Konsonantenverschiebung

Begonnen von Arnymenos (unlogged), 2005-02-09, 15:27:48

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Kilian

Kann es vielleicht sein, dass Sprachen desto mehr zum Regelmaß neigen, je weiter sie verbritten sind und je offener die Sprachgemeinschaft ist?

Ly

Im ganzen römischen Reich wurde zuerst Latein, dann Griechisch gesprochen. Beides nicht wirklich einfach...

Das Volk sprach zwar Vulgärlatein, aber ich kann mir denken, dass das auch nicht viel einfacher war...
It isn't always how you look. Look at me. I'm handsome like anything, and I haven't got anybody to marry me yet.

Arnymenos

Verbritten vielleicht nicht, aber im Verbritt ('der Ritt auf den Verben') befindlich. Um es in meiner Heimatsprache zu sagen: verbritte am werde.
Denn der Druck der Vereinfachung geht von den Sprachlernern aus. Was wir fließend beherrschen, müssen wir nicht vereinfachen. Läben wir ewiglich, verören wir das Deutsche immer Komplizer1. Sprachen müssen sich aber Generat für Generat als erlernbar beweisen.
Im äußersten Fall stehen sich die Sprache und mehrere Millionen Zweitsprachlerner (ohne Bildungsanspruch; ausländische Studenten sprechen oft ein sehr elaboriertes Deutsch, wie ich jüngst erlebte) gegenüber. Und dabei geht alles, was Regeln übertritt und einzeln gelernt werden muss, über Bord. Als erstes -- und das fällt kaum auf -- geht die Bildhaftigkeit drauf. Beispiel: Ich spreche zwar ein verständliches Englisch, aber die Bedeutung der meisten Idiome ist mir unbekannt. Ich kann sie einfach nicht verstehen, geschweige denn sicher verwenden.

Als Beispiel einer großen Sprachgemeinschaft können wir das Englische oder Spanische nehmen. Der radikale Vereinfuch der Morphologie des Englischen steht aber vor dem British Empire. Unsere Spanischkundigen wären jetzt auch nach ihrem Senf gefragt.
Das "internationale" Englisch muss regelmäßig sein; es ist eine Kunstsprache als Kompromiss einer großen Gemeinschaft, die es sich nicht erlauben kann, jedem diese Sprache mit voller Kompetenz beizubringen. Dagegen bilden sich lokale Dialekte als zwar eng verwandte, aber sich auseinanderentwickelnde Sprachen heraus. Diese Entwicklung wird durch gegenseitige Anlehnung verlangsamt (wie auch eine gemeinsame Schriftsprache den deutschen Sprachraum -- sehr zum leidwesen der Schweizer -- zusammenhält), findet aber statt. In Dublin waren wir Deutschen, die Iren und der amerikanische Prof oft uneins über seltene Konstruktionen.


Ly hat Recht: Glauben wir an die ewige Vereinfachung der Sprache, dann war homo erectus unglaublich intelligent, um derart komplex sprechen zu können. Eine umgekehrte Entwicklung wäre plausibler. Da müssen wir aber die verschiedenen Teilbereiche der Sprache betrachten:

Die Phonologie ist an unsere physischen Gegenbenheiten gebunden. Da dürfte sich seit dem ersten homo sapiens nicht mehr viel getan haben. Einige entlegene, aussterbende Sprachen erscheinen mir aber entsetzlich komplex in dieser Hinsicht (man google mal nach Nootka, das ist ein echter Dinosaurier unter den Sprachen. Die haben nichtmal transitive Verben... naja, fast). Das kann aber auch daran liegen, dass alles, was vom Gewohnten abweicht, fremd erscheint. Im Deutschen haben wir Kodakonsonantenkombinationen, bei denen es anderen Menschen die Sprache verschlägt ("(des) herbst(s)").

Syntax und Semantik sind immer so kompliziert wie die Gedanken der Menschen. Das stelle ich mal als These auf. (Genehm, manche reden geschwollener als sie denken können. Auch ich?) Da mag man jetzt spekulieren, seit wann der Mensch ein Vergangenheitstempus brauchte, weil er plötzlich in der Lage war über die Vergangenheit nachzudenken... oder über Ähnliches.

