nacheinander, eine Reihe von Bällen zu (War das zu umständlich?). Jeden, den ich auffangen kann, zähle ich als einen Punkt.

Na, aber da schau her!-: Bälle bei den ollen Griechinnen oder Römern! - Waren das so irgendwelche "Lederflecken"? Oder waren die Aktiven junge alte BritannierInnen?

Kilian

#2
Zitat von: Homer in 2015-05-26, 13:32:02
Folgenden Satz las ich heute in einer studentischen Hausarbeit:

Er zählt die Bälle, die ihm gelingen, aufzufangen. (Zweites Komma original.)

Offenkundig ist das ungrammatisch. Das Relativpronomen ist hier Nominativ. Aber auch mit dem in Analogie zu ihm gelingt es, die Bälle aufzufangen zu erwartenden Passiv

Er zählt die Bälle, die ihm gelingen aufgefangen zu werden

wird es nicht besser.

Wie Berthold sagt: In beiden Fällen sind die Bälle das Subjekt von gelingen. Die Argumentstruktur von gelingen verlangt aber die erfolgreich vollbrachte Handlung als Subjekt bzw. ein dafür stehendes Stellvertreter-es wie in Bertholds Beispiel.

ZitatDie beste Annäherung an einen möglichen Relativsatz scheint mir daher die akkusativische Variante

Er zählt die Bälle, die aufzufangen ihm gelingt,

was mir aber irgendwie immer noch nicht ganz einwandfrei scheint.

Fragen: Sehr ihr das anders? Wenn nein, warum ist da etwas leicht krumm?

Geht mir auch so... hier ist meine Vermutung: wenn so eine Infinitivkonstruktion das Subjekt ist, dann hat sie eine ziemlich starke Neigung, extraponiert zu werden, also hinten zu stehen und sich vorne ggf. durch ein es vertreten zu lassen. So klingt schon der Hauptsatz Sie aufzufangen gelingt mir nicht so natürlich wie Es gelingt mir, sie aufzufangen. Im Relativsatz gilt das MUSEN auch: Er zählt die Bälle, die es ihm gelingt aufzufangen klingt etwas besser als Er zählt die Bälle, die aufzufangen ihm gelingt.

Berthold

#3
Zitat von: Kilian in 2015-05-26, 18:44:48
Er zählt die Bälle, die es ihm gelingt aufzufangen klingt etwas besser als Er zählt die Bälle, die aufzufangen ihm gelingt.

Na ja, da kommt mir aber das "es" ein igwan zu sehr als Person (bzw. als etwas unheimliches Wesen) daher. Das erinnert mich an folgenden "tiefensätzlichen" Sachverhalt: Kasperl zählt, erschrocken, die Fische, die das Krokodil ihm beginnt wegzufressen (bzw. wegzufressen beginnt). Oder so chahln halt. 

Homer

Vielen Dank euch beiden! Klar, die Bälle können nicht zum Subjekt des "Gelingens" werden, nur das "Ball-Auffangen" (Er zählt die Bälle, deren Auffangen ihm gelingt, nun ja). Die nominativischen Versuche erinnern ein wenig an kaskadenpassivisches Die Bälle werden versucht aufzufangen oder (doppelt) Die Bälle werden versucht, aufgefangen zu werden.

Du hast wohl Recht, Kilian, dass es mit dem es noch ein wenig besser klingt (gleichwertig wäre übrigens für mein Gefühl die Bälle, die es ihm aufzufangen gelingt). Aber ganz weg ist mein Unwohlsein damit immer noch nicht. Das mag daran liegen, dass nun die Objekt-Infinitiv-Phrase auseinandergerissen werden muss. M.a.W.: Man kann nicht beides zugleich haben, die Integrität dieser Phrase und das es (das im Relativsatz an die zweite Position gehört). Kann das sein?

Berthold

#5
Nun, aber jetzt bitte ich noch um die Antwort, ob die "ollen" Griechen oder Römer mit irgendwam (:DIE Form wird ja wohl auch gehen) Ballartigen [-m?] gespolen haben? Lederfleck, Fetzenlaberl (was bei uns noch die Armen verwendet haben) oder so was? Ich gebe ja zu, daß eins sich da die alten Maya(s) eher vorstellen kekünne - oder nicht? Oder die Gallier?