Signifikant zugenommen hat aber der Wortschatz, insbesondere der spät erworbene. Früher mag man mit 10 Jahren 90% der Wörter der eigenen Sprache getroffen haben, heute lernt man nie aus. Plötzlich erfährt man vom "Konklave" etc.
Es kann daran liegen, dass menschliche Sprecher heutzutage weniger Aufwand in andere Teile der Sprache stecken. Die Wörter werden mehr, rücken näher zusammen. Wir erfahren das täglich beim Verbstärken: Wir müssen aufpassen, dass sich neue Formen nicht mit alten überschneiden. Stammveränderungen mögen früher praktisch gewesen sein, heute ist der Stamm heilig im grenzenlosen Wortchaos. Dafür verwendet man dann -lichkeiten, um trotz einfachen Lautsystems und belegter Stammformen noch neue Wörter bilden zu können. Die Wortlänge ist nach oben offen. Wir vertreten ja die Ansicht, dass dies nicht das eleganteste Mittel sei. Aber es erweist sich momentan als das ökonomischste, in vielen Sprachen, die unter der Aufblähung des Wortschatzes leiden.



1) Das ist die Vergleichsform eines Substantives!!

Ly

Zitat von: Arnymenos in 2005-05-09, 16:21:17
Als Beispiel einer großen Sprachgemeinschaft können wir das Englische oder Spanische nehmen. Der radikale Vereinfuch der Morphologie des Englischen steht aber vor dem British Empire.

Die schlimmste Vereinfuch (aus meiner Sicht eindeutig der Verlust von "thou" - welche andere Sprache ist derart radikal und schmeißt einfach die komplette 2. Person Singular raus?) fand aber erst im Empire statt. In den amerikanischen Kolonien wurde eine Zeit lang noch "thou" gesagt.

Zitat von: Arnymenos in 2005-05-09, 16:21:17
Ly hat Recht: Glauben wir an die ewige Vereinfachung der Sprache, dann war homo erectus unglaublich intelligent, um derart komplex sprechen zu können.

Vielleicht war es ja so, dass die Grunzlaute unserer Vorfahren immer komplizierter wurden, bis sie in Sanskrit, Latein, etc. ein Maximum an Schrecklichkeit erreichten, woraufhin ein rückläufiger Trend zur Vereinfachung einsetzte, auf den vielleicht, wenn wir wieder bei ganz stupiden Grunzlauten angekommen sein werden (Wie der Verlust der englischen Konjugation uns ja toll zeigt), wieder ein neuer Trend zum Komplizierten anfängt, und so weiter, und so fort.

Zitat von: Arnymenos in 2005-05-09, 16:21:17Einige entlegene, aussterbende Sprachen erscheinen mir aber entsetzlich komplex in dieser Hinsicht (man google mal nach Nootka, das ist ein echter Dinosaurier unter den Sprachen. Die haben nichtmal transitive Verben... naja, fast).

:o

Wie soll DAS denn gehen?

Zitat von: Arnymenos in 2005-05-09, 16:21:17
Das kann aber auch daran liegen, dass alles, was vom Gewohnten abweicht, fremd erscheint. Im Deutschen haben wir Kodakonsonantenkombinationen, bei denen es anderen Menschen die Sprache verschlägt ("(des) herbst(s)").

Das ist immer noch besser als die Bantusprachen, die den Klicklaut als eigenes bedeutungstragendes Morphem kennen. ;D

Zitat von: Arnymenos in 2005-05-09, 16:21:17

Syntax und Semantik sind immer so kompliziert wie die Gedanken der Menschen. Das stelle ich mal als These auf. (Genehm, manche reden geschwollener als sie denken können. Auch ich?) Da mag man jetzt spekulieren, seit wann der Mensch ein Vergangenheitstempus brauchte, weil er plötzlich in der Lage war über die Vergangenheit nachzudenken... oder über Ähnliches.

Klingt toll. Erklärt die Genialität griechischer Philosophen und die Dummheit der chinesischen Regierung. ;D
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MrMagoo

Zitat von: Ly in 2005-05-08, 22:24:52
Also könnte man - wie auf altenglisch z.B. - auch sagen "ich wese" oder "er bit" oder "wir seiten" (anstatt von "ich bin", "er ist" und "wir waren")? ???

Genau!
Die Verben waren bis ins Mittelhochdeutsche austauschbar - eine kleine Schwierigkeit: "wesen" ist, soweit ich weiß, in allen Formen überliefert, doch leider nicht alle Formen der von "sein" oder "bin", daher ist es schwierig, genauer anzugeben, inwieweit diese tatsächlich angewandt wurden.

Übrigens ist "wesen" ja bis heute nicht vollkommen ausgestorben:
Mit einem kleinen Bedeutungsunterschied "(meist: wie ein Geist) anwesend sein, umhergehen" gibt es 'wesen' noch immer, allerdings als schwaches Verb.
Wâ mag ich mich nu vinden? wâ mac ich mich nu suochen, wâ? nu bin ich hie und bin ouch dâ und enbin doch weder dâ noch hie. wer wart ouch sus verirret ie? wer wart ie sus zerteilet mê?
(Gottfried von Straßburg)

MrMagoo

Mehr morgen, habe momentan nicht so viel Zeit... bis dann! ;)
Wâ mag ich mich nu vinden? wâ mac ich mich nu suochen, wâ? nu bin ich hie und bin ouch dâ und enbin doch weder dâ noch hie. wer wart ouch sus verirret ie? wer wart ie sus zerteilet mê?
(Gottfried von Straßburg)

caru

ZitatKlingt toll. Erklärt die Genialität griechischer Philosophen und die Dummheit der chinesischen Regierung. ;D

chinesisch ist erst so simpel, seit es in die hände linker regierungen gefallen ist. zu kaisers zeiten war es viel, viel arbeit, die chinesische schriftsprache beherrschen zu lernen, heute kenne ich einen typen, der ohne sprachkenntnisse nach china fuhr und auf einer fahrradtour durchs land binnen monaten alles alltagsnotwendige aufschnappte.

manche kulturen verdummen gezielt.


(\___/)
(>´x´<)
('.')__('.')

Nijntje - de echte nederlandse konijn

Ly

Zitat von: MrMagoo in 2005-05-09, 19:58:56
Zitat von: Ly in 2005-05-08, 22:24:52
Also könnte man - wie auf altenglisch z.B. - auch sagen "ich wese" oder "er bit" oder "wir seiten" (anstatt von "ich bin", "er ist" und "wir waren")? ???

Genau!
Die Verben waren bis ins Mittelhochdeutsche austauschbar - eine kleine Schwierigkeit: "wesen" ist, soweit ich weiß, in allen Formen überliefert, doch leider nicht alle Formen der von "sein" oder "bin", daher ist es schwierig, genauer anzugeben, inwieweit diese tatsächlich angewandt wurden.

Das ist ja genau wie auf altenglisch :D

Da waren beon, sindon und wessan auch absolut austauschbar - aber jedes der Verben war unvollständig - sindon und beon hatten weder Präteritum noch Konjunktiv II, sindon hatte keinen Imperativ, und sindon und wessan hatten kein Partizip Perfekt.


Zitat von: MrMagoo in 2005-05-09, 19:58:56Übrigens ist "wesen" ja bis heute nicht vollkommen ausgestorben:
Mit einem kleinen Bedeutungsunterschied "(meist: wie ein Geist) anwesend sein, umhergehen" gibt es 'wesen' noch immer, allerdings als schwaches Verb.

Das kannte ich gar nicht  :o

wesen - was - wäse - gewesen

Wie wär's? ;D Passt doch toll zu englisch und dem heutigen "sein"  :D
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Kilian

Zitat von: Ly in 2005-05-09, 19:24:57ein Maximum an Schrecklichkeit erreichten, woraufhin ein rückläufiger Trend zur Vereinfachung einsetzte

Aber wer könnte diesen Trend auslösen, wenn nicht die Fremdsprachlerner - indem sie mehr werden, z.B. indem die Römer immer mehr Völker unterwarfen. Oder indem sie Handelsbeziehungen suchten. Oder indem Wohlstand oder Glücksritter Schmelztiegel erschufen... ich glaube nicht, dass eine Sprache ohne solche Faktoren anfangen würde, sich zu vereinfachen. Eine isolierte Sprachgemeinschaft wird dagegen wohl der ideale Nährboden für eine Verunregelmäßigung sein, die solange anhält, bis die Nachkommen einer Generation nicht mehr mitkommen. Und dann bleibt die Sprache so unregelmäßig - das könnte das Nootka erklären...