Hui, ich hab da ein bisserl nachgolens: Mesoamerikanisches Ballspiel - mit Vollgummiball - gab's echt.
Die Gewinnung des Kautschuk erinnert mich an die Pecher(ei) im Föhrenwald bei Wiener Neustadt (wo Ihr nicht & nicht hinwollt).   

Wortklaux

Er zählt die Bälle, die ihm gelingen.
ist wohl unproblematisch, oder? Da kommt der präzisierende Zusatz "im Hinblick auf das Auffangen" dazu. Also
Er zählt die Bälle, die ihm gelingen, soweit es das Auffangen derselben betrifft.
Ich finde die Konstruktion
Er zählt die Bälle, die ihm aufzufangen gelingen.
eigentlich noch akzeptabel, ähnlich einem verschränkten Relativsatz im Lateinischen. Möglich wird die Konstruktion (MUSEN), weil "die" von der Form her sowohl als Nominativ als auch als Akkusativ gelesen werden kann. (Wir haben das irgendwann einmal diskutiert... ich erinnere mich, dass wir Sätze hatten, in denen ein und dasselbe Wort gleichzeitig nominativische und akkusativische Funktion hat, etwa so: ,,Mach doch, was dir gefällt." — während ,,Lade ein, wer dir gefällt." deutlich verquerer klingt.) Aber das Problem erkenne ich schon. Eine vollständig grammatische Lösung wäre wohl
Er zählt die Bälle, deren Auffangen ihm gelingt.

Homer

Zitat von: Berthold in 2015-05-26, 19:22:15
Nun, aber jetzt bitte ich noch um die Antwort, ob die "ollen" Griechen oder Römer mit irgendwam (:DIE Form wird ja wohl auch gehen) Ballartigen [-m?] gespolen haben? Lederfleck, Fetzenlaberl (was bei uns noch die Armen verwendet haben) oder so was? Ich gebe ja zu, daß eins sich da die alten Maya(s) eher vorstellen kekünne - oder nicht? Oder die Gallier?

Die Römer sind es hier, oder Römer in einem griechisch beeinflussten Kulturkontext (Kampanien): Die besagte studentische Hausarbeit beschäftigte sich mit Petrons Cena Trimalchionis, in deren Eingangsszene der Hausherr mit anderen ein Fangspiel mit einem "lauchgrünen Ball" (prasina pila) spielt. Ungewöhnlich dabei ist – so sagt der Erzähler des Textes –, dass Trimalchio von einem Sklaven nicht die Versuche zählen lässt, bei denen der Ball aufgefangen wird, sondern die Fehlversuche (den studentischen Satz oben habe ich der Einfachheit halber um die Negation gekürzt). Das Wort pila ist wohl eine Kollektivbildung zu pilus "Haar", also eigentlich "Haarknäuel". Das mag eine Vorstellung von der ursprünglichen Beschaffenheit antiker Bälle geben.

amarillo

Dascha gediegen:

Spanisch 'el pelo' = das Haar; 'la pelota' = der Ball

hattich nie drüber nachgedacht - wieso auch?!
Das Leben strebt mit Urgewalt nach Entstehung und Musik.

Kilian

#9
Zitat von: Wortklaux in 2015-05-26, 19:36:45
Ich finde die Konstruktion
Er zählt die Bälle, die ihm aufzufangen gelingen.
eigentlich noch akzeptabel, ähnlich einem verschränkten Relativsatz im Lateinischen.

Ja, finde ich auch.

ZitatMöglich wird die Konstruktion (MUSEN), weil "die" von der Form her sowohl als Nominativ als auch als Akkusativ gelesen werden kann. (Wir haben das irgendwann einmal diskutiert... ich erinnere mich, dass wir Sätze hatten, in denen ein und dasselbe Wort gleichzeitig nominativische und akkusativische Funktion hat, etwa so: ,,Mach doch, was dir gefällt." — während ,,Lade ein, wer dir gefällt." deutlich verquerer klingt.)