Ly

Zitat von: Kilian in 2005-05-09, 22:02:47
Zitat von: Ly in 2005-05-09, 19:24:57ein Maximum an Schrecklichkeit erreichten, woraufhin ein rückläufiger Trend zur Vereinfachung einsetzte

Aber wer könnte diesen Trend auslösen, wenn nicht die Fremdsprachlerner - indem sie mehr werden, z.B. indem die Römer immer mehr Völker unterwarfen. Oder indem sie Handelsbeziehungen suchten. Oder indem Wohlstand oder Glücksritter Schmelztiegel erschufen... ich glaube nicht, dass eine Sprache ohne solche Faktoren anfangen würde, sich zu vereinfachen. Eine isolierte Sprachgemeinschaft wird dagegen wohl der ideale Nährboden für eine Verunregelmäßigung sein, die solange anhält, bis die Nachkommen einer Generation nicht mehr mitkommen. Und dann bleibt die Sprache so unregelmäßig - das könnte das Nootka erklären...

Schon wieder dieses Nootka. Erklären, bitte. Jetzt bin ich neugierig  ;D
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Kilian

Äääh, ich hab keine Ahnung, ich hab nur Arnymenos nachgeplappert! ;D

Ly

Zitat von: Kilian in 2005-05-09, 22:38:16
Äääh, ich hab keine Ahnung, ich hab nur Arnymenos nachgeplappert! ;D

+seufz+

http://en.wikipedia.org/wiki/Nootka#Language

Das da sieht schon mal abschreckend aus. ;D
It isn't always how you look. Look at me. I'm handsome like anything, and I haven't got anybody to marry me yet.

gehabt gehabt

Im Spanischen sehe ich keinen starken Trend zur Vereinfachung. Zum Ersten ist diese Sprache schon relativ logisch. Zum anderen stehen ich hunderten von Millionen von "native Speakers", die also die Sprache koennen *relativ* wenige gegenueber, die diese Sprache erlernen, und die das tun sind Studenten aber kein einfaches Volk mehr, seitdem die Kolonisation abgeschlossen ist. Desweiteren haben fruehere Kolonialregierungen in lateinamerika die Kultur recht "gleichgeschaltet". Viele sind der Meinung, dass man in den ehemaligen kolonien ein besseres Kastilisch spricht als auf der Halbinsel. Der Konjunktiv ist nicht vom Austterben bedroht und im Vergleich zum Deutschen sind bislang wenige engische Worter ins Spanische wirklich eingedrungen. Der Durchschnittspanier beherrscht jedenfalls seine Zeitenfolge und seinen Konjunktiv besser als der deutsche Durchschnittsnachrichtensprecher.

Arnymenos

Nootka hat ja erfrischend übersichtliche Vokale *gg* Da haben die also gespart. Das Deutsche hat immerhin 16 plus vokalisches R (LehrER) plus 3 echte Diphtonge plus ca. 15 Diphtonge mit vokalischem R (i:r, Ir, e:r, ...).

Manche Sprachen können 1000 Silben bilden, und ich glaube es war Thai, das 25000 verschiedene Silben erlaubt. Das erechnet sich aus den erlaubten Silbenanlautskombinationen mal erlaubte Silbengipfel (Vokale) mal erlaubte Silbenauslaute. Längst nicht alle davon sind auch sinnvolle Wörter; das gilt für jede Sprache.


Stellen wir fest, dass Sprachen dann einfacher werden, wenn sie in Kontakt mit anderen Sprachen stehen (Pidgins, Kreolsprachen, keltisches Vulgärlatein, iberisches Vulgärlatein, italisches Vulgärlatein, Deutsch in Berlin-Kreuzberg)?

Oder ist es die Gesetztheit einer Sprechergemeinschaft, welche die Ecken und Kanten der Sprache langsam abschleift (Spanisch)?


Oder ganz anders gefragt: Wenn Sprachen immer nur einfacher werden, können wir uns dann in 200 Jahren noch unterhalten, und das überhalb des Blöd-Zeitungs-Niveaus?

versucher

Eins davon wollte ich auch fragen: Ist Kreolisierung eine Vereinfachung? Schließlich sind die romanischen Sprachen auch Kreolisierungen des Lateinischen.
Und zur Einfachheit: Leute wie Wolf Schneider betreiben darüberhinaus eine (m. E. zweifelhafte) professionelle Vereinfachung der Satzstrukturen zugunsten einer "Verständlichkeit". (Er lobt einsilbige Wörter, aber das schadet der Vielfalt!)