Ja, das heißt Kasussynkretismus, aber wenn wir das hier vorher schon mal diskutiert haben, dann wusste ich das damals wohl noch nicht, denn die texttheatralischen Suchmaschinen spuken nix aus. :D

Wortklaux

Zitat von: Kilian in 2015-05-26, 20:59:10
Ja, das heißt Kasussynkretismus, aber wenn wir das hier vorher schon mal diskutiert haben, dann wusste ich das damals wohl noch nicht, denn die texttheatralischen Suchmaschinen spuken nix aus. :D
Hier war es:
http://verben.texttheater.net/forum/index.php/topic,3628.msg55725.html#msg55725

Berthold

#11
Zitat von: Homer in 2015-05-26, 20:08:47
Das Wort pila ist wohl eine Kollektivbildung zu pilus "Haar", also eigentlich "Haarknäuel". Das mag eine Vorstellung von der ursprünglichen Beschaffenheit antiker Bälle geben.

Das A. F.

Du, das erinnert mich aber jetzt echt an das Altwiener Fetzenlaberl - zu dessen Herstall etwa die katholische Jungschar (damit ich die auch einmal zitiere) anleitet: http://www.jungschar.at/praxis/gruppenstundenideen/fussball/fetzenlaberl-selbstgemacht/
Zumindest das Plastiksackl gehört nicht zum Ursprung.
Es wäre aber toll, eine kleine Arbeit über den wahren Ursprung des A. F., aus der Vindobona-Carnuntum-Limes-Zeit, written by Professor Homer, zu lesen. "De origine ludi pilae in Vindobona temporibus romanis" - oder wie auch immer. Kannst Dich ja auch als Professor Vergilius präsentieren. Und sei's zu Heidelberg, in der Fachzeitschrift "Gymnasium" - bei den Herren Ulrich Schmitzer, Markus Janka und Andreas Luther - falls Du dieses Dreigestirn überhaupt magst.
Ich find's auch toll, daß der "Stoff(f)etzen" lateinisch "panniculus" heißt. Da sind wir doch wohl echt beim "Laiberl - Laberl" - oder?

P.S.: Irgendwo las ich, daß der lateinische Name Heidelbergs unbekannt sei - wäre. Aber Du hast Dir da doch sicher Gedanken gemacht ... Mons myrtilli?? ...   

Wortklaux

Zitat von: Kilian in 2015-05-26, 20:59:10
Ja, das heißt Kasussynkretismus, aber wenn wir das hier vorher schon mal diskutiert haben, dann wusste ich das damals wohl noch nicht, denn die texttheatralischen Suchmaschinen spuken nix aus. :D
Im übrigen gefällt mir das mit den kopflosen Relativsätzen eigelnt besser. Das erklöre auch, warum Kopfmenschen wie Homer sich damit nicht anfreunden können.

Kilian

Also: Kasussynkretismus heißt es, wenn sich zwei Kasus (z.B. eines Pronomens) dieselbe Form teilen. Das ermöglicht dann verschiedene Phänomene, z.B.


  • kopflose Relativsätze, die Subjektsätze/Objektsätze sind, während das Relativpronomen Akkusativ/Nominativ aufweist (wie in jenem Faden)
  • Koordination von Verbalphrasen, die dasselbe Pronomen regieren, aber einmal als Objekt und einmal als Subjekt (wie in diesem Tweet)
  • Verwendung eines Pronomens simultan als Subjekt eines Relativsatzes und Objekt einer Infinitivkonstruktion in diesem Relativsatz, wie in deinem Bälle, die ihm aufzufangen gelingen? Aber kann die in diesem Beispiel wirklich Teil der Infinitivkonstrukion sein, sodass diese ihm einen Kasus zuwiese? Bin mir nicht sicher, was die beste Analyse ist...
  • ...

Wortklaux

Das sieht nach einer Spielwiese für gsvler aus...
Man kekünne das z.B. doppelt anwenden:

Ute lässt sich die Haare schneiden, die sie lange zierten und sich wachsen ließ.